Deregulierung durch Tarifrecht?

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Wissenschaftstarifvertrag

Andreas Keller prüft die Empfehlungen des Wissenschaftsrats

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat die Empfehlungen1 des Bund-Länder-Beratungsgremiums Wissenschaftsrat in einer ersten Stellungnahme als "argumentativen Rückenwind" für die seit Jahren von den Gewerkschaften selbst vorgetragene Forderung nach tarifvertraglichen Regelungen für alle Beschäftigten im Wissenschaftsbereich begrüßt.2 Im Deutschen Bundestag war es ausgerechnet die Fraktion der FDP, die parallel zu den Beratungen des Wissenschaftsrats einen Antrag "Eckpunkte für einen Wissenschaftstarifvertrag" vorlegte.3 Wie ist diese ungewöhnliche Allianz zu erklären?

Bedeutung des Vertrags

Die aufgeschlossene Haltung von Seiten der Gewerkschaften ist darin begründet, dass im Projekt "Tarifvertrag Wissenschaft" ein Instrument gesehen wird, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Personals an Hochschulen und Forschungseinrichtungen überhaupt einer tariflichen Regelung und damit dem Aushandlungsprozess von Arbeitgebern und Gewerkschaften zu unterziehen. Dies ist nämlich zurzeit aus folgenden Gründen keineswegs der Fall:
l Zwar spielt der Beamtenstatus im Bereich des nichtprofessoralen wissenschaftlichen Personals eine immer kleinere Rolle, aber nach wie vor sind fast alle Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer im Beamtenstatus beschäftigt. Dies gilt auch für die neu geschaffenen Juniorprofessuren sowie für die als Folge der Reform des Hochschuldienstrechts mittelfristig zur Abwicklung bestimmten wissenschaftlichen Assistenturen und Hochschuldozenturen. Für diese Personalkategorien werden "Beamtenverhältnisse auf Zeit" begründet. Worauf es dabei ankommt: Die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Beamtinnen und Beamten werden nicht kollektivvertraglich geregelt, sondern einseitig von Bund und Ländern gesetzlich ausgestaltet.
l Der im Grundsatz für alle Angestellten des öffentlichen Dienstes in Bund, Ländern und Gemeinden geltende Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) von 1961 ist einer der größten Flächentarifverträge der Welt. Gemäß § 3 Buchstabe g gilt der BAT jedoch ausdrücklich nicht für "Lektoren, Verwalter von Stellen wissenschaftlicher Assistenten, wissenschaftliche Hilfskräfte und Lehrbeauftragten an Hochschulen, Akademien und wissenschaftlichen Forschungsinstituten sowie künstlerische Lehrkräfte an Kunsthochschulen, Musikhochschulen und Fachhochschulen für Musik". Der in den neuen Ländern geltende BAT-O klammert zusätzlich angestellte Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer aus. Damit ist die Anwendung des BAT für relevante Teile des wissenschaftlichen Personals ausgeschlossen. Als besonderes Problem hat sich die Beschäftigung von wissenschaftlichen Hilfskräften (mit Hochschulabschluss) erwiesen: Häufig werden aus Kostengründen BAT-Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Mittel für sog. Hilfskräfte umgewandelt, die in der Regel die gleiche Arbeit leisten, aber eine erheblich geringere Vergütung und wesentlich schlechtere Vertragskonditionen erhalten.
l Das Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen (Zeitvertragsgesetz) von 1985 fügte mit den §§ 57a bis 57f eine Reihe von Vorschriften in das Hochschulrahmengesetz (HRG) ein,4 die weitreichende Möglichkeiten zur Befristung von Arbeitsverträgen mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorsehen - auch in Fällen, in denen dies nach dem geltenden BAT nach Maßgabe der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte nicht zulässig war. Die damalige CDU/CSU-FDP-Bundesregierung griff zum Mittel des einseitigen Oktrois der Fristvertragsregeln, nachdem langjährige Verhandlungen mit den Gewerkschaften über eine Änderung des BAT nicht im Sinne der Arbeitgeber abgeschlossen werden konnten. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde der Gewerkschaften GEW und ÖTV gegen die Verletzung der Tarifautonomie als vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz) geschütztes Rechtsgut nach elf Jahren (!) 1996 zurück. Die SPD-Grüne-Regierung ließ das Zeitvertragsgesetz auch im Zuge der Reform des Hochschuldienstrechts von 2001 im Wesentlichen unangetastet. Nach wie vor gilt für die Gestaltung der Arbeitsverträge von wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine Tarifsperre, d. h. Arbeitgeber und Gewerkschaften dürfen keine von den §§ 57a ff. abweichende tariflichen Regelungen vereinbaren. Lediglich "für bestimmte Fachrichtungen und Forschungsbereiche" - also keineswegs flächendeckend für den gesamten Wissenschaftsbereich" - darf gemäß § 57a Abs. 1 Satz 3 HRG tarifvertraglich von den im HRG vorgeschriebenen Fristen und der Anzahl zulässiger Verlängerungen von Fristverträgen abgewichen werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über einen Wissenschaftstarifvertrag für die Gewerkschaften erst einmal - unabhängig von den jeweils bevorzugten Inhalten einer möglichen tariflichen Regelung - die Chance, überhaupt zu einer kollektivvertraglichen Regulierung der Arbeitsverträge im Hochschulbereich zu kommen. Damit ist auch klar, dass ein Wissenschaftstarifvertrag die Änderung des Hochschulrahmenrechts - zumindest im Sinne einer Öffnungsklausel für die Möglichkeit einer abweichenden Regelung des Zeitvertragsrechts durch die TarifpartnerInnen - zur Voraussetzung hätte. Die Politik hätte also zunächst den Weg für das Projekt Tarifvertrag Wissenschaft frei zu machen. Aus gewerkschaftlicher Sicht geht es also zuerst um eine Verankerung und Ausdehnung des Flächentarifvertrags im Wissenschaftsbereich; die Frage, welcher spezifischen wissenschaftsadäquaten Ausgestaltung die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Personals in Hochschulen und Forschungseinrichtungen - nach Maßgabe spezieller Sonderregelungen des BAT oder nach Maßgabe eines besonderen Wissenschaftstarifvertrages neben dem BAT - bedarf, ist aus ihrer Perspektive ein zweiter Schritt.
Dieser zweite Schritt ist jedoch aus Sicht der Deregulierer der eigentlich interessante Aspekt an dieser Diskussion. Die Bundestagsfraktion der FDP fordert eine "spartenspezifische Regelung des Besoldungs- und Vergütungssystems für die Wissenschaft" jenseits des Beamtenrechts und Angestelltentarifrechts.5 Die Schaffung eines in der Fläche wirksamen, kollektiv ausgehandelten, Spartentarifvertrags für den gesamten Wissenschaftsbereichs, der auch "eine gewisse Einheitlichkeit der Anstellungs- und Vergütungsbedingungen" gewährleistet, würden die Liberalen (allerdings mit betrieblichen Öffnungsklauseln) in Kauf nehmen, um auf diese Weise das Korsett des BAT aufzubrechen und eine Flexibilisierung und Leistungsorientierung von Vergütungssystem, Arbeitszeitregelungen und Beschäftigungsbedingungen durchzusetzen. Dadurch sollen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen "international wettbewerbsfähig" gemacht werden.
Die Ambivalenz der Diskussion um den Wissenschaftstarifvertrag kommt in den jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrats voll zum Ausdruck. Die Frage, ob es wirklich ein eigenständiger Tarifvertrag neben dem BAT sein muss oder ob es auch mit Sonderregelungen innerhalb eines allgemeinen Tarifrechts für den öffentlichen Dienst getan sein kann, beurteilt der Wissenschaftsrat bei einem förmlichen Plädoyer für den eigenständigen Vertrag eher leidenschaftslos. Er konzentriert sich vielmehr auf Empfehlungen zu den Inhalten eines "wissenschaftsadäquaten Tarifrechts", die es, so oder so, durchzusetzen gälte. Keinen Zweifel lässt der Wissenschaftsrat jedoch daran, dass er eine tarifliche, d. h. zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelte Regelung befürwortet. Aus diesem Grund spricht er sich auch unmissverständlich für ein "einheitliches Personalstatut" im Wissenschaftsbereich aus: "Zwingende Gründe für die Verbeamtung von Hochschullehrern sind nicht erkennbar."6

Wissenschaft als Beruf

Was die Inhalte angeht, so enthalten die Wissenschaftsratsempfehlungen einige bemerkenswerten Feststellungen und Forderungen, die in der Tat objektiv Rückenwind für die gewerkschaftliche Politik sind. So beklagt der Wissenschaftsrat, dass die Dienstrechtsreform der rot-grünen Bundesregierung "keinen Beitrag dazu geleistet [hat], die Möglichkeit für eine dauerhafte Beschäftigung qualifizierter Wissenschaftler nach der Qualifizierungsphase unterhalb der Professur zu verbessern."7 Im Wissenschaftssystem müsse aber jenseits der Qualifizierungsphase "die unbefristete Anstellung die Regel" sein. Damit greift der Wissenschaftsrat einen der zentralen Kritikpunkte an der Dienstrechtsreform von 2001 auf 8 und folgt der Intention des Konzepts "Wissenschaft als Beruf", die der Beschlusslage der GEW seit 1986 zu Grunde liegt: die Perspektive auch für nicht auf eine Professur berufene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, am Arbeitsplatz Hochschule auf Dauer - im Rahmen von unbefristeten Arbeitsverträgen auf Funktionsstellen - Wissenschaft als Beruf auszuüben.9 Dies ist angesichts der massiven Protestwelle von Wissenschaftsverbänden und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gegen die halbherzig und handwerklich schlecht umgesetzte (aber im Kern dieselbe Stoßrichtung einer Einschränkung des Fristvertragsunwesens aufweisende) Verankerung einer "Zwölf-Jahres-Frist" im HRG-Zeitvertragsrecht10 erstaunlich.
Doch der Wermutstropfen bleibt nicht aus: Die regelmäßig unbefristete Beschäftigung von wissenschaftlichen Angestellten soll nach Auffassung des Wissenschaftsrats durch eine "wissenschaftsspezifische Erweiterung von Kündigungsmöglichkeiten" - etwas im Falle eines "dauerhafte[n] Ausbleiben[s] der Finanzierungsgrundlage aus Drittmitteln" - kompensiert werden.11 Dabei geht es nicht nur um die Definition zusätzlicher dringender betrieblicher Kündigungsgründe, sondern auch um substanzielle Beschränkung der notwendigen Sozialauswahl oder der innerbetrieblichen Suche nach einem anderen Arbeitsplatz.
Der Verfasser hat in dieser Zeitschrift selbst auf das Instrument der betriebsbedingten Kündigung als Alternative zu Fristverträgen für drittmittelfinanzierte Beschäftigungsverhältnisse hingewiesen, ist aber der Auffassung, dass das geltende Arbeitsrecht eine ausreichende Handhabe bietet,12 was das erfolgreiche Projektmanagement einzelner staatlicher und nichtstaatlicher Forschungseinrichtungen mit einem Pool unbefristet beschäftigter Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter belegt. Wirklich problematisch an der Forderung des Wissenschaftsrats ist aber vor allem Folgendes: Die Erweiterung des Kündigungsrechts sollte nach seinen Empfehlungen nicht Gegenstand des geforderten Wissenschaftstarifvertrags sein, sondern gesetzlich geregelt werden. Die Wissenschaftsratsempfehlungen erhalten dadurch das Stigma der Unehrlichkeit : wenn die schwierigen Gegenstände eines Beschäftigungsstatus, bei denen mit Widerstand des Personals und ihrer Gewerkschaften zu rechnen ist, dann doch wieder, nach dem Vorbild des Zeitvertragsrecht-Oktrois vor 20 Jahren, einseitig diktiert werden sollen.

Neue Vergütungsstruktur?

Eine weitere wichtige Empfehlung des Wissenschaftsrats zielt auf ein variables Vergütungssystem ab: "An die Stelle einer übermäßigen Gewichtung von Abschlüssen, einer mit dem Alter steigenden Vergütung, des Bewährungsaufstiegs und eines kaum durchschaubaren Zulagewesens soll eine funktions- erfahrungs-, leistungs- und erfolgsorientierte Vergütung treten."13 Nach dem Vorbild der Reform der Professorenbesoldung soll die Vergütung der wissenschaftlichen Angestellten aus einem Grundgehalt, einer variablen Zulage und einer individuellen Zulage bestehen. Auch dieser Vorschlag ist ambivalent: Er greift auf der einen Seite die gewerkschaftliche Forderung auf, dass sich die Vergütung nicht an einmal erworbenen Abschlüssen und Positionen, sondern an der tatsächlich geleisteten Arbeit orientieren müsste, um allen Beschäftigten gleichermaßen Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen. Auf der anderen Seite ist jedoch klar, dass sich die Reform der Vergütungsstrukturen unter den derzeitigen finanziellen Rahmenbedingungen der Länder- und Hochschulhaushalte im besten Fall kostenneutral vollziehen wird. Die in Folge des Ausstiegs des Landes Berlin aus den BAT-Vergütungen im öffentlichen Dienst an den Berliner Hochschulen ausgehandelten Haustarifverträge nach dem Motto "Gehaltskürzung ohne Arbeitszeitausgleich" machen deutlich, mit was für einem massiven Druck in den kommenden Jahren zu rechnen ist. Da die angestrebte Verbesserung der "internationalen Wettbewerbsfähigkeit" impliziert, in nachgefragten Fach- und Forschungsrichtungen "Spitzenkräfte" aus dem Ausland oder aus der Wirtschaft mit deutlich höheren Salären, als es der BAT zulässt, in die deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu locken oder dort zu halten, ist eine Absenkung des Vergütungsniveaus der Masse des wissenschaftlichen Personals die unausgesprochene Konsequenz der Flexibilisierung der Vergütungsstrukturen. Sollte etwa das derzeitige Grundgehalt nach BAT - ohne Ortszuschlag und ohne Alterszuschlag - das künftige Grundgehalt ohne leistungsorientierte Zulagen werden, hätten Beschäftigte mit Familie im mittleren und höheren Alter mit Einbußen von bis zu 50% zu rechnen.
Das Kernproblem liegt indes noch woanders: Wer entscheidet darüber, nach welchen Kriterien welche Beschäftigten für welche Leistungen und Belastungen welche Zulagen erhalten oder nicht? Diese Frage wurde bereits bei der Reform der Professorenbesoldung ausgeklammert, mit der Folge, dass die Länder diese Kompetenz wie alle anderen voraussichtlich den Hochschul- und Fachbereichsleitungen übertragen werden. Auch im Falle der Angestelltenvergütungen ist nicht damit zu rechnen, dass die Vergabe der Zulagen Gegenstand von Dienstvereinbarungen mit den Personalvertretungen oder von Beschlüssen paritätischer Hochschulorgane werden wird. Wenn aber die Beurteilung durch Leitungsorgane oder Vorgesetzte die entscheidende Bedeutung erlangen soll und hierbei weder Transparenz noch Partizipation von Betroffenen und Vertretungen gesichert sind, hätten wir es zwar formal mit einer tariflichen Regelung von Vergütungsstrukturen zu tun, deren Festlegungen aber so global ausfielen, dass die tatsächliche Vergütung Gegenstand einzelvertraglicher individueller Aushandlungen oder einseitiger Arbeitgeberentscheidungen wäre.
Hervorzuheben ist schließlich, dass der Wissenschaftsrat "spezielle tarifliche Regelungen für im Angestelltenverhältnis beschäftigte Doktoranden" befürwortet.14 In anderem Kontext hat der Wissenschaftsrat hingegen "den verstärkten Einsatz von Stipendien zur Doktorandenförderung" empfohlen, um Beschäftigungsverhältnisse der Postdoc-Förderung vorzubehalten.15 Von daher ist es bereits bemerkenswert, dass dieses Gremium nun - wie selbstverständlich und wie von den Gewerkschaften gefordert - vom Beschäftigungsverhältnis als Rahmen für die Promotionstätigkeit ausgeht. Nach Auffassung des Wissenschaftsrats sollte tariflich geregelt werden, welcher Anteil der Arbeitszeit den Doktorandinnen und Doktoranden "für die eigene Qualifikationsarbeit mindestens zur Verfügung stehen" muss; auch eine "regelmäßige Mindestvertragslaufzeit" sei vorzuschreiben.16 Der von Promovierenden geforderte Standard - zwei Drittel der Arbeitszeit für die eigene Qualifikation, fünf Jahre Regelvertragslaufzeit - sind damit weiterhin nur ein Stück konkrete Utopie, aber durch die Anerkennung, dass derartige Mindeststandards überhaupt einheitlich vereinbart werden können und sollen, zumindest verhandelbar.

Rolle der Gewerkschaften

Dass die Wissenschaftsratsempfehlungen teilweise deutlich progressiven Charakter tragen, hat viel mit der in letzter Zeit häufig thematisierten mangelhaften Wettbewerbsfähigkeit des Arbeitsplatzes Hochschule in Deutschland zu tun. Kalkulierbare Laufbahnen und die Chance, Wissenschaft als Beruf auszuüben, sind in vielen Ländern selbstverständlich, gelten jedoch in Deutschland als überholte gewerkschaftliche Forderungen, die Flexibilität und Innovation im Wege stünden - zumindest, solange von nichtprofessoralen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Rede ist. Auf der anderen Seite ist in den Empfehlungen deutlich die Handschrift jener zu erkennen, die auf eine Flexibilisierung und Deregulierung abzielen, was eine Differenzierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des wissenschaftlichen Personals ermöglichen soll: Spitzengehälter für "Leistungsträger" in nachgefragten Wissenschaftszweigen - eine Absenkung des Niveaus für alle übrigen.
Für die Gewerkschaften kommt es jetzt darauf an, die Segel so auszurichten, dass die Bewegung in der Diskussion um den Tarifvertrag Wissenschaft in erster Linie als Rückenwind und nicht als Gegenwind zum Zuge kommt. Für eine kleine Beamtengewerkschaft, die die GEW aufgrund ihrer starken Stellung in der Lehrerinnen- und Lehrerschaft ist, mag es verlockend zu sein, in der Konkurrenz mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bei den Verhandlungen über einen Wissenschaftstarifvertrag in gleicher Augenhöhe mit am Tisch zu sitzen. Dieser Verlockung darf jedoch nicht die Errungenschaft des Flächentarifvertrages zum Opfer fallen, aus dem weder der Bereich Hochschule und Forschung noch die Beschäftigtengruppe wissenschaftliches Personal leichtfertig ausscheren sollte. ver.di hat sich daher für die Gestaltung eines "Spartenfensters Wissenschaft" im Rahmen der Reform des Tarifrechts im öffentlichen Dienst ausgesprochen, welches ausdrücklich für alle an Hochschulen und Forschungseinrichtungen tätige Beschäftigte, also eingeschlossen das administrativ-technische Personal, gelten soll.
Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die nur zu einem kleinen Teil gewerkschaftlich organisierten und häufig nur ansatzweise mit einem Arbeitnehmerbewusstsein ausgestatteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne das Streikpotenzial der Müllmänner und Krankenschwestern (und selbstverständlich auch Müllfrauen und Krankenpfleger) schwerlich eine Verbesserung ihrer Tarife erzwingen könnten. Wissenschaftsadäqate Sonderregelungen sind jedoch nicht allein eine Gegenleistung für eine Ausdehnung des Tarifvertrages auf alle an Hochschulen und Forschungseinrichtungen abhängig Beschäftigten, sie können auch eine gerechtere und sachgerechtere Gestaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ermöglichen.
Im Rahmen der Neugestaltung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst hat im März 2004 eine Arbeitsgruppe Tarifrechtliche Regelungen im Bereich der Wissenschaft ihre Arbeit aufgenommen, der auf Seiten der Gewerkschaften ver.di und GEW, auf Seiten der Arbeitgeber die Bundesministerien des Inneren, für Bildung und Forschung, für Finanzen sowie die Tarifgemeinschaft deutscher Länder und die Hochschulrektorenkonferenz angehören. Das Thema Tarifvertrag Wissenschaft ist damit auf der Agenda, seine Dynamik freilich derzeit nicht abzuschätzen. Entscheidend für den weiteren Verlauf dürfte sein, inwieweit es den Gewerkschaften gelingt, die Brücke vom grünen Tisch zu konkreten Bedürfnissen und Aktivitäten der Betroffenen vor Ort zu schlagen.

Anmerkungen

1)
Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu einem Wissenschaftstarifvertrag und zur Beschäftigung wissenschaftlicher Mitarbeiter, Köln 2004. Im Internet über www.wissenschaftsrat.de verfügbar.
2)
Presseerklärung vom 16. 04. 2004, www.gew.de/standpunkt/aschlagzeilen/hochschule/texte/d_rueckenwind.htm.
3)
Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1716 vom 15. 10. 2003
4)
BGBl. I S. 1065
5)
Deutscher Bundestag, a.a.O.
6)
Wissenschaftsrat, a.a.O., S. 15
7)
Wissenschaftsrat, a.a.O., S. 26
8)
Vgl. Torsten Bultmann/Andreas Keller: Die verkorkste Jahrhundertreform. Zur Bewertung des 5. HRG-Änderungsgesetzes, in: Forum Wissenschaft 4/2001, S. 53-56
9)
Vgl. Andreas Keller: Ein uneingelöstes Vermächtnis, Konzeptionen zur Reform der Personalstruktur an Hochschulen seit 1986, in: hochschule ost 3-4/2000, S. 15-29
10)
Vgl. Andreas Keller: ArbeitnehmerInnenschutz oder Berufsverbot? Der Streit um die neuen "Zwölf-Jahres-Frist" im Hochschulrahmengesetz, in : Forum Wissenschaft 2/2002, S. 47-51
11)
Wissenschaftsrat, a.a.O., S. 27
12)
Andreas Keller, a.a.O. (2002), S. 49
13)
Wissenschaftsrat, a.a.O., S. 19
14)
Wissenschaftsrat a.a.O., S. 23
15)
Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Doktorandenförderung und zur Förderung des Hochschullehrernachwuchses, Köln 1997, S. 81
16)
Wissenschaftsrat a.a.O. (2004), S. 23

Dr. Andreas Keller arbeitet in der Berliner Hochschulverwaltung und ist Mitglied im BdWi-Bundesvorstand

Aus: Forum Wissenschaft 2/2004