Ganztagsschulen - Motor einer Bildungsreform

Neuerdings wird oft eine angeblich in Gang gekommene „rasante Reformdynamik seit PISA“ behauptet. Wie es damit in der Realität aussieht, zeigt eine genauere Betrachtung des Bereichs Ganztag

Ganztagsschulen - Motor einer Bildungsreform

von Peter Balnis

Als Besucher des diesjährigen Ganztagsschulkongresses des Bundesministeriums für Bildung und Forschung konnte man sich nur schwer der allgemeinen Aufbruchsstimmung im Berliner Kongressgebäude entziehen. Zahlreiche Projektpräsentationen und Workshops belegten eindrucksvoll, dass sich tausende von Schulen auf den Weg gemacht haben zu einer neuen, ganztägigen Schulkultur.

Die Zahl der Ganztagsschul-Befürworter ist enorm angewachsen. Die Mehrheit der Eltern (nach unterschiedlichen Umfragen ca. 80%) ist dafür. Auch Schüler können sich zunehmend für Ganztagsschulen erwärmen. Die Gewerkschaften machen sich dafür stark, und alle Parteien haben sie in ihre bildungspolitischen Programme aufgenommen. Bemerkenswerte Positionen kommen aus der Wirtschaft, und Befürworter finden sich selbst dort, wo Ganztagsschulen noch vor wenigen Jahren als Frontalangriff auf das heilige Familienleben gesehen wurden, nämlich bei den C-Parteien und in den Kirchen.

Nicht nur die Stimmung hat sich verändert, auch die Anzahl der Ganztagsschulen hat sich in deutlich vergrößert. Dazu hat auch das Investitionsprogramm für ganztägige Bildung und Betreuung (IZBB) der Bundesregierung beigetragen. Seit dem Jahre 2003 werden insgesamt 4,3 Mrd. Euro für ganztägige Bildung und Betreuung investiert. Stehen wir also vor einem Systemwechsel in der Schulpolitik?


1. Gründe für Ganztagsschulen

Das bundesdeutsche Halbtagsschulwesen ist international betrachtet ein historisch überholter Sonderweg. In Europa haben nur noch Griechenland und Österreich keine Ganztagsschulen. Die Formen und Konzepte ganztägiger Bildung und Erziehung sind allerdings sehr unterschiedlich.

In der bildungspolitischen Debatte gibt es viele Gründe für den Ausbau ganztägiger Bildung und Erziehung, die sich in fünf Gruppen zusammenfassen lassen.

Eine erste Gruppe geht von Umgestaltungen im Erwerbs- und im Familienleben aus. Dazu zählen die zunehmende Erwerbstätigkeit beider Eltern, der wachsende Anteil von Ein-Eltern-Familien, der große Anteil von Einzelkindern, eingeschränkte Verwandtschaftsbeziehungen und die Erosion familiärer Betreuungsnetze - u.a. weil auch immer mehr Omas berufstätig sind. In der Wirtschaft gibt es ein Interesse an qualifizierten Frauen. Andererseits wächst die Notwendigkeit, dass beide Eltern berufstätig sind, um das Familieneinkommen einigermaßen zu sichern. Berufstätige wollen ihre Kinder gut versorgt wissen. Die bisherige Arbeitsteilung zwischen Schule und Familie verändert sich. Von Ganztagsschulen wird erwartet, dass sie einen entscheidenden Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf leisten.

Ein zweiter Begründungszusammenhang hat die veränderte Freizeit von Kindern und Jugendlichen im Blick. Dazu gehören die wachsende Bedeutung von Medien und Freizeitkommerz, schwindende Möglichkeiten für aktives und eigenverantwortliches Handeln, Verlust von Spiel-, Treff- und Erfahrungsräumen im Wohnumfeld und Auflösung nachbarschaftlicher Kinderöffentlichkeiten. Kinder und Jugendliche können heute weniger Gemeinschaft erleben: eine wachsende Zahl bleibt immer länger sich selbst überlassen. Schulen werden wichtiger für die sozialen Beziehungen. Sie sind heute die zentralen Orte, an denen Kindern und Jugendliche zueinander in Kontakt kommen, Geselligkeit pflegen und Beziehungsnetze ausbauen. Ganztagsschulen bieten mehr Möglichkeiten, Leute kennen zu lernen, Freundschaften zu schließen, Zuwendung und Vertrauen zu erfahren, Aktivitäten auszuprobieren und sich darzustellen. Von Ganztagsschulen werden daher eine anregende Freizeitgestaltung, Stärkung sozialer Kompetenzen und eine umfassende pädagogische Begleitung erwartet.

Ein dritter Begründungszusammenhang bezieht sich auf die Lernleistungen. Gerade das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der PISA Studie gab dazu neue Impulse. Bei diesem internationalen Vergleich der Kompetenzen von 15jährigen zeigte sich, dass diejenigen Länder besonders gut abgeschnitten haben, in denen Kinder und Jugendliche den ganzen Tag zur Schule gehen. Ganztagsschulen können vielfältige Lernformen und unterschiedliche Bildungszugänge nutzen sowie über Unterricht hinausgehende Bildungsanregungen bieten. Dadurch, dass statt voll gepackten Vormittagen Anspannung und Entspannung über den ganzen Tag verteilt werden kann Lernen besser mit dem Biorhythmus koordiniert werden. Von Ganztagsschulen wird daher erwartet, dass sie das Lernen effektivieren und die Lernleistungen steigern.

Eine vierte Gruppe von Gründen bezieht sich darauf, dass ein zu großer Anteil an Jugendlichen, darunter überproportional viele mit Migrationshintergrund, die Schulen mit unzureichenden Kenntnissen und Kompetenzen verlässt. Ganztagsschulen haben vielfältigere Möglichkeiten, neugierig zu machen und Lernen zu motivieren. Sie können unterschiedliche Fähigkeiten der Schüler – auch diejenigen, die nicht ins Korsett von Schulfächern passen – besser fördern. Sie können bei Lernproblemen gezielter helfen und persönliche Unterstützung durch Pädagogen gewährleisten. Durch längeres Zusammensein können sie mehr zur sprachlichen und sozialen Integration von Kindern aus Migrantenfamilien beitragen. Von Ganztagsschulen wird daher erwartet, dass sie bei Lernproblemen helfen und vielfältig fördern.

Ein fünfter Begründungszusammenhang bezieht sich auf die in Deutschland extrem starke Abhängigkeit der Bildung von sozialer Herkunft und auf die Zementierung von Bildungsprivilegien durch das Schulwesen. Ganztagsschulen können sozial Benachteiligten Bildungsgelegenheiten bieten, die diese in ihrem familiären Umfeld aufgrund prekärer Lebensbedingungen nicht haben (z.B. störungsfreie Lernorte, viele Bücher, Internetzugang). Die Privatschulen, auf denen die herrschende Klasse ihre eigenen Kinder schicken, sind überwiegend Ganztagsschulen mit exzellentem pädagogischem Angebot. Öffentliche gebührenfreie Ganztagsschulen könnten den Zugang zu hochwertigen Bildungsgelegenheiten verbreitern. Von Ganztagsschulen wird daher erwartet, dass sie Bildungsprivilegien abbauen und die Bildungschancen sozial Benachteiligter erhöhen.

Es gibt also ein ganzes Bündel guter Gründe für den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen. Sie sprechen insgesamt dafür, das Thema Ganztagsschulen nicht auf einzelne Aspekte zu reduzieren, sondern als bildungsreformerisches Gesamtprogramm zu betrachten.

Sicher werden nicht alle Begründungen von allen, die sich für Ganztagsschulen aussprechen, geteilt. Aber es gibt einen Konsens darüber, dass Ganztagsschulen mehr sind als Betreuung am Nachmittag für Kinder berufstätiger Eltern, dass sie vielmehr Chancen bieten, das Schulsystem insgesamt zu verbessern. Der Übergang zu einem Ganztagsschulwesen wäre ein bedeutender bildungspolitischer Reformschritt. Ist dieser Übergang schon eingeleitet?


2. Entwicklungsstand der Ganztagsschulen in Deutschland

Nach dem Investitionsprogramm Zukunft für Bildung und Betreuung beziehen insgesamt 5.755 Schulen, d.h. rund ein Drittel aller Schulen vom Bund Geld, weil sie sich irgendwie ganztägig entwickeln wollen. Diese Mittel sind aber nur für Baumaßnahmen vorgesehen, nicht für Personalausgaben und pädagogische oder didaktische Maßnahmen. Das ist bekanntlich Ländersache. Und weil die Bundesregierung darauf verzichtet hat, Standards für Ganztagsschulen festzuschreiben, ist mit diesem Geld auch reichlich Missbrauch getrieben worden, indem es z.B. für längst überfällige Dacherneuerungen von Turnhallen, zur Ausstattung von Schulbibliotheken oder zur Einrichtung von Bistros an achtjährigen Gymnasien genutzt wurde. Nur bei einem Teil der Schulen, die nach dem IZBB Mittel erhalten, handelt es sich tatsächlich um Ganztagsschulen.

Die Kultusmininisterkonferenz hat folgende Tabelle zur Anzahl der Ganztagsschulen (GTS) auf ihrer website veröffentlicht:

 

 Land    GTS 2002   GTS 2004
  abs.  in %   abs.  in %
 Baden-Württ.    17    0,7    36    1,4
 Bayern     9    0,4    173    7,1
 Berlin   175  37,9    194   43,7
 Brandenburg     5    1,1    49   10,6
 Bremen     1    1,0    12   12,1
 Hamburg     7    3,0     8    3,4
 Hessen    47    4,0    64    5,4
 Meckl.-Vorp.     6    1,6    25    6,8
 Niedersachsen    19    1,0    35    1,9
 NRW    32     0,9   632   18,3
 Rheinld.-Pf.    53    5,3   114   11,5 
 Saarland    39   14,5    78   29,0
 Sachsen   847   95,7   810   94,3
 Sachsen-Anhalt     5    0,8    23    3,9
 Schleswig-H.     2    0,3    51    7,8
 Thüringen   493  98,4   462   97,1
 Summe 1.757   10,3 2.766     16,3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auch diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, weil aufgrund der Abfragesystematik Schulen mit mehreren Bildungsgängen (z.B. die weit verbreiteten Kombinationen von Haupt- und Realschulen) mehrfach erfasst wurden. Außerdem bezeichnet die KMK alle Schulen als Ganztagsschulen, die an mindestens 3 Tagen mindestens 7 Stunden wenigstens für einige Kinder geöffnet sind und ein Mittagessen anbieten – eine sehr weite Auslegung des Ganztagsschulbegriffes.

Die KMK unterscheidet 3 Formen von Ganztagsschulen:
Bei der voll gebundenen Form sind alle Schüler der Schule den ganzen Tag zusammen.
Bei der teilweise gebundenen Form ist der Ganztagsbetrieb nur für einzelne Klassen oder Zweige verbindlich.
Bei der offenen Form besuchen nur einzelne Schüler/innen nachmittägliche Angebote, während die große Masse mittags nach Hause geht.

Eine Aufschlüsselung obiger Tabelle nach den GTS-Formen, ebenfalls von der KMK-website, ergibt ein anderes Bild: 

 

  GTS-Form                2002                2004
 absolut

in % aller
Schulen

 absolut in % aller
Schulen
voll gebundene GTS       82    0,5    118     0,7
teilweise gebundene GTS       76    0,5    173     1,0
offene GTS   1.599    9,4  2.474    14,6



Von den knapp 2800 Ganztagsschulen im Jahre im Jahre 2004 waren ca. 90% offene Ganztagsschulen. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um Ganztagsschulen, sondern um die Ergänzung von ansonsten unveränderten Halbtagsschulen durch zumeist kostenpflichtige Betreuungsangebote für einige Kinder am Nachmittag. Betrachtet man den „gefühlten“ Aufbruch in Richtung eines Ganztagsschulwesens im Lichte der Fakten, stellt sich also schnell Ernüchterung ein.

Mit „Betreuungsschulen“ – so müsste man offene Ganztagsschulen eigentlich nennen – ist wenig geholfen. Sie können vorhandene Probleme weiter verschärfen, indem sie die pädagogische Qualität des Nachmittagsangebotes von der finanziellen Lage der Eltern abhängig machen. Bei uns in Saarbrücken gibt es Nachmittagsbetreuung an Schulen zu Preisen zwischen 45,- € und 160,- € (zuzüglich Verpflegungskosten). Der zeitliche Umfang des Angebotes ist jeweils gleich, aber für 160,- € besteht das Personal aus sozialpädagogischen Fachkräften, während es für 45,- € aus Ein-Euro-Jobbern und „Muttis aus der Nachbarschaft“, per Aushang im Lebensmittelmarkt gesucht, besteht.

Ganztagsschulen können die an sie gestellten Erwartungen nur erfüllen, wenn alle Schüler einer Schule den ganzen Tag gemeinsam miteinander verbringen, wenn also der Ganztagsbetrieb für die jeweilige Schule für alle verbindlich ist, und wenn sie von einem fundierten Konzept ganztägiger Bildung getragen werden. Bildungspolitisches Ziel muss also die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen in verbindlicher Form sein. Davon sind wir noch weit entfernt.


3.Kernelemente ganztägiger Bildung

Der pädagogische Kern von Ganztagsschulen besteht darin, dass sie Leben und Lernen miteinander verbinden, dass der Tagesablauf dem Lebensrhythmus von Kindern und Jugendlichen entspricht und dass alle Aktivitäten und Freiräume in einem konzeptionellen Zusammenhang zueinander stehen.

Dem liegt ein gegenüber Halbtagsschulen umfassenderes Bildungsverständnis zu Grunde. Bildung ist mehr als der Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden, ist mehr als ein Katalog akkumulierten Wissens, ein Kanon von Inhalten, über den man verfügen muss, um als gebildeter Mensch zu gelten. Bildung ist Aneignung von geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten. Sie ist ein aktiver Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Sozialisation und dient dem Ziel einer eigenständigen Lebensführung, der sozialen und politischen Teilhabe an der Gesellschaft sowie der Verwirklichung beruflicher Ansprüche und Erfordernisse.

Menschen eignen sich Bildung auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Zusammenhängen an. Es wird unterschieden zwischen drei verschiedenen Bildungssituationen:
"formelle Bildung", worunter das gesamte strukturierte und weitgehend verpflichtende Schul- und Ausbildungssystem mit seinen festgelegten Inhalten und Formen verstanden wird;
"nichtformelle Bildung", worunter jede Form organisierter Bildung zu verstehen ist, die generell freiwilliger Natur ist und Angebotscharakter hat (z.B. Angebote der Jugendarbeit);
"informelle Bildung", worunter ungeplante und nicht beabsichtigte Bildungsprozesse verstanden werden, die sich im Alltag ergeben (z.B. in der Familie oder in der Clique); sie sind Voraussetzung für nichtformelle und formelle Bildungsprozesse.
Sie müssen strukturell und funktional aufeinander bezogen werden, denn erst das Zusammenspiel dieser drei Formen ergibt Bildung im umfassenden Sinn.

Wichtige Erfahrungen und Kompetenzen eignen sich Kinder und Jugendliche außerhalb formeller Unterrichtsprozesse an. Sie brauchen deshalb an Ganztagsschulen außerunterrichtliche Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten. Sie müssen dort erleben, dass das, was ihnen im Alltag wichtig ist, auch einen Platz in der Schule hat und mit formellen Lernprozessen im Unterricht verbunden ist. In den praktischen Erfahrungen von Ganztagsschulen und in der pädagogischen Debatte kristallisieren sich dafür bestimmte Kernelemente ganztägiger Bildung heraus.


3.1. Differenzierte Lernarrangements

Ganztagsschulen müssen die unterschiedlichen Bildungszugänge stärker berücksichtigen. Es ist Wert zu legen auf einen häufigen Wechsel der Sozialformen im Unterricht. Projektarbeit, Werkstätten und Labore zur Vertiefung einzelner Fachbereiche, fächerübergreifende und/oder epochal angelegte Aktivitäten, Exkursionen sowie praktisches Erproben des Gelernten gehören zu den formellen Bildungsangeboten an Ganztagsschulen. Charakteristisch ist, dass der Unterricht selbst immer wieder geöffnet und mit nicht formellen und informellen Lernsituationen verknüpft wird. Das macht die Besonderheit des Unterrichts an Ganztagsschulen.

An vielen Ganztagsschulen wird daran gearbeitet, die klassischen Hausaufgaben durch individuelle Übungsphasen während der Schulzeit zu ersetzen. Ihre Abschaffung ist bisher allerdings noch nicht gelungen, wohl aber eine deutliche Reduzierung. Das mag mit mangelnder pädagogischer und organisatorischer Erfahrung oder mit zähen Gewohnheiten zusammenhängen.


3.2. Intensive Förderung

Ganztagsschulen brauchen Fördermaßnahmen für schwächere und für stärkere Schüler, Fördermaßnahmen zur Verbesserung der Leistung in einzelnen Fächern als auch Maßnahmen zur Förderung übergreifen Lernkompetenzen. Über den kognitiven Bereich hinaus müssen Schüler in den manuellen, sozialen und emotionalen Bereichen ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden.

Wenn Pädagogen länger mit Schülern zusammen sind und sie in unterschiedlichen Situationen erleben, werden Stärken und Schwächen deutlicher sichtbar, aber auch Ansatzpunkte zur Motivation und gezielter Förderung. So können auch eher Lebensbewältigungsprobleme, die hinter auftretenden Lernproblemen stehen, besser wahrgenommen und bewältigt werden.


3.3. Aktivitätsangebote und Erfahrungsräume

Hier geht es um nichtformeller Bildung, d.h. von Erwachsenen organisierte Aktivitäten oder gestaltete Erfahrungsräume, bei denen Kinder und Jugendliche sich auf freiwilliger Basis Kenntnisse und Kompetenzen aneignen können. Hierzu gehören all die Projekte, Arbeitsgruppen, Aktionen und Aktivitäten, bei denen Schüler ihren eigenen Interessen und Hobbys aktiv nachgehen können - sei es auf kulturellem Gebiet, im Medienbereich, auf handwerklichem Gebiet, auf politischem Gebiet, auf sportlichem Gebiet, beim Umgang mit Computern oder auf wissenschaftlichem Gebiete (Anlage von Biotopen, Bau einer Solaranlage). Ein breit gefächertes Angebot solcher Aktivitäten kann auch Schüler, die sich sonst eher passiv verhalten, und zu aktiver Freizeitgestaltung anregen. Solche Lernangebote finden auch außerhalb der Schule an anderen Orten im Stadtteil und in Kooperation mit anderen Einrichtungen statt.


3.4. Eigenverantwortung und Partizipation

Gerade weil das Leben an Ganztagsschulen weit mehr als Unterricht umfasst, brauchen Kinder und Jugendliche mehr Rechte, das Schulleben mit zu bestimmen. Deshalb muss Wert darauf gelegt werden, Schülern Verantwortung für bestimmte Bereiche des Schulalltags zu übertragen und ihnen die Möglichkeit geben, sie nach eigenen Vorstellungen zu gestalten (z.B. eine Schulbibliothek zu verwalten, eine Homepage zu pflegen, ein Schülercafe oder eine Disko zu managen oder in Konfliktsituationen vermitteln). Ihre Interessenvertretung muss stärkeres Gewicht bekommen und eigenverantwortliches gesellschaftliches und politisches Handeln - z.B. die Bewegung „Schule ohne Rassismus“ oder Solidaritätsaktionen – müssen ihren Platz haben. Es handelt sich hierbei um echte Aufgaben, um ein Lernen in der Realität und nicht nur durch Vermittlung. Durch eigenverantwortliches Handeln können Schüler eigene Ideen entwickeln, Vorhaben gemeinsam planen und durchführen, aus Fehlern lernen und dabei ihre Kompetenzen entfalten.


3.5. Begegnung, Geselligkeit und soziale Beziehungen

Schüler lernen nicht nur nach Plan, sondern auch voneinander im alltäglichen Zusammenleben. An Ganztagsschulen muss auf informelle Bildung, auf ungeplantes Lernen großen Wert gelegt werden. Schüler brauchen Freiräume und "pädagogikfreie Zonen", in denen sie untereinander in Kontakt kommen, Geselligkeit pflegen, Beziehungen aufbauen und Freundschaften schließen, miteinander leben, voneinander lernen, Regeln des Zusammenlebens ausprobieren und Grenzen erfahren.

An Ganztagsschulen gibt es oft auch spezielle Einrichtungen zur Bewältigung von Konflikten, z.B. wöchentlich eine Klassenratsstunde, um Probleme in der Klasse miteinander zu besprechen. Es gibt Mediatorengruppen. Das sind Kinder und Jugendliche, die darin ausgebildet wurden, in Konfliktfällen zu vermitteln und Konfliktlösungen zu finden, mit denen beide Seiten leben können. Die Fähigkeit, Konflikte zu bewältigen, ist eine wichtige soziale Kompetenz, die an Ganztagsschulen besonders gebraucht wird, aber auch besonders gut erlernt werden kann.

Diese fünf Kernelemente ganztägiger Bildung müssten an allen Ganztagsschulen zu einem Gesamtkonzept verbunden und verwirklicht werden. Daran hapert es aber noch vielerorts. In der Praxis herrscht ein Aneinanderreihen von Versatzstücken ohne Bezug zueinander vor – je nach dem, was man vor Ort gerade günstig bekommen kann.


4. Personal an Ganztagsschulen

An Ganztagsschulen erweitert sich die Berufsrolle von Lehrkräften. Sie begegnen Schülern in ganz unterschiedlichen Situationen. Die Schüler-Lehrer-Beziehungen sind an Ganztagsschulen intensiver als an Halbtagsschulen. Lehrer können ihre Schüler besser einschätzen und mehr pädagogische Möglichkeiten entdecken. Sie erleben, dass sich Kinder und Jugendliche für sie als Persönlichkeit interessieren. Sie bekommen durch Beziehungsarbeit mehr von Schülern zurück.

An Ganztagsschulen arbeiten in der Regel auch sozialpädagogische Fachkräfte. Sie sind unverzichtbar, um Schulen zu ganztägigen Lern- und Lebensräumen für alle Kinder und Jugendliche zu gestalten. Sie bereichern Schulen durch spezifische Bildungsleistungen der Jugendhilfe, durch sozialpädagogische Sichtweisen und Konzepte sowie durch professionelles sozialpädagogisches Handeln

An Ganztagsschulen haben Schüler viele, oft intensive Kontakte mit nichtpädagogischem Personal. Mit dem Hausmeister, die Leute vom Kiosk oder dem Sekretariat usw. finden manche Schüler eine Gesprächsbasis, auf der sie wichtige Anregungen, Ermutigung und Bestätigung erfahren.

Es ist gängige Praxis, Fachleute von Außen in die Schule hineinzuholen oder sie gemeinsam mit Schüler/Innen aufzusuchen (Künstler, Handwerker, Facharbeiter oder auch Eltern, die über besondere Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen). Die Begegnung mit Erwachsenen ohne pädagogische Vermittlung ist ein spezifisches Merkmal von Ganztagsschulen.

Ganztagsschulen leben also davon, dass sie durch multiprofessionelle Teams gestaltet werden. Für die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen bedarf es geregelter Kooperationsstrukturen. Die sind aber in der Praxis völlig unterentwickelt.



5. Was noch zu (er)klären ist

Deutschland ist ein Land mit fest verankerter Halbtagsschultradition. Die Chancen, die sich aus 40 Jahren Ganztagsschule bzw. Hort in der Schule in der DDR ergaben, wurden bei der Vereinigung nicht genutzt. Im Gegenteil: vorhandene Einrichtungen ganztägiger Bildung wurden weitgehend aufgelöst.

Auf dem Weg zu einem Ganztagsschulwesen sind noch viele Hindernisse und Vorurteile zu überwinden sowie grundsätzliche bildungspolitische Fragen zu klären.


5.1. Ganztagsschulen oder Betreuungsschulen?

Eine bildungspolitische Grundsatzentscheidung zum Thema Ganztagsschule ist notwendig. Entweder wird der bisher vorherrschende Weg einer additiven Ergänzung von Halbtagsschulen durch nachmittägliche Betreuungsangebote fortgesetzt, oder es findet ein genereller Übergang zu einem Ganztagsschulwesen statt - mit allen Konsequenzen. Ich plädiere für das zweite. Und ich wünsche mir, dass bei dem Ausbau von Ganztagsschulen die Erfahrungen bei der Einführung von Gesamtschulen berücksichtigt werden, nämlich dass es bei so grundsätzlichen Systemfragen nicht möglich ist, zwei unterschiedliche Systeme (ein gegliedertes und ein integriertes, ein Halbtagsschulwesen und ein Ganztagsschulwesen) nebeneinander stehen zu lassen und abzuwarten, was sich letztlich durchsetzt. Das hat der Gesamtschulentwicklung schwer geschadet. Weil Ganztagsschulen gründliche Umstellungen aller Beteiligten erforderlich machen und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben, bringt eine vereinzelte und schrittweise Einführung erhebliche Probleme mit sich.


5.2. Welche Rolle spielt die Jugendhilfe?

In Deutschland werden unter Jugendhilfe alle Leistungen und Aufgaben freier und öffentlicher Träger zugunsten junger Menschen und deren Familien zusammengefasst. Die Jugendhilfe verfügt insbesondere mit ihren Bereichen Jugendarbeit und Kindertagesstätten über reichhaltige Erfahrungen ganztägiger Bildung.

Jugendhilfe ist gekennzeichnet durch Alltagsnähe, flexible Formen und durch das Zusammenspiel von formellen, nicht formellen und informellen Bildungsmöglichkeiten. In dem sozialpädagogische Fachkräfte diese Arbeitsansätze in Schulen einbringen, erhalten Kinder und Jugendliche zusätzliche Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu entfalten und Anerkennung zu erwerben.

Die Jugendhilfe ist durch eine spezifische Sozialform, nämlich die soziale Gruppe gekennzeichnet, die z.B. konstituierendes Merkmal von Jugendverbänden ist. Indem sozialpädagogische Fachkräfte diesen spezifischen Bildungsort "Gruppe" in den Schulalltag einbringen, erhalten Kinder und Jugendliche besondere Möglichkeiten, soziale Kompetenzen zu entfalten.

Die Jugendhilfe hat sich darauf spezialisiert, junge Menschen zu erreichen, deren Zugang zu Bildungsgelegenheiten erschwert ist. Ihre Bildungsleistung besteht darin, dass sie mit ihnen nach neuen Ansatzpunkten für einen gelingenden Alltag sucht, damit sie auch (wieder) an Bildungsprozessen teilzunehmen können. In dem sozialpädagogische Fachkräfte diese Arbeitsansätze in Schulen einbringen, erhalten Kinder und Jugendliche besondere Unterstützung, um den (Schul)alltag zu bewältigen.

Damit die Erfahrungen, Kompetenzen, Ressourcen und Standards der Jugendhilfe für die ganztägige Bildung genutzt werden können, sollten Ganztagsschulen grundsätzlich kooperative Einrichtungen von Schule und Jugendhilfe sein. Ein Irrweg ist es aber, wenn in einigen Bundesländern Einrichtungen der Jugendhilfe (z.B. Horte) zugunsten von nachmittäglichen Betreuungsangeboten an Schulen geschlossen und dadurch fachliche Standards (Professionalität des Personals, Gruppengröße, räumliche und sächliche Ausstattung) deutlich verschlechtert werden.


5.3. Beeinträchtigen Ganztagsschulen das Familienleben?

Auch wenn die Nachfrage nach Ganztagsschulen rapide wächst, hält sich immer noch das Vorurteil, Ganztagsschulen würden die Erziehungsarbeit der Familien beeinträchtigen, oder es wird Familien vorgeworfen, sie würden ihre Kinder auf Ganztagsschulen abschieben, um sich vor der Erziehungsverantwortung zu drücken.

Die Qualität des Familienlebens lässt sich nicht in erster Linie daran bemessen, wie viel Zeit Eltern mit ihren Kindern verbringen. Wichtiger ist, was Eltern und Kinder in der gemeinsamen Zeit miteinander machen und ob sie genügend Kraft und Muße füreinander haben. Heute fällt es Eltern oft schwer, die Zeit mit ihren Kindern sinnvoll zu verbringen, da der Alltag von vielen Belastungen geprägt ist. Es ist nicht leicht, Berufstätigkeit, Haushalt und das Aufwachsen mit Kindern unter einen Hut zu bekommen.

Ganztagsschulen unterstützen Familien, weil sie die Belastungen verringern, die sich aus der Bewältigung schulischer Anforderungen ergeben. Das Halbtagsschulsystem hat den Eltern über die Hausaufgaben die Rolle von Hilfslehrern zugewiesen. Ganztagsschulen können diese Situation entzerren. Damit haben Eltern die Chance, als interessierte Begleiter ihren Kindern beim Lernen zur Seite zu stehen, ohne dieses Lernen permanent selbst initiieren zu müssen.


5.4. Bedeuten Ganztagsschulen eine Verschulung der Kindheit?

Es gibt ernstzunehmende Bedenken gegen eine wachsende Verschulung der Kindheit und Jugend, bei der wichtige außerschulische Erfahrungsräume verloren gingen. Doch Ganztagsschulen müssen nicht mehr Verschulung und stärkere Belastung bedeuten. Es kommt auf ihre Gestaltung an. Wenn sich Schulen für das Leben öffnen, wenn sie Kinder und Jugendliche nicht auf ihre Schülerrolle reduzieren, sondern ihnen auf dem Schulgelände als ganzheitlichen Persönlichkeiten Raum und Gelegenheit geben, ihren vielfältigen Bedürfnissen und Interessen nachzugehen, dann bedeuten Ganztagsschulen auch keine wachsende Verschulung.


5.5. Tragen Lehrer Ganztagsschulen mit?

Ganztagsschulen erfordern auch von Lehrern eine nachmittägliche Anwesenheit und damit eine grundlegende Umgestaltung ihres Berufsalltags und Familienlebens. Da sind noch viele Hürden zu überwinden. Die Halbtagsschultradition hat das Berufsbild und die Lebensentwürfe vieler Lehrkräfte entscheidend geprägt. Besonders Lehrer mit Kindern schätzen die Zeitflexibilität am Nachmittag, weil auf diese Weise die Verbindung von Beruf und Familie relativ gut gelingt. Weil darin auch ein zentrales Motiv für die Wahl des Lehrerberufes liegt, brauchen Lehrkräfte Ganztagsschulen für die eigenen Kinder.

Das längere und intensivere Zusammensein mit Schülern wird von Lehrern, die darauf nicht vorbereitet sind, eher als zusätzliche Belastung denn als Erweiterung der pädagogischen Möglichkeiten gesehen. Sie brauchen entsprechende Qualifizierung und angemessene Arbeitsbedingungen (z.B. auch Arbeitsplätze an der Schule zur Vor- und Nachbereitung von Unterricht). Eigentlich ist „Ganztagsschullehrer“ ein neuer Beruf.


5.6. Wie sind die Arbeitsbedingungen geregelt?

An Ganztagsschulen sind ca. ein Drittel des Personals keine Lehrer. Deren Arbeitsbedingungen müssen dringend gesichert und geregelt werden. Die meisten Nachmittagsangebote, die ich auf dem Ganztagsschulkongress bestaunen konnte, finden unter miserablen Bedingungen statt: schlecht ausgestattet, ohne längerfristige Perspektive, schlecht bezahlt oder ehrenamtlich organisiert.

Die pädagogische Arbeit an Ganztagsschulen muss ganzheitlich angegangen werden und darf nicht in einen höherwertigen Bereich (Unterricht), der nach A 12-13 bezahlt wird, und in einen minderwertigen Bereich (Betreuung und Spiele), nach Bat VI bezahlt, gespalten werden. Das hätte auch für die Lehrerarbeit gravierende Nachteile - nämlich immer dann, wenn sie etwas anderes als Unterricht machen und ihre Arbeit dann anders verrechnet wird.

Ein gerechtes System von Arbeitszeiten und Entlohnung für alle an Ganztagsschulen Beschäftigten zu schaffen ist nicht einfach, aber notwendig, damit alle gleichberechtigt zusammenarbeiten können. Hier sind vor allem die Gewerkschaften gefordert. Außerdem müssen die Lehrer-Personalräte endlich ihre weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den Arbeitsbedingungen des „nicht-lehrenden“ Personals überwinden.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass wir erst ganz am Anfang eines Aufbruchs stehen. Der Übergang zu einem Ganztagsschulwesen wäre ein bedeutender bildungspolitischer Reformschritt. Es gibt gewachsene Chancen, ihn durchzusetzen. Nötig ist politischer Druck, damit diese Chancen nicht durch Billiglösungen und Stückwerk vertan werden.

 

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