Hochschulentwicklung unter rot-grüner Ägide
Hochschulpolitik wird nach gegenwärtigem Stand nicht wirklich wahlentscheidend werden. Aber sie weist bereichsübergreifende Merkmale auf. Andreas Keller resümiert Strukturstabilitäten und -wandlun
Am Vorabend des Amtsantritts der rot-grünen Bundesregierung 1998 hatte sich in Bezug auf die Strukturen der deutschen Hochschulen ein enormer Reformstau gebildet:
1. In der akademischen Selbstverwaltung verhinderten von den Fachbereichsräten über die Akademischen Senate bis zu den Konzilien, Konsistorien und Konventen die flächendeckend in den Landeshochschulgesetzen verankerten absoluten ProfessorInnenmehrheiten, dass tatsächlich ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen der am Wissenschaftsprozess beteiligten Gruppen vorgenommen werden konnte; gleichzeitig war die Bedeutung der Hochschulselbstverwaltung durch ein Übermaß an staatlicher Feinsteuerung geschwunden. Belanglosigkeit und Ineffizienz der viel gescholtenen Gremienbürokratie waren die Folge.
2. Die überkommenen Studien- und Abschlussstrukturen mit Diplom, Magistra/Magister und Staatsexamen sahen sich Vorwürfen ausgesetzt, für überlange Studienzeiten und die unzureichende internationale Mobilität von Studierenden und AbsolventInnen verantwortlich zu sein.
3. Schließlich hielt die aus der alten Ordinarienuniversität stammende Personalstruktur das (noch) nicht auf einen Lehrstuhl berufene wissenschaftliche Personal - wissenschaftliche MitarbeiterInnen, AssistentInnen, OberassistentInnen, HochschuldozentInnen, Akademische RätInnen, OberrätInnen usw. - in künstlicher Abhängigkeit.
Konnten diese Strukturen in sieben Jahren Rot-Grün aufgebrochen werden?
1. Die Realität der akademischen Selbstverwaltung hat sich seit Ende der neunziger Jahre zweifellos substanziell verändert. Die staatliche Überregulierung der Hochschulen ist einer Stärkung ihrer Autonomie auch in finanziellen und wirtschaftlichen Fragen gewichen: Der Globalhaushalt bestimmt heute das Bild der Hochschulfinanzierung. In Atem beraubendem Tempo stehlen sich Finanz- und WissenschaftsministerInnen der Länder geradezu aus der Verantwortung - froh, mit der Gestaltungshoheit über den Hochschuletat auch die Last los zu sein, die global vorgegebenen Budgetkürzungen in konkrete Einschnitte in Studien- und Forschungsstrukturen übersetzen zu müssen. Der Rückzug der demokratisch legitimierten MinisterInnen wurde aber nicht etwa durch eine innere Demokratisierung der Hochschulen legitimiert: Allmächtige Hochschul- und Fachbereichsleitungen geben heute den Ton an - allein ihnen traut man die Autorität für den strengen Sparkurs zu; die wenigen verbliebenen direkt gewählten Hochschulorgane wurden im Wesentlichen auf eine rein beratende Funktion reduziert.
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn ist dafür nicht direkt verantwortlich zu machen: Unmittelbar vor dem Regierungswechsel 1998 hatte die damalige Regierung Kohl mit Bulmahns Amtsvorgänger Jürgen Rüttgers eine umfassende Deregulierung der Kapitel "Organisation und Verwaltung" und "Rechtsstellung" des Hochschulrahmengesetzes (HRG) vorgenommen und den Weg frei gemacht für den Umbau der Hochschulen in autonome und autokratische Dienstleistungsunternehmen. Das HRG wurde 1998 gegen die Stimmen der damaligen SPD-Opposition und ihrer wissenschaftspolitischen Sprecherin verabschiedet; aufgrund der fehlenden Zustimmung des damals SPD-dominierten Bundesrats wurde eine Verfassungsklage angedroht. Der Gang nach Karlsruhe sei ja nun nicht mehr notwendig, da man die Mehrheit in Berlin habe, hieß es dann nach der Wahl im Herbst 1998. Beim deregulierten HRG ist es indes bis heute geblieben. Treppenwitz der Geschichte: Inzwischen hat sich in den Landeshauptstädten herumgesprochen, dass die Deregulierung des HRG rechtlich nicht nur den Abbau, sondern auch den Ausbau an Mitbestimmung zulässt - die studentische Streikbewegung hat im Winter 2003/04 darauf aufmerksam gemacht. Im rot-rot regierten Berlin findet seitdem ein regelrechter Kulturkampf über die mögliche Einführung der Viertelparität durch Änderung des Landeshochschulgesetzes statt. Bürgerliche Presse und Unipräsidenten appellieren an den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, endlich ein Machtwort zu sprechen. Die Berliner Landesverfassung kennt jedoch keine Richtlinienkompetenz des Regierungschefs, Wowereits Machtwort könnte sich allenfalls auf den Koalitionsvertrag berufen: Dort ist die Viertelparität aber unmissverständlich vereinbart. Und das deregulierte HRG lässt ihre Einführung zu.
2. Das gleiche Bild bei den Studien- und Abschlussstrukturen. In Folge des Bologna-Prozesses ist das ganze System in Bewegung geraten, aber das Fundament dafür hat wieder nicht Bundesministerin Bulmahn, sondern ihr Amtsvorgänger Rüttgers gelegt. Vier Monate vor der Bundestagswahl, im Mai 1998, hatte er mit seinen AmtskollegInnen aus Frankreich, Italien und Großbritannien in Paris die so genannte Sorbonne-Erklärung unterzeichnet, die den Bologna-Prozess in Gang setzte - mit dem bekannten Ziel einer europaweiten Umstellung der Studienstrukturen auf das zweigliedrige Modell nach angelsächsischem Vorbild. Die Verlockung für Rüttgers: Unter dem Label einer breit akzeptierten Europäisierung und Internationalisierung der Hochschulen schien ein dreißig Jahre zuvor vom Wissenschaftsrat formuliertes Projekt der Konservativen endlich durchgesetzt werden zu können: die Zweiteilung des Universitätsstudiums in ein ausbildungsorientiertes Kurzzeitstudium für die Masse und ein wissenschaftsorientiertes Exzellenzstudium für eine Elite. Auf der anderen Seite barg der Bologna-Prozess ein gewisses emanzipatorisches Potenzial: die Chance einer studierendenzentrierten Flexibilisierung des Studiums und einer weitgehenden Integration des tertiären Bildungssystems von den Universitäten über die Fachhochschulen bis zur beruflichen Bildung und Weiterbildung. Der Regierungswechsel 1998 eröffnete die Chance, den Bologna-Prozess auf europäischer Ebene so zu beeinflussen und dessen weiten Gestaltungsspielraum auf nationaler Ebene so auszufüllen, dass sein emanzipatorisches Potenzial ausgeschöpft werden könnte.
Chancen vertan
Nach sieben Jahren muss nüchtern bilanziert werden: Rot-Grün hat diese Chance vertan. Bachelor- und Masterstudiengänge wurden zwar ins HRG aufgenommen und knapp ein Fünftel der Studiengänge sind bundesweit umgestellt, es wurde aber versäumt, die Rahmenbedingungen für ein hohes Maß an Durchlässigkeit beim Übergang vom Bachelor zum Master zu sichern. Erfolgreiche Bachelor-AbsolventInnen haben keine Garantie, ihr Studium fortsetzen zu können, wenn sie das möchten - bei nach wie vor fragwürdiger Akzeptanz des neuen Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt. Und Master-Studierende haben nicht grundsätzlich, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Förderung nach dem BAföG; das Anfang 2005 vom Bundesverfassungsgericht gekippte rot-grüne "Studiengebührenverbot" sah von vornherein zahlreiche Ausnahmen vor, so auch für Masterstudiengänge.
3. Ist das Versagen von Rot-Grün bei der Reform der Selbstverwaltungs- und Studienstrukturen in übergroßer Zurückhaltung begründet, zeigt sich hinsichtlich der Hochschulpersonalstruktur ein anderes Bild: Ein ehrgeiziges Reformprojekt ist mit großem Getöse vorläufig gescheitert. Aber nicht erst 2004, als das Bundesverfassungsgericht die fünfte HRG-Novelle für verfassungswidrig und nichtig erklärte, sondern bereits 2001 bei der Diskussion und Verabschiedung des Reformvorhabens im Bundestag. Mit der Juniorprofessur schuf die Koalition zwar eine neue hoffnungsvolle Personalkategorie für den wissenschaftlichen Nachwuchs, in der dieser früher selbstständig forschen und lehren konnte, die Personalstrukturreform war aber gleichzeitig von einer massiven Beschleunigung und Verdichtung der HochschullehrerInnenlaufbahn gekennzeichnet. Die Juniorprofessur droht zum Förderprogramm für den jung-dynamischen, gradlinigen und angepassten Nachwuchswissenschaftler (bewusst ohne großes I formuliert) zu werden, den jeder wissenschaftliche oder biografische Umweg ins Schleudern bringt. Dafür sorgen Begrenzungen der Promotions- und Beschäftigungsdauern vor der Juniorprofessur, hohe Lehr- und Forschungsbelastungen und eine rigide Zwischenevaluation der JuniorprofessorInnen, von der ihre Weiterbeschäftigung abhängig ist. Im Ergebnis standen weder der wissenschaftliche Nachwuchs noch die strukturkonservative UniversitätsprofessorInnenschaft hinter Bulmahns Reform; der fehlende politische Rückhalt machte es den VerfassungsrichterInnen am Ende leicht, diese zu stoppen.
Sollte im Herbst 2005 tatsächlich Edelgard Bulmahn den Stuhl für Annette Schavan oder Katherina Reiche frei machen müssen, bräuchte diesem Regierungswechsel - hinsichtlich der Strukturen der Hochschulen - nicht einmal ein Politikwechsel zu folgen. Weil sich bereits 1998 ein Regierungswechsel ohne Politikwechsel vollzogen hat.
Dr. Andreas Keller ist Mitglied im BdWi-Bundesvorstand.
Aus: Forum Wissenschaft 3/2005