Mit dem Verbot von Blochs Lehrtätigkeit begab die DDR sich ihrer ersten und letzten reformatorischen Chance. Blochs Opposition zielte nicht auf Reformen, sondern auf revolutionäre Reformation ...
Unterschiedliche Sklavensprachen
Christoph Heins Roman "Horns Ende" erschien 1983 im Aufbau- Verlag. Mein Exemplar der 2. Auflage stammt von 1995. Ich erwartete reale Auskünfte über den tragischen Fall des mir gut bekannten Logik-Dozenten Horn und beendete enttäuscht die Lektüre. Am 7. August 1996 besprach Hans-Eckardt Wenzel in Neues Deutschland eine neue Ausgabe des Buches als Band 7 der "DDR-Bibliothek" beim Verlag Faber&Faber. Zitat: "Das Unglaubliche ist Tatsache: Die DDR hatte eine Literatur." Und: "Ich erinnere mich, daß der Nachricht, Christoph Hein schreibe den Roman über die fünfziger Jahre, bei manchem meiner Freunde die Enttäuschung folgte: die erwartete Abrechnung fand nicht statt."
Endlich ist zu fragen, wer Schuld an Horns Ende trägt.
Hein erzählt nicht die Geschichte des wirklichen Johannes Heinz Horn, sondern paraphrasiert, verdeutlicht also umschreibend oder umschreibt verdeutlichend einen anderen Fall, der auf das Original zurückverweist, was die Freiheit der Literatur verstattet, in der DDR anno 1983 aber auch das Unerlaubte beschreibbar werden ließ. Ein Exempel strategischer Sklavensprache, die der Obrigkeit eins auswischt, weil sie sich ins Unangreifbare, jedenfalls nicht die Repression Hervorrufende rettet, von dort jedoch zurückwirkt. Soweit Literatur wirken kann. Der Roman bezeugt zugleich die subkutane Existenz von luftigen, atmosphärischen Nachlässen aus den fünfziger Jahren in Leipzig, wo Horn am Philosophischen Institut Logik lehrte und in Konflikte geriet, die er durch Selbstmord beendete.
Da der später in dieser Stadt studierende Christoph Hein zu einem Freundeskreis zählte, in dem das Blochsche Erbe virulent blieb, erhebt sich die Frage, welche Wirkung Ernst Bloch in Leipzig hätte erzielen können, wäre er nicht erst behindert und schließlich vertrieben worden.
Auf der Suche nach Materialien aus dieser Zeit fand ich im Mai 2002 unter meinen damaligen Notizen eine längst vergessene Eintragung vom 18. April 1956 über ein Gespräch mit Horn: Er gibt zu, daß er privat die Lage anders einschätzt. Bezichtigt mich eines Zuviel an Pessimismus, sagt aber selbst, eine Wendung zum Guten sei angesichts der Masse Funktionäre, die 10 Jahre im falschen stalinschen Geist erzogen wurden, nicht möglich. "Was wollen wir paar Einzelnen gegenüber diesem Meer da draußen!" Erzählte mir verbittert-resigniert seine Vergangenheit. War bei KPO, mußte deshalb im Kriegsgefangenenlager allerhand anhören: Spalter. Fühlt sich aus all diesen Gründen nicht wohl, unsicher. Glaubt, das 15. Plenum komme wieder. Weil jetzt alles liberalistisch geworden sei. Ich denke, das hat ihm Handel eingegeben. Klagt weiter, ständig kämen junge Genossen und fragten, was das mit Stalin sei, und sie fragen nach Garantien gegen Wiederholungen.
Jetzt las ich Heins Buch "Horns Ende" nochmals und begriff die zweifache Tragödie von Horn und Hein. Aber auch: Als westdeutscher Autor oder Ex-DDRler hätte Hein das Buch nicht schreiben können. Nur das Leben in der realen DDR ermöglichte die spezifische Qualität einer Verfremdung, deren Authentizität westlichen Lesern schwer verständlich bleiben muß. Nachrichten aus einer fremden Seelenlandschaft. Zur Qualifikation aber ist der Schluß zu ziehen, Sklavensprache kann aus Zwang, aus Angst und als chiffrierte Botschaft artikuliert werden.
Mit dem Verbot von Blochs Lehrtätigkeit begab die DDR sich ihrer ersten und letzten reformatorischen Chance. Was den Philosophen von späteren Oppositionellen wie Havemann oder Bahro unterschied, deren Wirkung die DDR ebenfalls behinderte oder unterband, ist der Umstand einer essentiellen Differenz. Blochs Opposition zielte nicht auf Reformen, sondern auf revolutionäre Reformation analog dem Konflikt zwischen Luther und Römischer Kirche. Trotz aller Elogen an Moskau, weil Blochs sozialistische Reformation nicht ohne Rückendeckung aus Moskau denkbar war, wie wir einräumen müssen, verweigerten sich die Sowjets. Das Scheitern, mehr noch die Aussichtslosigkeit disqualifiziert das Unternehmen dennoch nicht. Am offensichtlichen Unwillen und der Unfähigkeit der Partei scheiterte der Versuch, bis die Partei selbst an sich scheiterte. Ihre Unreformierbarkeit gründete im Verfall der Revolution zur bürokratischen Konterrevolution. Der ursprüngliche Typus des Lenin-Trotzkischen Kommunisten (Bolschewisten) wandelte sich in die Charaktermasken, denen es nach Ende der Sowjetunion leicht fiel, als nationalistische Diktatoren weiterzuherrschen. Der Staatszerfall offenbarte nur den vorausgegangenen Zerfall der Charaktere.
Wäre Blochs Sprache immer so offen gewesen, wie sie ab 1956 wurde, hätte er nie in der DDR lehren dürfen. Er redete aber nicht aus Tarnungsgründen kryptisch, seine Verschlüsselungstechnik war instrumental. Auf dem Weg zur Klarsprache allerdings gab es taktische Perioden, die Botschaft mischte sich politisch ein. Auf den Budapester Aufstand hin folgte erneuter Rückzug in die kryptische Artikulation.
Heins Roman "Horns Ende" zählt zur gleichen Ausdrucksart, freilich in scheinbar naiver Erzählform. Nur wer den Subtext zu entziffern versteht, begreift die Sympathieerklärung an das Opfer, das in Horn figuriert.
Die Hornsche Tragik ist die Folge einer Selbstverleugnung, mit der er, wenn auch widerstrebend, der Partei gehorchte. Sein freiwilliger Tod ist Widerruf. In Christoph Heins Roman bleibt das erzählte Ende Horns ein Trauerfall, erst der Subtext enthüllt die tragische Situation. Horn will nicht weiterleben, nachdem er ins falsche Leben geraten ist.
Weil die Partei sich weigerte, diese Lesart zu akzeptieren, chiffrierte Hein den Konflikt und brachte die Botschaft von Horns Leben und Ende in Kunstsprache (Sklavensprache) an seine Leserschaft. Die konnte die Story in naiver Normalität hinnehmen, eine Minderheit jedoch entschlüsselte den Doppelsinn des Textes.
Mein Vorschlag, Bloch zu lesen
Als typisch für den Philosophen gelten die Themen Konkrete Utopie, Heimat, Wärmestrom, Erbe, Ungleichzeitigkeit, Noch-nicht-Bewußtes. Denkbar wären ebenso Inkubation - Inspiration - Explikation, Kapital als Quell des Nihilismus, deformierter Marxismus, 11. Feuerbach-These, Verleugnung von Nietzsche und Schopenhauer samt indirekter Würdigung, Lob des Materialismus, Verwerfung des Idealismus und ebenso umgekehrt, Möglichkeitsformen als Zukunftsbestimmung, Gradstufen der Wirklichkeit, Philosophie der Kunst, Ästhetik als Vorschein, revolutionäre Impulse in Malerei, Musik, Architektur ...
Eine Lektüre des gesamten Bloch ist ebensowenig noch zumutbar wie die von Kant oder Hegel. Soweit der Denker aphorisiert, ist er anregend wie Nietzsche. Blochs Langstrecken schrecken eher ab. Man lese sich von Aperçu zu Aperçu durch und lasse die eine oder andere Zwischenprovinz aus, wo Akademisierung wuchtet, historische oder naturwissenschaftliche Irrtümer wuchern - seitenlange Elogen auf die Atomkraft zum Beispiel - oder der Meister jene Absicherungen einbaut, die wir Sklavensprache nennen. Man quäle sich durch die erzwungene Erklärung zum niedergeschlagenen ungarischen Oktoberaufstand von 1956 - welch ein verbaler Zinnober. Bleiben die unübertrefflichen Essays und Philosopheme, wo Sprache zugleich emotional und rational zur Sache und Person kommt, Bibel und Kommunistisches Manifest sich vereinen, als säße Georg Büchner mit kratzendem Federkiel über den Hessischen Landboten gebeugt - Revolutionen beginnen auf dem Papier, wenn Kopf und Herz die Revolte heiligen. Bloch distanzierte sich vom späten Moskau, die Oktoberrevolution, die er anfangs ablehnte, widerrief er nicht. Die Existenz der DDR suchte er für seine subversive (zweite) Revolution zu nutzen, als sie ihn berief. Und als sie ihn verstieß, hatte er unaustilgbare Spuren hinterlassen. Wer Bloch-Texte so zu sich zu nehmen versteht, gerät in den Spannungszustand eines Karl-May-Lesers. Es setzt freilich den freien Geist einer hinreichend alphabetisierten Intelligenz voraus.
Steht noch aus, nach dem Anteil von Orthodoxie zu fragen. Was bleibt bei Bloch von Marx? Was ist nach dem Ende von SU und DDR als Basis unverzichtbar, wenn einer nicht in die feindlichen Lager wechseln will?
Bei einer Lesung auf der rauhen ostthüringischen Burg Ranis tauchte ein Trupp sympathischer älterer Herren aus einem Nachbarort auf. Ausdrücklich verlangten sie nicht nach dem Buch, aus dem ich verabredungsgemäß las, sondern nach "Krieg im Glashaus oder Der Bundestag als Windmühle", meinem ironischen Bericht über vier Jahre als MdB im Bonner Parlament.
Wie ich schnell begriff, hatte ich PDSler vor mir, gern abwertend "Altkader" genannt, was sie durchaus nicht zu verbergen suchten. Einer vertraute mir lächelnd an: "Für die Partei tue ich, was ich kann." Solche Offenheit ließ keinen Platz mehr für früheren Groll, Zorn, Feindschaft. Mir war, als sei das alles vergangen, wir engagierten Greise gehörten auf einer neuen, durchreflektierten Ebene wieder zusammen. In den besten dieser Genossen steckt ein beachtliches Potential, es ist ein Skandal, daß diese Kraft durch unterwürfig falsche und bornierte Politik verschleudert wurde. Ja, die Lenin-Stalinsche Linie hatte über revolutionäre Siege zur konterrevolutionären Niederlage geführt. Doch in diesen Menschen überdauert eine Energie, die von der erneuerten PDS fruchtbar gemacht werden kann, bis jüngere Sozialisten antreten. Und wenn nicht, sollte uns Alten über alle Differenzen hinweg ein wenig Gerechtigkeit widerfahren. An diesem Abend auf der Burg Ranis fand ich ein Stücklein meines beinahe verlorenen Glaubens an unsere Ideen der Veränderung und des Aufbruchs nach dem Jahr 1945 wieder. Es kann nicht alles vergeblich gewesen sein. Unter der Asche des abgebrannten Hauses DDR fänden sich bald Schätze, dachte ich, nach denen zu suchen sich nicht nur für Archäologen lohnte. Vielleicht wird es sogar mehr sein, als von den Münsteraner Wiedertäufern geblieben ist. Wir waren freiheitlich, bevor uns die Unfreiheit schluckte. Ein neuer Versuch muß das berücksichtigen. Sozialisten allein sind gewiß nicht die Retter der Welt. Ohne sie aber ist die Welt verloren.
Worauf also kommt es an? Wieviel Marx darf eine sozialistische Partei, die sich als pluralistisch versteht, ihren Anhängern zumuten? Da sie von vielen gewählt werden will, schränkt ihre marxistische Programmatik das zur Verfügung stehende Potential unterschiedlicher Sozialisten stark ein. Sozialisten, Kommunisten, Trotzkisten, Christen, Pazifisten, Sozialdemokraten, Liberale und andere wollen oder können nicht unisono auf "Kommunistisches Manifest", "Kapital " oder/und diverse Nachfolgen und Interpretationen eingeschworen werden, ohne sich in unsinnigen Gruppenkämpfen zu verlieren. Eine Partei, die nicht mehr Einheitspartei sein will, benötigt ein bündiges und zugleich weitgespanntes Arbeitsprogramm, auf das sich jeder Sozialist verständigen kann. Ulla Plener spricht in ihrer Schrift "Wirtschaften fürÂ’s Allgemeinwohl" über die "sozialdemokratische Ur-Idee der Wirtschaftsdemokratie", von der die SPD sich getrennt habe, weshalb die PDS diese Ur-Idee übernehme. Damit ist zweifellos die epochale Bruchstelle zwischen Sozialdemokraten und Sozialisten definiert, ohne überflüssige Implikationen beizufügen. Das Wirtschaftsprogramm aber bedarf der überwölbenden philosophischen Begründung, wofür sich die revolutionäre Ur-Szene in der Marxschen Einleitung "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" anbietet, wo es heißt, daß "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Wie sich dieses existentielle und revolutionäre Prinzip konkretisieren läßt, zeigte der Marburger Politologe Frank Deppe in seinem Essay "Die Linke in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", wo er eine klassische Marx-Exegese des Trotzkisten Ernest Mandel zitiert: "Sozialismus bedeutet weder ein Paradies auf Erden... noch die Herstellung einer perfekten Harmonie zwischen dem Individuum und der Gesellschaft oder zwischen dem Menschen und der Natur. Es bedeutet auch weder das ›Ende der Geschichte‹, noch das Ende von Widersprüchen, die die menschliche Existenz charakterisieren. Die Ziele, die von den Anhängern des Sozialismus verfolgt werden, sind ziemlich bescheiden: nämlich sechs oder sieben Widersprüche aufzuheben, die seit Jahrhunderten menschliches Leiden im Massenmaßstab hervorgerufen haben. Die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, Kriege und Gewalt zwischen den Menschen sollen ein Ende haben. Hunger und Ungleichheit müssen für immer beseitigt werden. Die institutionalisierte und systematische Diskriminierung von Frauen und von Rassen, von ethnischen Gruppen und nationalen und religiösen Minderheiten, die als ›inferior‹ betrachtet werden, muß beendet werden. Es darf keine wirtschaftlichen und ökologischen Krisen mehr geben." (Nachzulesen in "Perspektiven der Linken", Hamburg 2000)
Diese Kernlehre des aufgeklärten Trotzkisten Mandel holt den blühenden Utopismus vom Himmel auf die Erde, doch der genaue Blick muß erkennen, auch dieser Pragmatismus überfordert unsere bisherige Kulturgeschichte der Unmenschlichkeit derart, daß die Realisierung überall, wo sie probiert wurde, mißlang. Ich empfehle nun diese pragmatischen Konsequenzen, die Mandel aus der französischen Revolutionstriade sowie der Marxschen Forderung nach Aufhebung der Klassengesellschaft und der Selbstbefreiung des Menschen gezogen hat, als Kernbestand eines sozialistischen Programms und warne vor dem Zwang weiterreichender Festlegungen. Sozialisten mögen durch unterschiedliche Herkunft, Präferenzen und weltanschauliche, religiöse oder atheistische Prägungen voneinander abweichen - ein gemeinsames Ziel bietet die Aufhebung der sieben Widersprüche, in denen Mandel die Marxsche Urfassung plausibel werden läßt. Sozialisten sind demnach revolutionäre Pluralisten, die wissen, die Welt ist Richtung Zukunft offen und enthält kein finales Handlungsschema, weshalb die Gesellschaft der Barbarei bis zur Selbstvernichtung verfallen kann. Dem ist Widerstand zu leisten.
Das Ur-Programm der Sozialisten ist der Versuch kollektiver Solidarität. Plurale Sozialisten wissen, sie können das nicht allein und nur gemeinsam mit anders Denkenden schaffen. Sie können aber auch nicht vom Ziel der Wirtschaftsdemokratie und der progressiven Humanisierung der Gesellschaft ablassen, ohne sich als Sozialisten aufzugeben. Ihr Standpunkt bleibt originär basismarxistisch, was die Sozialdemokraten zur sozialen Frage verkürzten, während die Kommunisten nach dem Ende der KPdSU (Bolschewiki) unschlüssig der elitären Parteidiktatur nachtrauern.
Sozialisten, die sich auf die beiden Ur-Ideen der Wirtschaftsdemokratie und revolutionären Humanisierung besinnen, werden damit frei für eine moderne Politik als Antwort auf die Krisen und Kriege der Globalisierung. Frei zu sein von alten Zwängen verbürgt allerdings noch keinen Erfolg. Es ist erst eine Voraussetzung.
Reden wir Klartext: Keinem SED-Genossen brach ein Zacken aus der Krone, brach er mit seiner Vergangenheit. Unser Anfang von 1945 war und bleibt so groß, wie sich die Haltung derer als klein und geschichtsblind herausstellt, die den radikalen Bruch mit dem aggressiven, zerstörerischen Deutschland scheuten. Wollen Sozialisten in Deutschland wirksam mitbestimmen, ist die radikale Abkehr von sowjetischen Modellen in aller Konsequenz notwendig. Allerdings bleibt es eine ebenso seriöse wie legitime Frage, ob die Nicht-Sozialisten, besonders die westdeutschen, die Unverzichtbarkeit eines Bruchs mit ihrer eigenen Vergangenheit erkennen. Das schließt die Sozialdemokraten mit ein.
Die grundsätzliche Differenz zwischen der deutschen Linken und Rechten besteht in einer absolut diametralen Einschätzung der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs. Für die Linke war, ist und bleibt er der politkulturelle Sündenfall, der den Sozialismus als neue Weltordnung installierte und legitimierte, für die Rechte war der Dollpunkt nicht der Krieg, sondern die Niederlage Deutschlands mit dem anschließenden Versailler Friedensvertrag. Hitlers Machtbeginn 1933 folgte nur 15 Jahre nach der mißlungenen sozialdemokratischen Revolution von 1918. Der deutschen Sozialdemokratie, die sich 1914 und 1918 mit des Kaisers Generälen verbündete, blieb am Ende nur der ehrenhafte Protest gegen die Ermächtigungsgesetze. Das Bürgertum stimmte für Hitler, die Kommunisten befanden sich da bereits in der Illegalität. Damit war die Struktur der deutschen Teilung vorgezeichnet, die allein der DDR aufzubürden bei rechten Ideologen im Schwange ist.
Indessen ist Blochs Hoffnungslehre eine Möglichkeitsform. Die Parteien und Staaten hatten die Wahl, anzunehmen oder abzulehnen. Die Parteien und Staaten lehnten ab. Nur die Feuilletons nahmen an. Die Niederlage des Denkers bestand im Wechsel von Ost nach West, wo er seine Philosophie gar nicht mehr für die Praxis anbot, weil die Voraussetzungen fehlten, denn, heißt es im "Prinzip Hoffnung": "Mögliches ist latent Bedingtes."
Hoffnung sei keine Zuversicht und könne enttäuscht werden, antwortete er, wurde nach den Gründen seines Scheiterns gefragt. Zuversicht aber kann ebenfalls enttäuscht werden. Sie ist nur verstärkte Hoffnung.
Dennoch besteht genau in dieser Differenz der Unterschied zwischen der Kritischen Frankfurter Schule und der Blochschen Philosophie. Die Kritische Schule benutzt den akademischen Marxismus zur Analyse kultureller und allgemeingesellschaftlicher Phänomene. Die Kulturleistung der Kritischen Theorie besteht in der Verfeinerung der Analytik bis ins Sprachliche hinein, wo die Subtilität allerdings kaum noch vermittelt werden kann, was immer mehr Menschen ausschließt und bis zur Unübersetzbarkeit in andere Sprachen führt. Die elitäre Artistik steht dem aufklärerischen Willen im Wege. Die Mittel stören und zerstören die Methode und umgekehrt. So bilden sich Schulen und Schüler, man gehört dazu und kommt in oder außer Mode. Dieser Marxismus endet folgerichtig im avantgardistischen Abseits. Er ist - auf allerhöchstem Niveau - Sklavensprache einer passiven, elitären Kaste.
Tendenziell unterliegt Bloch demselben Trend. Allerdings entwickelte er seine Gegenwehr. Die Analyse des Vorhandenen ist ihm nie die ganze Arbeit.
Die 11. Feuerbach-These verlangt die Veränderung der Welt. Das arbeitete Bloch weder politisch noch im Sinne einer Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung heraus. Vielmehr blieb er auf zwei Gebieten - dem der Philosophie als der höchsten Abstraktionsebene und dem der Kulturkritik. Auf dem letzten Feld tritt der Unterschied zur Methodik der Kritischen Schule deutlich zutage. Nehmen wir nur den Fall Karl May. Üblicherweise gibt es unkritische Karl-May- Leser und eine kritische Intelligenz, die den sächsischen Proletarier- Fabulierer ablehnt. Bloch verlagerte die Analyse, indem er nicht einfach die Unzulänglichkeiten oder politischen Dummheiten Mays aufzeigte, sondern nach den Gründen für den Erfolg des Erzählers forschte. Karl May als literarisch unzulänglich zu verwerfen, besagt nichts als die höhere Bildung dessen, der das Ungenügen feststellt. Die höhere Bildung ist indessen nicht hoch genug, sonst würde ersichtlich, daß im Autor wie in seinen Lesern ein gesellschaftlich erzeugter Mangel vorhanden ist und die Karl-May-Bücher eben diese Lücke ausfüllen.
Die Lektüre der Abenteuergeschichten wirkt wie Religion, erhebend, traumhaft bunt und ichbestärkend, mindestens als Ersatz fürs wirkliche Leben, jedenfalls seine Ödnis überbrückend.
Bloch reflektierte die 11. Feuerbach-These bis hin zu dem daraus folgenden zwingenden Grund der Korrektur, die er unterließ, aber nahelegte. Denn der Satz "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern" ist zu komplettieren durch: "... es kommt darauf an, sich zu verändern." Erst diese Konsequenz stellt dem Objekt das revoltierende Subjekt gegenüber und damit gleich.
Als ich 1957 die DDR verließ, nahm ich mir vor, nie wieder in Abhängigkeit von Universitäten, Akademien oder Staat und Parteien zu leben, denn sie forderten einen Tribut, den ich schon aus mentalen Gründen nicht leisten konnte. Meine Maxime ging dahin, daß die Marxsche äußere Revolution durch eine innere Revolution des Individuums zu ergänzen sei. Es ist zu wiederholen: Der zweite Halbsatz der 11. Feuerbach-These "... es kommt darauf an, sie (die Welt) zu verändern", korreliert mit: "es kommt darauf an, sich (selbst) zu verändern. " In diesem Sinne finden sich Marx, Nietzsche und Sigmund Freud in Blochs revolutionärer Reformation des Marxismus und der subversiven Revolution der Bürgerlichkeit. Zwar scheiterte Bloch daran, doch die Lehre ist durch ihn in die Welt gelangt. Es gilt, sie nicht zu verleugnen, es sei denn, es wolle einer ein Saul bleiben.
Die Wende vom Objekt zum Subjekt ist kein Ersatz des ersten durch das zweite, aber längst fällig gewordene Vervollständigung. Nach dem Ende des sowjetischen Modells hängen die Bezüge der Theoretiker, die vom Staatssozialismus Fortschritt auf Dauer erwartet hatten, in vielfältigen Formen in der Luft. Der rote Oktober weckte Hoffnungen, die sich nicht einlösen ließen. Weil der revolutionäre Marxismus Träume und Lebenskraft des Einzelmenschen vernachlässigte und die proletarische Revolution als geschichtliche Zugmaschine (Lokomotive) bewertete, die alles voranbringen müsse, fallen seine Gläubigen und Gläubiger nach dem Scheitern der tiefsten Verzweiflung anheim, in Melancholie erstarrend, Trauerklagen ausstoßend oder zu den "Klassenfeinden" überlaufend, Figuren des Jammers, und sowas war gestern noch siegestönend aufmarschiert.
Klassische Theoriedenker wie Lukács, Benjamin, Bloch, Herbert Marcuse, denen die Oktoberrevolution zum Ausgangspunkt des Sozialismus wurde, verlieren an Bodenhaftung, soweit sie sich nicht eine alternative Basis schufen. Auf sie bezogen gilt, was Bloch über Nietzsche feststellte - die Fragen waren richtig, die Antworten falsch. Genau dies trifft Bloch am wenigsten. Sein Denken schloß Kant, Schlegel, Hegel, Marx, Schopenhauer, Nietzsche, Freud ein, und soweit Trotzki die reale Alternative zu Stalin war, ist Bloch die Alternative zur verlorenen Revolution, die zwar 1917 siegte, ab 1990 aber ruhmlos erlosch.
Es ging schleichend bergab: Ökonomisch bedingte Klassenlagen und -kämpfe, zu denen Kirche und Vaterland die rechten Ideologien lieferten, entfremden in der Moderne zu psychologischen und mentalen Haltungen, denen die globalisierende Anarchie der Medien soviel Gegenaufklärung offeriert, daß die Masse weder im Kollektiv noch im Ego das eigene Interesse wahrzunehmen versteht. Das ist die Lage. Hätte der 1977 verstorbene Bloch das Ende der Staatssozialisten erlebt, wäre er unerstaunt geblieben. Er hatte schon 1956 geraten, endlich Schach statt Mühle zu spielen. Doch waren die nötigen Figuren verhaftet worden. Bloch hatte in allen deutschen Landen etwas anderes als die herrschende Staatsreligion gelehrt. Seine spezielle Sklavensprache war stets ein Argot des subversiven Widerstands. Er lehrte nicht wie Nietzsche Krieg, sondern Kampf. Er befahl keine Truppen, sondern träumte, wünschte, forderte, verschickte verschlüsselte Botschaften mit Aufforderung zur Offenlegung. Seine gesamte Botschaft als Ruf nach "aufrechtem Gang" zu entziffern ist richtig, allerdings bleibt zu fragen, was der Sohn Jan Robert Bloch dem Vater mit Recht nachrufen durfte: "Wie können wir verstehen, daß zum aufrechten Gang Verbeugungen gehören?" Mein Versuch einer Antwort: Weil der Lehrer sonst von Anfang an gehindert ist, die Lehre vom aufrechten Gang überhaupt zu beginnen.
Das Elend des tradierten Marxismus gründet in der bei Marx angedeuteten, durch Lenin und Stalin ins Unendliche und Totale verlängerten Diktatur, die bereits die ersten Gedanken an eine Modernisierung der Theorie zum Verbrechen erklärt. In seinem Buch "Die Intellektuellen" sagt Werner Mittenzwei dazu: "1956 hatte Georg Lukács im Petöfi-Club erklärt, er wage zu behaupten, daß die Lage des Marxismus in Ungarn heute schlimmer sei, als sie in der Horthy-Periode gewesen sei. In der DDR verhielt es sich ähnlich, hier im Vergleich zur Weimarer Republik. Der Stalinismus verengte den Marxismus auf formalisierte Grundsätze, schloß jede Weiterentwicklung durch andere geistige Strömungen aus. Die dialektische Methode, das Kernstück des Marxismus, wurde nur in ihrer ideologisch präparierten Aussage propagiert. So verlor der Marxismus seine Anziehungskraft. Aber zur gleichen Zeit, in der er als Pflichtlektüre verkam, wuchs bei einigen Intellektuellen die Neugier auf den unverfälschten Marxismus."
Die Diktatur der marxistischen Dogmatiker, die sich anmaßten, über Schüler und Studenten bis zu den besten Denkern und schärfsten Geistern herrschen zu müssen, verhinderte die Selbstentwicklung und endete im Suicid der Macht-Inhaber. Die erklärten Marxisten waren längst antimarxistische Liquidatoren an den Ideen der Freiheit und an der Freiheit der Ideen geworden.
Die beendete Diktatur einer an der Macht erstarrten Gruppe, die sich als legitime Stellvertretung des Proletariats mißverstand, führte im Gegenzug zur Diktatur des Kapitals. Nicht alle seine Sklaven sind so borniert wie die Herausgeber der Anthologie "Vom Sinn des Lebens", die im Februar 2000 bei dtv erschienen ist und es bis Dezember schon zur 3. Auflage brachte. Versammelt sind vom brudergemordeten Abel über die katholischen Bischöfe bis Zarathustra alle, die dazu lexikalisch aufgeboten werden können. Die 570 Seiten im Großformat führen in den Anmerkungen unter der Paginierung 442 auch einen "Bloch" auf, allerdings ist es ein zweifellos wichtiger "Werner Bloch", der zu Darmstadt anno 1952 etwas übersetzte. Da kann ein gewisser Ernst Bloch nicht mithalten und so gibt es ihn gar nicht in diesem fast 600-Seiten-Werk.
Des Rätsels Lösung bietet eventuell die kleine Notiz: "Die Herausgeber Christoph Fehige, Georg Meggle und Ulla Wessels, philosophieren an der Universität Leipzig." Verwiesen wird dazu auf Seite 52, wo ein mit Totenkopf geschmücktes Foto die drei philosophierenden Geistesheroen in denkerischer Pose zeigt: "Wir sehen die Herausgeber des vorliegenden Bandes in Meditation über Friedrich Rückerts Verse >Alle Wässerlein fließen/ In die grundlose See/ Alle Freuden ergießen/ Sich ins trostlose Weh