Reisen ist nicht immer gleich Reisen. War Reisen früher wenigen Privilegierten vorbehalten, so änderte sich das mit der Entwicklung des Massentourismus. Dieser wurde nur möglich infolge sozialer Errungenschaften wie gestiegener Einkommen und gesetzlichen Urlaubsanspruchs. Klassenunterschiede dokumentieren sich nun vor allem durch die Formen des Reisens. Und sie hängen - wie Gerlinde Irmscher herausarbeitet - mit geschlechtsspezifischen Differenzierungen zusammen.
Wenn "Massen" verreisen, scheinen sie nur mittels statistischer Daten angemessen erfassbar. Doch könnten ihre Reisen auch als konstitutives Merkmal ihrer Biografie betrachtet werden.
Das reisende "Tippfräulein"
Ausgerechnet eine weltweit operierende, problematische Vermittlerin von touristischen Unterkünften übt in ihrem neuesten Werbespot Kritik an der Reisepraxis ihrer potenziellen Klientel. Man solle doch damit aufhören, Urlaubsziele einfach "abzuhaken", sondern auf Entdeckungsreise gehen und sich entsprechende Erlebnisse organisieren. Da ist er wieder, der aus Aufklärung und Romantik stammende Anspruch, dass Reisen "bilden" solle, womit nicht nur geistige Veränderungen gemeint waren, aber auch zu Herzen gehen und die Sinne bezaubern. Reiseziele "abzuhaken" gehört dagegen scheinbar einem anderen Zeitalter an, dem der "Massen" und des "Massentourismus". Letzterer wurde zum Charakteristikum der Urlaubsreise seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklärt. Luftverschmutzung, Umweltzerstörung, Vertreibung der Bereisten aus ihren Wohnquartieren und neokoloniale Praktiken - das sind nur einige der immer wieder und seit einigen Jahren unter dem Label "Overtourism" geäußerten Kritikpunkte an diesem Phänomen. Vor allem aber scheint es einfach zu selbstverständlich geworden zu sein, im Urlaub zu verreisen. Nichts verdeutlicht das besser als die auch in diesem Jahr medial verbreitete Klage, dass sich ein beträchtlicher Teil der Menschen in Deutschland keine Reise leisten könne. "Weg sein, muss sein!" lautete vor einiger Zeit der passende Slogan eines einheimischen Veranstalters. Ist es unter solchen Umständen überhaupt angebracht, von touristischen Unternehmungen etwas Besonderes, Außeralltägliches zu erwarten? Tourismus, so soll es hier verstanden werden, ist von vornherein "Nachahmung" und "Wiederholung": "gleiche Wege, gleiche Ziele, gleiche Praktiken. (Wählt man freilich einen engeren Betrachtungsabstand, erweist sich jede Reise als individuell, da die Praktiken stets etwas abweichen vom Vorgegebenen, quasi um einen hypothetischen Mittelwert oszillieren, zum anderen, da das Erleben per definitionem ein individuelles ist)."1 Genau dieser "engere Betrachtungsabstand" soll nun im Folgenden eingenommen werden.
Zunächst: In welcher Beziehung stehen die genannten Beobachtungen zum "reisenden Tippfräulein" und inwiefern spielen hier Geschlechterverhältnisse eine Rolle? In einer ersten grundlegenden Untersuchung zum "Massentourismus" teilte der Soziologe Hans-Joachim Knebel im Jahre 1960 wehmütig, aber gefasst mit: "War einst das Reisen eine Männersache, an der das weibliche Geschlecht erst mit dem Eindringen des Vergnügungsmotivs in die touristischen Verhaltensweisen teilhatte, so beobachten wir heute den Abschluss der touristischen Emanzipation der Frau, der sich vor allem im Überwiegen des weiblichen Geschlechts bei den Gesellschaftsreisen dokumentiert."2 Als die Reise noch "Männersache" war, so schwingt es mit, hatte sie eine andere Qualität, war ernsteren Zwecken gewidmet: männlicher Selbstvervollkommnung etwa auf dem Wege einsamer Entdeckungsfahrten. Das ist eine Annahme, die schon Jahrzehnte zuvor nicht mehr vollends überzeugen konnte. Für einen zeitgenössischen Beobachter um 1900 blieb es zwar ausgemacht, dass "Reisen in höchster Potenz als eine männliche Angelegenheit überhaupt" bezeichnet werden könne, aber auch Frauen offen steht, "die einen guten Teil männlicher Art haben, die Abenteuer der Reise suchen und finden, während Männer, die Weiber sind, auf Reisen kaum anderes erleben als gutes und schlechtes Essen im Hotel, ordentliches Bridge, Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und was sonst noch der Baedeker für den Hausgebrauch vorzeichnet."3 Wer "richtig" reisen wollte, musste es also tun "wie ein Mann". Im Laufe der Zeit des 20. Jahrhunderts ging diese geschlechtliche Zuschreibung verloren, geblieben ist aber die "Pflicht" der "echten" Reisenden, für spektakuläre Erlebnisse, für Unbekanntes bereit zu sein, wobei die Maßstäbe natürlich unterschiedlich waren (und sind). Für die einen reichte es, in ein Land zu reisen, in dem kein "deutsches" Essen serviert wurde, für andere musste es eine Trekkingtour im Himalaja sein, die einen schwärmen vom Biwakieren, die anderen brauchen für ihr Glück ein Luxushotel.
Bis um etwa 1900 war es nur eine Minderheit, die sich eine "Freizeitreise" gönnen konnte. Dann aber tauchte die ledige weibliche Angestellte auf, die mit ihrer Freundin oder allein nach Gelegenheiten Ausschau hielt, für "kleines Geld" im Urlaub wegzufahren. Das "Tippfräulein" mit seinem Budget von 100 Reichsmark betrat die historische Bühne und mit ihr wurde das Zeitalter des "Massentourismus" eingeläutet.4 Es ging also nicht allein um die Teilnahme von Frauen schlechthin, sondern um solche, die nicht in männlicher Begleitung unterwegs waren. Sie verkörperten eine besondere "Gefahr". Keiner männlichen Führung unterworfen und nur halb gebildet lebten sie im Urlaub aus, wonach ihnen der Sinn stand: das Vergnügen. In Italien etwa zählten nicht mehr die Kulturschätze, sondern Musik und Tanz, der Strand und junge (italienische) Männer, die auf einen Flirt aus waren. So jedenfalls behaupteten es kulturkritische Stimmen bis in die 1970er Jahre, Tourismusforscher nicht ausgenommen.
Die Abwehr des touristischen Moments am Reisen und das schlechte Image des "Massentourismus" stellt deshalb nicht nur eine Reaktion auf die wachsende Beteiligung sozial Unterprivilegierter dar, sondern auch auf die "touristische Emanzipation der Frau". Argumentative Vorbilder lassen sich schon im 19. Jahrhundert finden. Da gab es die in zahlreichen Karikaturen verspotteten allein reisenden Engländerinnen, die wahlweise zu neugierig oder zu verständnislos durch den "Kontinent" eilten. Sie verkörperten ebenso die Figur des blinden Touristen wie die schwärmerischen und schwatzhaften Ehefrauen reisender Bürger, Frauen, "die entweder gar nichts, nur das Falsche oder das Richtige auf falsche Weise sagten."5 Freilich wurde deren "Fehlverhalten" durch den Gatten im Zaum gehalten, der seine oft viel jüngere Frau wie eine Schülerin behandelte. Das belegen beispielsweise die (seltenen) überlieferten Berichte von Hochzeitsreisen.
Junge, ledige Angestellte, Sekretärinnen vor allem, sollen dagegen das Erscheinungsbild von "Gesellschaftsreisen" bestimmt haben. Statt sich allein durch die Welt zu schlagen, bestiegen sie Sonderzüge und Sonderbusse, um kostengünstig ans Ziel zu gelangen. Da die Fahrpreise einen erheblichen Teil des Reisebudgets ausmachten, konnte auf diese Weise gespart werden, ja, wurde es überhaupt erst möglich, im Urlaub wegzufahren. Die mitschwingende Unterstellung, hier sei Individuelles auf der Strecke geblieben, trifft vor allem diese Klientel.
Seit den 1970er Jahren wird das touristische Verhalten der Bundesbürgerinnen und -bürger regelmäßig in repräsentativen Untersuchungen erfasst und tatsächlich trifft zu, was Knebel seinerzeit festgestellt hat: Die touristische Emanzipation der Frau scheint vollzogen, wenn allein das Kriterium der Reisehäufigkeit zählen soll. Wenn aber das "Wie oft" ausgespart wird und sich stattdessen das Interesse darauf richtet, wer den Urlaub plant und organisiert, wer die Koffer packt und die Fotoalben füllt und wer im Campingurlaub das Geschirr abwäscht oder wenn Alleinreisende und Reisebiografien, die Angestellten der Tourismusbranche selbst und die sexuelle Ausbeutung von Bereisten in den Blick geraten, dann tut sich aus der Perspektive von Geschlechterverhältnissen ein weites Feld bisher nur teilweise untersuchter Fragen auf.
Reisen als "Lebenswerk" - ein Vergleich
Der Wandel, den der Tourismus im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren hat, habe ihn dem gegenwärtigen immer ähnlicher gemacht, so lautet das Fazit des Historikers Rüdiger Hachtmann.6 Um dies empirisch zu untermauern und Ähnlichkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten, soll nun das Reiseleben eines Protagonisten aus dem gehobenen Hamburger Bürgertum und einer Nachfahrin des "Tipp-Fräuleins" verglichen werden. Es handelt sich um den Stadtarchivar und Gelehrten Otto Beneke, der im Jahre 1891 im Alter von fast achtzig Jahren verstarb und um Wanda Frisch, eine Chefsekretärin aus Essen (1923-2019).7 Wanda Frisch wird hier nicht in erster Linie als reisende Frau betrachtet, sondern als historisch legitimierte Verkörperung jener sozialen Gruppe, die im 20. Jahrhundert nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ den für das Zeitalter des sich ausbreitenden Tourismus charakteristischen Reisestil verkörperte. Dem Tourismusforscher Dieter Kramer folgend soll er unter dem Aspekt "des genußvollen individuellen Konsums von gesellschaftlichem Reichtum" betrachtet werden.8 Urlaubsreisen sind für das Selbstbild und die Wahrnehmung von Wanda Frisch im Bekanntenkreis bestimmend gewesen - folgerichtig wurde ihr Nachlass dem Historischen Archiv zum Tourismus in Berlin übergeben. Natürlich provoziert ein Vergleich der "Reisekarrieren" der beiden aber auch Überlegungen zu Geschlechterspezifika und deren Verschwinden.
Otto Beneke war für seine soziale Klasse ebenso "typisch" wie Wanda Frisch für die ihre, das "moderne" Kleinbürgertum in Gestalt der Angestellten. Beide eint, dass sie als "abhängig Beschäftigte" für ihre Reisen auf eine Beurlaubung angewiesen waren, aber dem sozialen Gefälle und den zeittypischen Gepflogenheiten gemäß bekam Beneke mehr Urlaubszeit zugestanden. Die Verkürzung des Urlaubsaufenthaltes war ein säkularer Prozess, der das Beherbungswesen in manche Krise stürzte. Dem Hamburger Bürgersohn aber schien die Zeit der "Freiheit", wie er es mehrfach artikulierte, immer noch zu kurz. Leider hat Wanda Frisch keine Reflexionen auf die unterschiedliche Qualität von fremd bestimmter Arbeit und Freizeit hinterlassen, doch gibt es aus anderen Quellen dazu zahlreiche Belege.
Beneke und Frisch haben, auch das gehört zu den Charakteristika des Tourismus, ihr Reiseleben, jeweils zeittypisch unterschiedlich, aber doch auch wieder auf ähnliche Weise dokumentiert. Der Archivar aus Hamburg ist zwar nicht wie viele Zeitgenossen (und Zeitgenossinnen) mit gedruckten Reiseberichten an die Öffentlichkeit getreten, aber sein Nachlass enthält mit vielen Bildern versehene Bücher, die er in den Winterhalbjahren aus "Briefen, Tagebuchnotizen, Zeichnungen und Ansichtskarten" zusammengestellt hatte. Am Ende verfasste er ein "summarisches Register meiner Reisen und mehrtägigen Landtouren seit 1813".9 Ansichtskarten enthält auch der touristische Nachlass von Wanda Frisch, während andere Selbstzeugnisse rar sind. Dafür hat sie zahlreiche Fotoalben mit den obligatorischen Bildunterschriften hinterlassen, eine Sammlung spezieller Souvenirs (Streichholzheftchen und das Einwickelpapier von Zuckerstückchen) und etliche Hefter mit Zeitungsausschnitten zu ihren Reisezielen, mit Rechnungen, Tickets oder dem Briefwechsel mit Reiseveranstaltern. Wer erkunden will, was die Urlaubsreisen für Wanda Frisch bedeutet haben, muss das auf indirekte Weise tun. Doch eines konnte klar herausgearbeitet werden - neben dem "Vergnügen", hier in Form von Besuchen bekannter Theater bis hin zum Genuss eines Kaffees an prominenter Stelle oder der Freude am Wintersport interessierte sie sich vor und oft noch lange nach der Reise für ihre Urlaubsziele, besonders für die spektakulären. Freilich geschah das nicht auf "gelehrte" Weise, sondern anhand leicht konsumierbarer Medien wie der Tagespresse. Um Risiken in Grenzen zu halten, die den "Genuss" an der Reise gestört hätten, nutzte sie die spezielle Betreuung durch ein Reisebüro.
Die größten Unterschiede im Reiseleben von Frisch und Beneke, das ist ein nahe liegender Gedanke, resultieren aus veränderten Transportmöglichkeiten. Neue Destinationen waren erreichbar, sofern sich dort eine touristische Infrastruktur entwickelte. Doch unterhalb dieser Ebene ergeben sich auch erstaunliche Ähnlichkeiten, die besonders deutlich werden, wenn nicht einzelne Touren oder einzelne Urlaubsziele betrachtet werden, sondern das Reisen im Lebensverlauf. Der Bürgersohn Beneke war seit seiner Kindheit mindestens einmal, meist aber zwei- bis viermal im Jahr unterwegs, zu Verwandtenbesuchen oder Kurzreisen an den Feiertagen und im Sommer oder Herbst auf mehrwöchigen Touren. Als Kind reiste er mit den Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten, als junger Mann mit Freunden, später mit seiner Ehefrau. Die längeren Rundreisen galten deutschen Städten ebenso wie angesagten Kur- und Badeorten und landschaftlich reizvollen Zielen an Nord- und Ostsee oder in den Alpen. Während des Studiums erkundete er die nähere und weitere Umgebung seines Studienortes und beendete diese Lebensphase ebenso wie ähnlich situierte Altersgenossen mit einer längeren Tour, die ihn nach München, Wien, Prag und Dresden führte. In der Phase seiner beruflichen Etablierung fehlten Zeit und Geld, dann aber folgten über viele Jahre ausgedehnte Reisen durch Süddeutschland, Österreich und die Schweiz. Als alter Mann besuchte Beneke Kurorte an der Küste oder in Böhmen.
Hätte Beneke eine Schwester gehabt - welche Unterschiede wären zu erwarten? Auch bürgerliche Mädchen verreisten zu Verwandten und Bekannten, machten Urlaub mit Eltern und Geschwistern, genossen das freiere Leben in der Sommerfrische. Aber natürlich entfiel die oft prägende Reise nach Beendigung des Studiums und mit gleichaltrigen Mädchen auf eigene Faust unterwegs zu sein, war normalerweise undenkbar. Ganz unmöglich erschien es, in jungen Jahren allein auf Reisen zu gehen und selbst ältere Frauen hatten mit Vorurteilen zu kämpfen. So manche Gattin und Mutter musste sich auch damit abfinden, dass ihr Mann sich allein auf den Weg machte. Wanda Frisch konnte sukzessive von der touristischen (und auch sonstigen) Emanzipation der Frauen profitieren. In ihrer Kindheit und Jugend fuhr sie mit den reiselustigen Eltern in Urlaub, allerdings teilweise noch im Modus der Sommerfrische. Der berufstätige Vater, Abteilungsleiter in einem Kaufhaus, konnte nicht die ganze Zeit vor Ort bleiben. Mit ihren Mitschülerinnen an einer höheren katholischen Mädchenschule unternahm sie einige längere Ausflüge. Mit etwa dreißig Jahren begann ihr selbständiges Reiseleben, zunächst in Begleitung von Freunden und Bekannten. Welche Ursachen dafür verantwortlich waren, dass sie erst zur "alten Jungfer" werden musste, um ohne Eltern zu verreisen, konnte nicht ergründet werden. (Doch vielleicht galten für ein katholisches Mädchen noch die alten Regeln). Später bereiste sie die Welt, kam bis China, Japan und Mexiko, besuchte die Sowjetunion und mehrfach die USA. Meist war sie mit einer ebenfalls ledig gebliebenen Kollegin unterwegs. Auch Wanda Frisch unternahm Kurzreisen, aber im Gegensatz zu Beneke per Flugzeug in bekannte europäische Städte. Am auffälligsten und für sie charakteristisch war aber der Skiurlaub in den Alpen, für den sie über mehrere Jahrzehnte drei Wochen Urlaub opferte. Damit und mit ihren Fernreisen war sie im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt eine "Pionierin".
Otto Beneke beschränkte sich auf tradierte und alt bewährte Destinationen, allerdings war seine Wahrnehmung eine andere. Das Moment des Abenteuers oder männlicher Bergkameradschaft spielte eine Rolle, obwohl er sich auf gebahnten Wegen bewegte. Am Ende schien eine solche Illusion nicht mehr zu funktionieren, denn er beklagte "das allgemeine Reisefieber der modernen Welt"; ganze "Philisterfamilien mit allen Kindern, Affen, Hunden u. Papageien" würden Verkehrsmittel, Gasthäuser und Sehenswürdigkeiten bevölkern.10 Dazu hätte er vermutlich auch die aus weniger gehobenen Kreisen des Bürgertums stammenden Eltern von Wanda Frisch gezählt, die aber bis in die 1960er Jahre eine ihren zeitlichen, finanziellen und kulturellen Möglichkeiten entsprechende Variante seines Reiselebens praktizierten. Ihre Urlaubsziele und ihr touristisches Verhalten im Lebenslauf ähneln dem von Beneke jedenfalls in erstaunlichem Maße und belegen die Langlebigkeit und soziale Verbreitung eines Musters, das von der Tochter aufgebrochen wurde. Davon zeugt ihre aus den überlieferten Quellen ableitbare regelrechte "Reisekarriere", ein Lernprozess, der sich nicht auf die Jugendzeit beschränkte, sondern lebenslang andauerte. Genauer hinzusehen und sich nicht mehr von den Eindrücken "überwältigen" zu lassen, war wohl sein wichtigstes Ergebnis.
Zum Schluss
Schon im 19. Jahrhundert hatten Vertreter des aufstrebenden Bürgertums wie Otto Beneke Freizeitreisen als konstitutiv für ihren Lebensstil angesehen und entsprechend gehandelt. In Archiven finden sich zahlreiche unveröffentlichte Berichte, die das dokumentieren und meist von Männern verfasst wurden (was aber auch der Archivierungspraxis geschuldet sein kann). Seit den 1950er Jahren wurden in den Haushalten Berge von Fotoalben, Postkarten, Dias und manchmal auch Schmalfilmen angehäuft, die vor allem Urlaubsreisen illustrierten als Zeichen des Umstands, dass diese zwar einerseits zur Alltagspraxis vieler wurden, andererseits aber auch besonders erinnerungswürdig blieben. Sie aufzubereiten obliegt weitgehend den Frauen. Vor allem Angestellte (und Beamte) waren bereit, statt für ein Eigenheim, Waschmaschinen, Fernseher oder Kühlschränke zu sparen, mit Zeit und Geld den Aufschwung des Tourismus voranzutreiben, während die zunehmende Automobilisierung letztlich ebenfalls dem Urlaub zugute kam. Sie stellen im übrigen auch die Klientel derer, die stolz darauf sind, andere Konsumwünsche zurückzustellen, um sich eine "Abenteuerreise" leisten zu können.11 Ist es eine Investition in Illusionen mit zerstörerischen Folgen? Akademiker sind seit der Aufklärung die reisefreudigste soziale Gruppe und produzieren zugleich die Maßstäbe für "richtiges" oder "falsches" Reisen. Das sollte bedenken, wer sich ihrer Argumente bedient. Hier hatten die Frauen historisch gesehen besonders schlechte Karten, waren sie doch per definitionem und real aus ihren Kreisen ausgeschlossen. Zwar erreichten einige von ihnen als Weltreisende mit ihren Berichten eine erstaunliche Popularität, doch blieben das Ausnahmen. Erst Angestellte wie Wanda Frisch konnten zeigen, dass es inzwischen die Frauen waren, die auf Reisen für "Kultur" und "Bildung" sorgten, das "Vergnügen" daran eingeschlossen.
Anmerkungen
1) Hasso Spode 2010: "Die Zukunft des Tourismus. Vom ›Massenurlaub‹ zur ›Individualität‹?", in: Universitas 65(2010) 767: 449 f.
2) Hans-Joachim Knebel 1960: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart: 86.
3) Viktor Goldschmidt <^>2<^*>1914: Schule des Reisens. Gute Lehren des Globetrotters W. Fred, München und Berlin: 31.
4) Vgl. Christiane Keitz 1997: Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München.
5) Philipp Prein 2005: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster: 139.
6) Rüdiger Hachtmann 2007: Tourismus-Geschichte, Göttingen: 59 f.
7) Alle Angaben zu Otto Beneke sind Prein (s. Anm. 5) entnommen. Zu Wanda Frsich vgl. Gerlinde Irmscher 2000: Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiographie im 20. Jahrhundert, Bielefeld: hier vor allem 63 ff.
8) Dieter Kramer 1998: "Was bedeutet die Theorie des Tourismus für die Kulturwissenschaften?", in: Hans-Peter Burmeister (Hg.): Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, Loccumer Protokolle 5/98, Loccum: 156.
9) Prein (s. Anm. 5): 78.
10) Ebd.: 171.
11) Vgl. Christoph Köck 1990: Sehnsucht Abenteuer, Auf den Spuren der Erlebnisgesellschaft, Berlin.
Dr. phil. Habil. Gerlinde Irmscher war als Privatdozentin im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig und ist heute ehrenamtliche Mitarbeiterin am Historischen Archiv zum Tourismus (HAT) in Berlin.


