In Zeiten wie diesen schaut man gebannt auf die Presse, die Fernsehnachrichten, manche auch, ich aber nicht, in die asozialen Medien. Als Historiker suche ich auf heutige Fragen einige Antworten vielmehr auch in älteren Texten. So griff ich nach dem Wahlsieg Donald Trumps, keineswegs zum ersten Mal, zu einem Aufsatz aus dem Jahre 1964.
Im November 1964 erschien in der vielgelesenen New Yorker Monatszeitschrift Harper’s Magazine ein Beitrag des Historikers Richard Hofstadter mit dem provokanten Titel The paranoid style in American politics (Der paranoide Stil in der amerikanischen Politik). Der (meines Wissens) bisher nicht ins Deutsche übersetzte, hierzulande nur wenig bekannte Aufsatz erfuhr in den USA mehrere Nachdrucke, zuerst in einer von Hofstadter selbst publizierten Textsammlung unter gleichem Titel, die in mehreren Auflagen in den Buchhandel gelangte. Wer war Richard Hofstadter und was macht seinen Essay noch im Lichte der Wiederwahl von Donald Trump lesenswert?
Richard Hofstadter (1916–1970) entstammte väterlicherseits einer jüdischen, mütterlicherseits einer deutsch-lutherischen Familie, war selbst anglikanisch getauft und wuchs mit deutschen Kirchenliedern auf. Doch ebenso prägte ihn das progressive Klima jüdischer Arbeiter; seine Frau Felice war Schwester des trotzkistischen Schriftstellers und Journalisten Harvey Swados. Nach ihrem frühen Tod heiratete er Beatrice Kevitt. Aus seinen Ehen hatte er jeweils ein Kind. Politisch gehörte Hofstadter für kurze Zeit der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der USA an, die er aus Protest gegen den Stalinismus verließ.
Nach Studienjahren in seiner Heimatstadt Buffalo unweit der Niagarafälle und der Promotion an der Columbia University blieb Hofstadter, unterbrochen nur durch eine Assistenzprofessur an der University of Maryland, in New York. Die Columbia University wurde sein dauerhaftes wissenschaftliches Heim, an der er eine Stiftungsprofessur übernahm. Sein Spezialgebiet wurde die nordamerikanische Geschichte in internationaler Perspektive.
In seinem Erstling, dem 1944 erschienenen Buch über Social Darwinism in American Thought, untersuchte Hofstadter den allgemeinen Einfluss Darwins auf das amerikanische Denken und den Kampf, der um das Erbe Darwins über die Auswirkungen der Evolutionstheorie auf das soziale Denken und politische Handeln geführt wurde. Herbert Spencer, William Graham Sumner und andere Sozialdarwinisten sahen die Idee des Kampfes ums Dasein als Rechtfertigung für die Übel, doch auch als Antriebskräfte der modernen Industriegesellschaft. Ihre Kritiker wie William James, John Dewey und der Sozialist Edward Bellamy betonten hingegen, eine rationale Planung sei für die Gesellschaftsentwicklung notwendig, um die natürliche Ordnung, die eben nicht reinweg naturgegeben und unveränderbar sei, zu verbessern. In einer Reihe weiterer Bücher, zu nennen ist hier nur Anti-Intellectualism in American Life (1963), kombinierte Hofstadter Elemente einer Marx’schen Klassenanalyse mit Fragestellungen der Sozialpsychologie und Ergebnissen zur Mythen-Forschung wie zu neuen Untersuchungen zur Medienmacht und ihren Auswirkungen auf das Kollektivbewusstsein.
Seine Folgerungen waren zum Teil ernüchternd: Der Fortschrittsoptimismus der Linken und Linksliberalen, wonach die Menschen, ungeachtet episodischer und auch schwerer Rückfälle, letztlich ihren Klassen- und Gruppeninteressen folgen würden, lasse sich nicht aufrechterhalten. Doch ebenso kritisch sah Hofstadter die damals einflussreiche Schule der Consensus historians, die die überzeitliche Bedeutung amerikanisch-demokratischer Werte wie einen aufgeklärten Patriotismus als konstitutiv für den Geschichtsverlauf in den USA sahen. Eine konstante Gefahr für die amerikanische (und nicht nur die amerikanische) Gesellschaft bildete hingegen für Hofstadter eine mächtige Unterströmung des Denkens, deren Ausdrucksform er als paranoiden Politikstil bezeichnete.
Die Wortwahl sei aber keineswegs, so Hofstadter, identisch mit medizinischer Paranoia. Vielmehr gehe es um politische Kräfte, die gezielt Ängste schürten, um die Wählerschaft auf einen bestimmten Standpunkt einzuschwören. Politische Paranoiker betrieben eine solche Demagogie, weil sie die bestehende Gesellschaft und besonders deren humane Normen nicht akzeptierten und deshalb versuchten, sie unter dem Vorwand einer drohenden Gefahr zu zerstören. Dabei aber spielten sie sich nicht als Zerstörer, sondern als Retter der Gesellschaft auf. „Der paranoide Wortführer“, so Hofstadter in seinem Essay, „sieht das Schicksal der Verschwörung in apokalyptischen Begriffen – er handelt mit der Geburt und dem Tod ganzer Welten, ganzer politischer Ordnungen, ganzer Systeme menschlicher Werte. Er steht immer auf den Barrikaden der Zivilisation. Er lebt ständig in einer Wendezeit. Wie religiöse Millenaristen drückt er die Angst derjenigen aus, die die letzten Tage durchleben. Manchmal ist er geneigt, ein Datum für den Weltuntergang festzulegen.“ Doch „als Mitglied einer Avantgarde, das imstande ist, die Verschwörung zu erkennen, bevor sie einer noch schlummernden Öffentlichkeit bewusst wird, ist der Paranoide ein militanter Führer. Er sieht soziale Konflikte nicht als etwas, das man vermitteln und beilegen muss, wie es der Politiker tut. Da es immer um einen Konflikt zwischen dem absolut Guten und dem absolut Bösen geht, ist kein Kompromiss erforderlich, sondern der Wille, die Dinge bis zum Ende auszufechten. Da der Feind als durch und durch böse und als absolut unerbittlich gesehen wird, muss er vollständig vernichtet werden – wenn schon nicht in der ganzen Welt, so doch zumindest auf dem Kriegsschauplatz, auf den der Paranoide seine Aufmerksamkeit richtet.“ Die Forderung nach diesem unrealistischen Ziel aber verstärkt im Paranoiden sogar dann den Zorn, wenn er nur Teilerfolge in seinem Kampf vorweisen kann. „Dies verstärkt wiederum nur sein Bewusstsein für die gewaltige und furchterregende Natur des Feindes, dem er sich entgegenstellt.“
In dem historischen Exkurs spannte Hofstadter den Bogen von einer behaupteten Illuminaten-Verschwörung am Beginn des 19. Jahrhunderts über die vorgebliche, unterirdische Allmacht der katholischen Kirche, über den Ku-Klux-Klan bis hin zum McCarthyismus und der militant antikommunistischen John Birch Society. Der aktuelle Anlass war 1964 die Kampagne des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater gegen die Einführung der Bürgerrechtsgesetze. Diese sollten die rechtlichen Schranken für gesellschaftliche Teilhabe von Afroamerikanern im Süden der USA beseitigen. Zwar unterlag Goldwater bei der Präsidentenwahl dem demokratischen Amtsinhaber Lyndon B. Johnson, sorgte jedoch dafür, dass seitdem die amerikanischen Südstaaten, bislang eine Basis für den rechten Flügel der Demokratischen Partei, mehrheitlich dauerhaft ins Lager der Republikaner wechselten.
Hofstadter warnte hier besonders vor der Figur des Apostaten, des Renegaten, des Abtrünnigen. Ehemalige Freimaurer gaben den Takt der Verschwörungs-Kampagnen vor, „der Anti-Katholizismus bediente sich der entlaufenen Nonne und des abtrünnigen Priesters; die Rolle ehemaliger Kommunisten als Avantgarde antikommunistischer Bewegungen ist wohlbekannt.“ Der Abtrünnige ist, so Hofstadter, „der Mann oder die Frau, die im Arkanum gewesen ist und den endgültigen Beweis für Verdächtigungen erbringen, die sonst von einer skeptischen Welt angezweifelt worden wären.“ Doch bislang sei die politische Paranoia, so Hofstadter, so schlimmen Schaden sie angerichtet habe, nicht zum bestimmenden Merkmal amerikanischer Politik geworden.
Sechzig Jahre später gelang es dem propagandistisch ungemein geschickten, eiskalt kalkulierenden Donald Trump nicht nur, die widersprüchlichen Strömungen einer solchen politischen Paranoia zu bündeln, sondern sie aus dem Halbdunkel der Verschwörungs-Ideen zur politisch entscheidenden Kraft in den USA herauf zu beschwören. Der paranoide Stil wurde zum Kennzeichen einer Massenbewegung, die keineswegs nur Paranoide umfasst, die aber kollektive Wahnvorstellungen zunehmend als normal akzeptieren. Das Ergebnis war die erneute Wahl Trumps zum Präsidenten. Ob künftige Chronisten seine Bewegung („Make America Great Again“) mit ihren großkapitalistischen Förderern wie Elon Musk, Peter Thiel und Bill Ackman als faschistisch benennen werden oder nicht, ist noch offen. Fest steht aber, dass die Grundlagen der von ihren Gründervätern errichteten amerikanischen Ordnung, dass – mehr noch – die Prinzipien der Aufklärung und der bürgerlichen Rechtsgleichheit so bedroht sind wie noch nie seit dem Aufstieg des deutschen und europäischen Faschismus.
Der titelgebende Aufsatz ist auch nachzulesen unter https://harpers.org/archive/1964/11/the-paranoid-style-in-american-politics/.
Zum Weiterlesen dringend empfohlen: Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, Vintage Books, New York 2008, 330 Seiten, 18,25 Euro.