Im Spanienkrieg kämpfte 1936–1939 ein palästinensisches Bataillon zur Verteidigung der Republik gegen den Faschismus. Ihm gehörten jüdische und arabische Freiwillige an. Zur gleichen Zeit organisierte die von der britischen Kolonialmacht in die Illegalität gedrängte Kommunistische Partei Palästinas als damals einzige politische Kraft im Land Juden und Araber Seite an Seite. Nach dem Sechstagekrieg 1967 verloren sozialistische Professoren in Kairo und Damaskus nicht nur ihre Stellen, sondern auch ihre Heimat, als sie, um ihr Leben zu retten, ins Exil flüchten mussten. Sie hatten es gewagt, die Schuld für die militärische Niederlage vor allem in der abenteuerlichen Aggressionspolitik ihrer „eigenen“ Militärregimes zu suchen. Ist all das vergessen?
Daran und an andere Beispiele linker Solidarität zu erinnern, ist heute wichtiger denn je. Auf eindringliche Weise fordern diese Solidarität 60 israelische Intellektuelle angesichts des Überfalls der Hamas auf Israel in einem Aufruf ein, der am 12. Oktober in der israelischen Zeitung Haaretz erschien und auch in englischer Sprache verbreitet wurde. Zu den Unterzeichnern gehören Eva Illouz, Soziologin an der Hebräischen Universität Jerusalem, Yael Sternhell, Historikerin an der Universität Tel Aviv, ihr (jetzt emeritierter) Fakultätskollege Aviad Kleinberg, Alon-Lee Green, Direktor des jüdisch-arabischen Solidaritätszentrums „Standing Together“, und der ehemalige Knesset-Politiker (für die linke Meretz-Partei) Moissi Raz. „Mehr denn je“, beschwören sie die internationale Öffentlichkeit, benötigten sie „die Unterstützung und Solidarität der globalen Linken in Form eines unmissverständlichen Aufrufs gegen willkürliche Gewalt.“ Der Aufruf zeigt eine tiefe Enttäuschung über die „unzureichende Reaktion“ amerikanischer und europäischer Linksliberaler und Sozialisten angesichts des von der Hamas an israelischen Zivilisten verübten Massakers. Diese „Linken“ würden auf die falsche Seite der Geschichte geraten, sollten sie den Terror der Hamas als Teil eines kollektiven Widerstandes gegen den kapitalistischen Feind preisen. „Doch zu unserer Bestürzung“ heißt es, „haben einige Personen innerhalb der globalen Linken, die bisher unsere politischen Partner waren, mit Gleichgültigkeit auf diese schrecklichen Ereignisse reagiert und manchmal sogar die Aktionen der Hamas gerechtfertigt.“
„Einige weigern sich“, fährt der Aufruf fort, „die Gewalt zu verurteilen, und behaupten, Außenstehende hätten kein Recht, über die Taten der Unterdrückten zu urteilen. Andere haben das Leid und Trauma heruntergespielt und behauptet, die israelische Gesellschaft habe diese Tragödie selbst verursacht. Wieder andere haben sich durch historische Vergleiche und Rationalisierungen vor dem moralischen Schock geschützt. Und es gibt sogar diejenigen – nicht wenige –, für die der dunkelste Tag in der Geschichte unserer Gesellschaft ein Grund zum Feiern war.“ Viele der 60 unterzeichnenden Intellektuellen warnten jahrelang davor, dass die israelische Okkupationspolitik und der Ausbau der Siedlungen bei gewaltsamer Verdrängung der Palästinenser eine massive, terroristische Reaktion hervorrufen werde, die alles bisher Geschehene überbiete. So ist es gekommen.
Am gleichen Tag schrieben der Präsident und der Rektor der Hebräischen Universität Jerusalem, Asher Cohen und Tamir Sheafer, an ihre Kollegen von Harvard und Stanford. Im Brief an die Harvard-Präsidentin Claudine Gay wiesen sie auf eine Erklärung mehrerer Dutzend studentischer Organisationen an der Harvard-Universität hin, die den Überfall der Hamas als Akt des Widerstandes gegen ein kolonialistisches Regime rechtfertigte (manche der Unterzeichner ließen danach ihre Namen löschen). Die israelischen Hochschulleiter erinnerten auch daran, dass die Studentenorganisation „Stanford Students for Justice in Palestine“ das Massaker der Hamas als „Teil des andauernden, jahrzehntelangen Kampfes gegen die israelische Unterdrückung“ gefeiert und in der Zeitung Stanford Daily gepriesen hatte. Die Palästinenser hätten „das legitime Recht, sich der Besatzung, der Apartheid und systemischen Maßnahmen zu widersetzen“; zivile Opfer seien bedauerlich, doch seien auch diese ja Teil des Kolonialregimes. Die New York Times berichtete unter der Überschrift „The War Comes to Stanford“ am 13. Oktober, dass ein Stanford-Dozent vor der Klasse behauptete, die sechs Millionen Opfer des Holocaust seien gering im Vergleich mit den Opfern des Kolonialismus.
Anschließend, fuhr die Zeitung fort, „forderte er alle Schüler auf, anzugeben, woher sie kamen, und je nach Antwort teilte er ihnen mit, ob sie kolonisiert oder Kolonisatoren seien. Als ein Student sagte: aus Israel, nannte er ihn einen Kolonisator.“ Die Universitätsleitung reagierte darauf nur halbherzig, versicherte zwar, antisemitische Losungen und Hakenkreuze seien vom Campus entfernt worden, doch gelte für alle Studenten die Meinungsfreiheit. Dies geschah an einer Universität, die sich zu Recht für die anfangs ausgesprochen progressive Bewegung Black Lives Matter eingesetzt hatte, die jedoch ihrerseits in Teilen, wenn auch nicht als Ganzes, ebenfalls in ein antijüdisches Fahrwasser geraten ist. Doch sind Harvard und Stanford nur zwei aus einer wachsenden Zahl amerikanischer Universitäten, an denen sich jüdische Studenten heute teilweise so unsicher fühlen wie an einigen Hochschulen in der Weimarer Republik.
Es gibt natürlich auch Gegenbeispiele. Verschiedene Medien zitierten am 17. Oktober eine Erklärung der Präsidenten und anderer leitender Administratoren von 19 Universitäten, darunter der einst afroamerikanischen Dillard University in New Orleans ebenso wie der jüdischen Yeshiva University in New York. „Wir sind entsetzt und empört über die Brutalität und Unmenschlichkeit der Hamas“, heißt es. „Die Ermordung unschuldiger Zivilisten, darunter Babys und Kinder, die Vergewaltigung von Frauen und die Geiselnahme älterer Menschen sind keine Taten politischer Meinungsverschiedenheit, sondern Taten des Hasses und des Terrorismus.“ Die Grundlage aller Universitäten sei „das Streben nach Wahrheit, und gerade in Zeiten wie diesen ist moralische Klarheit erforderlich.“
Der wohl wichtigste Grund für all diese Irrungen ist eine versimpelte, nie in ihren komplexen Dimensionen durchdachte Imperialismus-Theorie, in der mit einem Schwarz-Weiß-Schema umstandslos wirtschaftliche Abhängigkeiten, politische Herrschafts- und kulturelle Hegemonial-Verhältnisse erklärt werden. Dieses Schema von Antiimperialismus und Antikolonialismus aber macht differenzierte Urteile über die Verhältnisse in Israel fast unmöglich und kann unter Verwendung der Figur „des kapitalistischen und privilegierten Juden“ bis zum Antisemitismus führen – nämlich dann, wenn der imperialistische Westen und besonders die USA mit ethnischen oder kulturell-identitären Begriffen beschrieben werden. Eine solche Haltung hat auch zum Bruch zwischen solchen Juden und Schwarzen geführt, die selbst oder deren Eltern in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zusammenstanden.
Ein weiterer Grund ist der nie aufgearbeitete Schuldkomplex mancher US-Intellektueller, die heute im Umkehrschluss für den einstigen und noch immer existierenden Rassismus gegen Afroamerikaner auf jede Kritik an „kolonisierten“ Akteuren, wozu Palästinenser zählen, verzichten – seien deren Positionen politisch noch so schädlich und moralisch noch so verwerflich. Dies erinnert an den gleichfalls unterdrückten, nur teilweise aufgearbeiteten Schuldkomplex vieler Deutscher, die jede Frage nach Klasseninteressen in Israel beschwiegen und keine Kritik an der israelischen Politik zuließen – nicht an der Enteignung arabischen Landes und nicht am Chauvinismus vieler Siedler mitsamt ihrer gewaltsamen Landnahme in der Westbank.
Wie geht es weiter mit der US-Linken? Die mit 94.000 Mitgliedern stärkste linke Organisation, die Democratic Socialists of America (DSA), hatte 2017 auf einem Landesparteitag (der national convention) eine Resolution verabschiedet, die zur Boykottpolitik aller Israelis, auch akademischer und politischer Linker, aufrief, sofern diese in irgendeiner Verbindung zum israelischen Staat stünden. Dies war der Sinn der Bewegung Boycott-Divestment-Sanctions (BDS), die sich einst als zivilgesellschaftliche Strömung verstehen wollte und nun politisch am Ende ist. Passenderweise wurde die DSA-Resolution an einem Sonnabend verabschiedet, als viele Juden wegen des Schabbats nicht an der Tagung teilnahmen. Jamaal Bowman, linker Kongressabgeordneter für die Demokratische Partei, hat die DSA kürzlich wegen dieser Irrwege verlassen – nach einer DSA-Kundgebung auf dem Times Square, bei dem das Ende des jüdischen Staates gefordert wurde. Laut einem Bericht der Zeitschrift Politico vom 11. Oktober könnte Alexandria Ocasio-Cortez, die wohl wichtigste linke Politikerin der jüngeren Generation, ihm folgen. Beide verstehen, dass unter den aktuellen Verhältnissen eine vorbehaltlose Solidarität mit dem überfallenen Israel nötig ist – die Kritik erst dann nicht ausspart, wenn die unmittelbare Gefahr eines Flächenbrandes hoffentlich vorerst abgewendet ist. Eine solche Solidarität gilt ebenso den Palästinensern, die unter dem Terror der Hamas und anderer islamistischer Gruppen leiden. Es bedarf, und nichts anderes ist die Botschaft des eingangs zitierten Briefes israelischer Linksintellektueller, eines Bruches mit jeder Art von Antisemitismus und selbstverständlich auch mit jeder Art eines antiarabischen Chauvinismus, um einer radikalen Linken wieder zur Glaubwürdigkeit zu verhelfen.
„Israel befindet sich in einem Alptraum“, schrieb der Friedensaktivist David Grossman, dessen Sohn Uri am 12. August 2006, dem letzten Tag des Libanonkrieges, fiel, als sein Panzer von einer Rakete getroffen wurde. Man dürfe nicht aufhören, die chauvinistische Politik der israelischen Rechten anzuprangern. Doch ungeachtet all dessen betonte Grossman am 12. Oktober in der Financial Times: „Der Schrecken der letzten Tage wurde nicht von Israel verursacht, sondern von der Hamas. Die Besatzung ist ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu erschießen – Kinder und Eltern, Alte und Kranke – das ist ein noch schlimmeres Verbrechen. Selbst in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangfolge. Es gibt eine Skala, die der gesunde Menschenverstand instinktiv erkennt. Und wenn man die Killing Fields des Musikfestivalgeländes sieht, wenn man sieht, wie Hamas-Terroristen auf Motorrädern junge Partygänger jagen, von denen einige noch tanzen, ohne zu wissen, was los ist…“ Die Hamas-Terroristen „haben ihre Menschlichkeit verloren“, so Grossman. Fast allen Linken in Israel – und nicht nur ihnen – ist heute klar, dass pragmatische Lösungen dringend nötig sind, ein dauerhaftes Zusammenleben mit den Verantwortlichen und den Drahtziehern des Terrors aber nicht möglich ist. Die Hamas steht in ihrer Substanz nicht nur für einen Vernichtungs-Antisemitismus, der allen Juden gilt. Sie ist auch bereit, dafür ihr eigenes Volk, die Palästinenser, auf die Schlachtbank zu treiben.
Die internationale Linke muss begreifen, dass die Oktober-Tragödie alte Slogans ungültig macht und eine neue Ausrichtung des politischen Kompasses verlangt.