Zu den wenigen ernstzunehmenden Halbsätzen, die derzeit aus der Kakophonie der Stimmen des gestürzten Giganten USA auszumachen sind, gehörte Außenminister Blinkens Beteuerung, der Fall von Kabul sei nicht mit dem Fall von Saigon 1975 vergleichbar. Er hat Recht, jedoch ganz anders als von ihm gemeint: Denn der Fall von Kabul ist nicht nur eine militärische Niederlage wie im Vietnamkrieg, sondern mag bald als der Punkt in die Geschichtsbücher eingehen, der das weltgeschichtliche Scheitern des amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells offenbarte. Das britische Empire, schrieb Eric Hobsbawm, war nie größer als nach dem Ersten Weltkrieg, „als es die Strategie einführte, in Regionen wie Kurdistan oder Afghanistan durch Bombenabwürfe für Ordnung zu sorgen“. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war das Empire verschwunden wie die Sowjetunion zwei Jahre nach dem erzwungenen Abzug aus Afghanistan. Die Konsequenzen des westlichen Desasters müssen sich erst zeigen, doch können sie in eine neue Weltenwende münden.
Wer sind die möglichen Gewinner dieser weltgeschichtlichen Wende? Dass der militante Islamismus in all seinen Formen und Schattierungen auf mittlere Sicht einen ungeheuren Aufschwung erleben wird, liegt auf der Hand. Doch ein Guerilla-Sieg wie in Afghanistan ist sicher nicht beliebig wiederholbar – möglicherweise aber im Irak. Die innerislamischen Widersprüche, genannt seien hier die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, die Rivalität der Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien, die Eigeninteressen der Türkei, der mittelasiatischen Staaten und Pakistans, sind so gravierend, dass eine eigenständige „Weltmacht Islam“, das Schreckbild radikaler Rechter in Europa und den USA, ein Phantasieprodukt bleiben wird, so sehr es eine propagandistische Wirkung entfalten dürfte. Verlierer aber sind in jedem Fall die Frauen – nicht nur in Afghanistan, sondern in der ganzen islamischen Welt.
Offenkundig ist die militärische und wirtschaftliche Supermacht USA nicht mehr in der Lage, den Gang der Weltpolitik zu bestimmen. Das amerikanische Jahrhundert ist zu Ende, und jede Schadenfreude darüber verbietet sich. Was wird an seine Stelle treten? Die USA waren immer beides: ein großes Freiheitsversprechen und eine imperialistische Macht, die den Freiheitsbegriff zur zynischen Rechtfertigung maßloser Unterdrückung nach innen wie ungezügelter Eroberungslust nach außen missbrauchte. Ob es innenpolitisch in Amerika zu einem Rückschlag und zur erneuten Machtübergabe an Donald Trump kommt, was in der Konsequenz auf die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie (bei ihrer möglichen Beibehaltung als Fassade) hinausläuft oder ob sich ein bedingt reformbereiter Block der herrschenden Klasse politisch durchsetzen wird, ist noch völlig offen. Letzteres ist nur möglich, wenn ein genügend starker Druck von unten politische Reformen erzwingt, die in ihrer Konsequenz die Macht des militärisch-industriellen Komplexes soweit beschneiden, dass Sozialreformen der kapitalistischen Profitwirtschaft endlich Zügel anlegen. Eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hin zu den Armen, Ausgebeuteten und Besitzlosen ist ebenso überfällig wie eine Kontrolle von Produktion und Verteilung als erste Voraussetzung einer ökologischen Wende der Wirtschaft. Denn alle Maßnahmen in dieser Richtung, so wichtig jede einzelne davon ist, sind letztlich immer dann gescheitert, wenn sie mit den kapitalistischen Profiinteressen in Widerspruch gerieten.
Ob die desolate Demokratische Partei imstande ist, zum Motor einer solchen Entwicklung zu werden, ist mehr als zweifelhaft. Doch innerhalb der Partei, unter den Democratic Socialists of America (DSA), unter Massenbewegungen wie Black Lives Matter, in Gewerkschaften und nicht zuletzt an den Hochschulen ist aber ein progressives Potenzial vorhanden, das es zu bündeln gilt – hier muss der Sprung gewagt und ein politisches Programm erarbeitet werden, dessen Kerngedanken sich in zwei Worten zusammenfassen lassen, wenngleich sie sich darin nicht erschöpfen. Diese Worte lauten: Demokratischer Sozialismus.
Nötig ist dazu eine konsequente Abkehr von der Identitätspolitik, die sich im Lobbyismus für immer kleinere und skurrilere Minderheiten erschöpft hat, ideologische Spaltungen zwischen Schwarzen und Weißen, Juden und Nichtjuden, Hetero- und Homosexuellen hervorgerufen haben, statt die Klassenfrage zu stellen.
Auch die vielgestaltige europäische Linke, und nur auf sie sei hier verwiesen, ist neu gefordert. Ihre nur allzu spürbare Schwäche zumal in Deutschland, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Beben der politischen Tektonik, das sich ankündigt, Hügel in Berge verwandeln, turmhohe Gebirge im Abgrund verschwinden lassen könnte.
Die Politik belohnt selten Verdienste der Vergangenheit. Dennoch sei daran erinnert, dass im Dezember 2001 die damalige PDS als einzige Fraktion im Bundestag gegen den Kriegseinsatz in Afghanistan stimmte, während sich die rot-grüne Regierung in nationalistischer Rhetorik nicht einmal von den Konservativen überbieten ließ (zwei Jahre später aber die Beteiligung am Irak-Krieg verweigerte). Die Forderung nach einer grundlegenden Umgestaltung der NATO zu einer friedenssichernden Macht ist das Gebot der Stunde. Ganz sicher (noch) nicht unter deutschen Sozialdemokraten und Grünen, doch in vielen anderen Ländern dürften solche Gedanken an Raum gewinnen. Dabei müssen die allzu berechtigten Ängste vieler Osteuropäer vor einem erneuten russischen Expansionsstreben in Rechnung gestellt werden. Denn Russland wird aus dem Scheitern der USA politisches Kapital zu schlagen suchen.
Der eigentliche Gewinner ist noch vor dem politischen Islam aber die Volksrepublik China als neue Supermacht. Nicht mehr die westliche Welt, mitsamt ihren demokratischen Werten von Parlamentarismus und Gewaltenteilung, sondern ein politisch und wirtschaftlich führendes China wird erster Akteur zumindest in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, zumal den USA ihre militärische Macht nicht mehr allzu viel nützen wird: Sie lässt sich nicht mehr genügend in politisches Kapital umwandeln. Welche politische Philosophie ein kapitalistisches China, geführt von einer Kommunistischen Partei, der Welt auferlegen wird – darüber lässt sich nur spekulieren. Doch sollte gerade eine demokratische Linke sehr wachsam gegenüber erneuten Bestrebungen sein, die mit marxistischem Vokabular eine autoritäre Ordnung rechtfertigen.
Eine solche Linke muss den Gralshütern des Kapitals die Werte der Aufklärung entreißen. Volkssouveränität, Rechtsgleichheit und der Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus sind Werte, die die Verteidiger des Status quo weder erfunden noch für sich gepachtet haben. Der Universalismus der Aufklärung muss sich im Handeln mit dem Internationalismus verbinden, der am Beginn der Arbeiterbewegung stand. Dabei fällt linken Intellektuellen keineswegs nur eine Nebenrolle zu. Sie müssen die Kenntnis über diesen lebensnotwenigen Strang der Geschichte in Wort und Schrift, über alle ihnen zugänglichen Medien verbreiten. Hierzu gehört das Wissen über die ausgeschlagenen realen, nicht illusionären Alternativen zum Geschichtsverlauf, der im Faschismus und im Stalinismus mündete.
Reform oder Revolution, sind sie unvereinbare Gegensätze? Am Ende des 19. Jahrhunderts standen Rosa Luxemburg und Jean Jaurès in einer konfliktreichen Debatte über den Sinn des Eintritts von Sozialisten in bürgerliche Regierungen (anders als viele Linke denke ich, Jaurès hatte Recht, denn es ging den Sozialisten in der Regierung um die Bewahrung der Demokratie gegen eine mögliche antisemitische Militärdiktatur). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges standen beide in einer Großkundgebung in Brüssel in gemeinsamer Kampffront gegen die Kriegstreiber. Jaurès und Luxemburg wurden Opfer der Konterrevolution, aber ihr politischer Weitblick wie ihr persönlicher Mut sollten uns Beispiel sein und Hoffnung geben.
Denn das Prinzip Hoffnung ist selbst eine unschätzbare Ressource für politisches Handeln.