Boykott. Boykott?

Fast unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine brach eine Reihe deutscher Forschungseinrichtungen und Universitäten sämtliche Beziehungen zu ihren russischen Partnerinstitutionen ab. In Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) kündigten sie an, sämtliche Zusammenarbeit, was den Austausch von Wissenschaftspersonal und Studierenden betrifft, einzustellen. Die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, zu der die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Fraunhofer- und die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft, die Leopoldina und weitere Körperschaften gehören, unterstützte dies in einer Erklärung. DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee erklärte, dies sei Teil einer „Gesamtstrategie der Bundesregierung und der Europäischen Union zur Isolierung Russlands“.

Im Zeichen einer proklamierten Solidarität mit der Ukraine wurde eine wachsende Zahl von Musikern und Opernstars, die dem russischen Präsidenten (vermutlich) nahestehen, aus westlichen Konzertsälen ausgeschlossen. Hollywoods Studios untersagten die Verbreitung ihrer neuen Filme in Russland. Das Amsterdamer Eremitage-Museum beendete seine 30-jährige Partnerschaft mit der Eremitage in St. Petersburg und schloss die Ausstellung „Russische Avantgarde. Revolution in den Künsten“.

Der Wladimir Putin lange nahestehende Waleri Gergijew, der sich nicht vom russischen Angriff auf die Ukraine distanzierte, wurde als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker entlassen und verlor auch weitere Engagements. Die Sopranistin Anna Netrebko, die in der Vergangenheit gleichfalls durch ihre Nähe zu Putin aufgefallen war, wollte sich weder für noch gegen die Aggression aussprechen. Auch ihr wurde von der Bayerischen Staatsoper gekündigt. Das Royal Opera House in London sagte einen Gastauftritt des Dirigenten Pawel Sorokin ab. In Cardiff wurde eine Aufführung mit Tschaikowski-Stücken gestrichen, in Mailand konnte eine Lehrveranstaltung zu Dostojewski erst nach großen Problemen stattfinden.

Auch der Sport wurde in Mitleidenschaft gezogen. Der Ausschluss Russlands aus den meisten Sportverbänden ging einher mit der Nichtzulassung einzelner Sportler zu den verschiedensten Wettbewerben: So verlor der Formel-1-Rennfahrer Nikita Masepin wegen der Putin-Nähe seines Vaters (!) seinen Startplatz. Andere, so der Eishockey-Spieler Alexander Owetschkin, blieben allerdings in ihren Teams (die Wettbewerbsfähigkeit der Washington Capitals wäre ohne ihn schwerlich garantiert). Auch der russische Behindertensport verlor sein Startrecht bei den jüngsten Paralympics.

Von Russen, die im öffentlichen Leben westlicher Staaten eine Rolle spielen, wird Haltung eingefordert. Wer sich nicht deutlich von Putins Angriffskrieg distanziert, verfällt dem Boykott. Doch trifft dieser nicht auch die Falschen? Der Bayreuther Sportwissenschaftler Markus Kurscheidt sagte laut dem Nachrichtenkanal des Bayerischen Rundfunks, Spitzensportler dürften sich Fragen nach dem Krieg nicht entziehen. „Bei jedem Verband, in jedem kleinen Sportverein steht in der Satzung etwas über gesellschaftliche Verantwortung – angesichts des russischen Angriffs einfach nichts zu sagen, das ist nur schwer in der Öffentlichkeit zu vertreten.“

Der Theologe Peter Dabrock von der Universität Erlangen und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, stimmte dem grundsätzlich zu: „Umso bekannter eine Person ist, umso mehr sie in der Öffentlichkeit steht und von der Öffentlichkeit gelebt hat, umso mehr darf man von ihr eine Antwort erwarten auf die Frage: ,Wie hältst Du es mit Putin und seinem Krieg?’“ Er wies jedoch auf Unterschiede hin: „Ein russischer Tänzer in der fünften Reihe, der darf sich eher zurückhalten als eine Anna Netrebko, die eine öffentliche Person ist und die politische Nähe zu Putin gesucht hat.“

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sprach sich indes deutlich gegen Gesinnungsprüfungen aus: „Wir sollten nicht das russische Volk in die Verantwortung ziehen, auch nicht Künstlerinnen und Künstler, am allerwenigsten die große historische Tradition russischer Schriftsteller und Komponisten. Das hat in den USA in der McCarthy-Ära zu katastrophalen kulturellen Folgen geführt. Eine ganze Generation von kritischen Intellektuellen wurde unter Generalverdacht gestellt, Sympathie für die damalige kommunistische Sowjetunion zu haben, was teilweise den Tatsachen entsprach. Wir sollten damit erst gar nicht anfangen. Wir laden Künstlerinnen und Künstler wegen ihrer besonderen Leistungen und nicht als Repräsentanten ihres Staates ein.“

Man darf in der Tat fragen, welchen Sinn es ergibt, russische Kunstschaffende, Gelehrte und Studierende für eine Regierungspolitik zu bestrafen, die wahrscheinlich der überwiegende Teil von ihnen ablehnt. Solche Boykottmaßnahmen verschaffen dem Spießer Genugtuung, der endlich einmal seinen antirussischen Ressentiments freien Lauf lassen kann und sich dabei auf der Seite des Guten wähnt. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte, und mit aller Deutlichkeit in das Jahr 1914, was es bringt, Kunst und Wissenschaft in den Dienst der Außen- und Kriegspolitik zu stellen.

Am 3. November 1914, drei Monate nach Kriegsbeginn, warnte Hermann Hesse unter der Überschrift „O Freunde, nicht diese Töne“ in der Neuen Zürcher Zeitung vor „einer unheilvollen Verwirrung des Denkens“ und fuhr fort: „Wir hören von Aufhebung der deutschen Patente in Russland, von einem Boykott deutscher Musik in Frankreich, von einem ebensolchen Boykott gegen geistige Werke feindlicher Völker in Deutschland. Es sollen in sehr vielen deutschen Blättern künftig Werke von Engländern, Franzosen, Russen, Japanern nicht mehr übersetzt, nicht mehr anerkannt, nicht mehr kritisiert werden. Das ist kein Gerücht, sondern Tatsache und schon in die Praxis getreten […] Gewinnt Deutschland etwas, wenn es keine englischen und französischen Bücher mehr liest? Wird irgend etwas in der Welt besser, gesünder, richtiger, wenn ein französischer Schriftsteller den Feind mit gemeinen Schimpfworten bewirft und das Heer zu tierischer Wut aufzustacheln sucht?“

Im Zeichen der Völkerverbindung stand am 8. März ein Solidaritätskonzert von Mitgliedern der Münchner Philharmoniker, des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und des Bayerischen Staatsorchesters. Unter Leitung des israelischen Dirigenten Lahav Shani standen die Symphonie Nr. 5 C-Moll sowie das Konzert für Violine und Orchester D-Dur von Ludwig van Beethoven auf dem Programm. Die Solisten waren Anne-Sophie Mutter und für eine Zugabe, das Andante aus Mozarts „Sinfonia concertante“, der junge russische Bratschist Wladimir Babeshko. Ihm waren die Emotionen bei der ausgezeichneten Darbietung deutlich anzusehen. Sämtliche Beteiligte verzichteten auf ihr Honorar, das sie der Organisation Save the Children spendeten.

Babeshkos Auftritt in einem Konzert, dessen Veranstalter dies als Zeichen des Protestes gegen Putin begriffen, ist ein Akt hohen Mutes. Dies gilt noch mehr für in Russland lebende Künstler wie den Rockmusiker Boris Grebenshikow oder die Mitglieder der bereits mehrmals verfolgten und inhaftierten Band Pussy Riot, die gegen den Krieg protestierten. Gerade sie und die Produkte ihres künstlerischen Schaffens verdienen Unterstützung. Aber sollten wir nicht auch die – wohl wenigen – freiwilligen Apologeten Putins trennen von denen, deren Schweigen oder manchmal auch deren Zustimmung erzwungen ist? Sollten wir über Letztere wirklich einen Boykott verhängen, haben wir das moralische Recht dazu?

Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936, über deren möglichen Boykott es im Vorfeld breite Diskussionen gab, standen auf dem Siegerpodium der besten Florettfechterinnen drei Jüdinnen. Die Deutsche Helene Mayer, als „Alibi-Jüdin“ (nach den Nazi-Gesetzen eine „Halbjüdin“) in die deutsche Olympiavertretung aufgenommen, hob – dies war für alle deutsche Medaillengewinner Vorschrift – bei der Siegerehrung den rechten Arm zum Hitlergruß. „Wie konntest du diese Banditen ehren?“, rief ihr die Olympiasiegerin, die Ungarin Ilona Elek, danach aufgebracht zu. „Du hast keine Verwandten in Deutschland, aber ich“, erwiderte Helene Mayer.

Es lohnt, an solche Dinge zu erinnern, bevor man aus der eigenen komfortablen Lage heraus die Russinnen und Russen zum Boykottaufruf drängt. Es gibt ehrlichere und wirksamere Mittel, um die Antikriegsbewegung zu stärken.