Grenzwertig

Hefteditorial iz3w 404 (September/Oktober 2024)

Wir können es nicht lassen: Einmal wieder schauen wir an die EU-Außengrenzen und die damit verbundene Migrationspolitik der EU. Bei der ganzen Polemik gegen Geflüchtete fällt es immer schwerer, die demokratischen und rechtsextremen Positionen auseinanderzuhalten. Hierzulande lässt Abschiebekanzler Scholz es ahnen: Rechte Asylpolitik machen auch die Parteien der sogenannten Mitte. Anfang Juli kündigt eine unscheinbare Meldung aus Polen an, wie Rechtsaußenpositionen in das ganz normale Behördenhandeln Einzug halten.

Das polnische Abgeordnetenhaus Sejm hat mit überwältigender Mehrheit einem Gesetzentwurf zugestimmt, der den Gebrauch von Schusswaffen für die Grenzpolizei vereinfacht. Es gehe darum, ‚gewaltsame Versuche‘ eines Grenzübertretens von Geflüchteten aus Belarus zu verhindern. Das neue Gesetz kann ein straffreies Terrain für den auch unsachgemäßen Gebrauch der Schusswaffe eröffnen – wenn es nur gegen Geflüchtete geht. Wohlgemerkt stammt der Gesetzentwurf nicht aus den Reihen der vergangenen rechten PiS-Regierung, sondern von der linksliberalen Nachfolgeregierung. Sie stellt den polnischen Grenztruppen einen Freifahrtschein für den tödlichen Schusswaffengebrauch gegen Geflüchtete aus. 

Die neu gewählte Regierung unter Präsident Donald Tusk verfolgt insgesamt eine protektionistische Migrationspolitik, die sich kaum von jener der rechten Vorgängerregierung unterscheidet. Ministerpräsident Tusk fährt einen harten Kurs gegenüber der sogenannten ‚irregulären Migration‘, wie das Streben nach Schutz und Asyl verunglimpft wird. Eigentlich haben Geflüchtete ein Recht auf Schutz, auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren und auf ihr Leben. Das scheint in der augenblicklichen Panikmache um eine angebliche Überwältigung durch Migration (wie schon einmal 2015) und der Angst vor Russland und dessen Partner Belarus zweitrangig zu sein. 

Geflüchtete werden tatsächlich seit Jahren von Belarus, dem verlängerten Arm Putins, in Richtung Polen gedrängt, welches die schutzsuchenden Menschen als Bedrohung sieht. Tusk will nun die 44 Kilometer lange Sperrzone zu Belarus weiter mit Wasserwerfern, mehr Soldat*innen und Überwachungsausrüstung ausbauen. Ärzte ohne Grenzen und weitere Menschenrechtsorganisationen berichten, dass sie nur teilweise oder gar keinen Zugang zu der Sperrzone erhalten. Eine humanitäre Versorgung und Unterstützung der Menschen wird so unmöglich gemacht. 

Journalist*innen, Jurist*innen und Menschenrechtsorganisationen wie die »Vereinigung für juristische Intervention« aus Polen sind sehr besorgt. Der Menschenrechtskommissar der EU, Michael O’Flaherty, schrieb Tusk sogar einen Brief, in dem er die Missachtung von EU-Recht bei der polnischen Pushback-Praxis kritisierte und vor der Verabschiedung dieses Gesetzes warnte: Allein von Dezember 2023 bis Juni 2024 wurden 7.300 illegale Pushbacks von Geflüchteten an der Grenze zu Belarus erfasst. Aber Menschenrechte scheinen in der Festung Europa nur der eigenen Bevölkerung vorbehalten zu sein (wenn’s gut läuft).

Die neue ‚Lizenz zum Töten‘ an der Grenze sendet ein unmissverständliches Signal. Die nationale ‚Verteidigung‘ wiegt schwerer als die Menschenrechte. Dies spielt den Rechten in ganz Europa in die Hände, welche diesen neu brutalisierten Umgang, zuerst mal mit Geflüchteten, gerne als Standard sähen. 

Diese Normalisierung von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit ist allgegenwärtig. Im ersten Artikel dieses Heftes blicken wir auf die entgegengesetzte Außenseite der EU. Anfang Juni wurde ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Border Forensics veröffentlicht, welcher das Massaker von Melilla gegen Geflüchtete an der spanisch-marokkanischen Grenze aufarbeitet. 

Vor dem Hintergrund dieser tödlichen Grenzgewalt ist es eine Schande, dass eine demokratische Regierung in Polen für eine weitere Eskalation an der ohnehin von Gewalt geprägten Grenze zu Belarus sorgt. Die Unterstützung der Bevölkerung hat die Regierung, wie Umfragen zeigen. 67 Prozent der polnischen Bevölkerung halten illegale Pushbacks für gerechtfertigt und 86 Prozent unterstützen das verabschiedete Gesetz zum Schusswaffengebrauch. 

Trotz alledem bietet das Thema Migration einen guten Anknüpfungspunkt an das Dossier dieses Heftes: Die Migrationsgesellschaft ist zugleich Utopie, wie auch bitter verteidigte Realität. Angesichts der Migrationspolitik kann man negativ sagen, dass das Dossier über die Utopien zum richtigen Zeitpunkt kommt. Weil man sie bitter nötig hat.

die redaktion

 

PS: Schweren Herzens verabschieden wir uns von unserer langjährigen Redakteurin Larissa Schober sowie von Redakteur Nikolas Grimm. Doch jedes Ende ist es auch ein neuer Anfang: Wir begrüßen Kathi King, Anni Eble und Maus Taute in der neuen Redaktion des iz3w!