Dossier-Editorial "Genozide" (iz3w 403, Juli/August 2024)
Vom 7. April bis Mitte Juli 1994 ermordete die ruandische Hutu-Mehrheit drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit. Zwischen 500.000 und einer Million Menschen wurden getötet. 100 Tage wurde nicht interveniert – obwohl die Welt zuschaute. Beendet wurde das Morden erst mit dem Sieg der Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF), in der Tutsi aus Ruanda und anderen Ländern kämpften. Die internationale Gemeinschaft dagegen hatte komplett versagt.
Zeichnungen aus »Déogratias« bebildern unser Dossier. Auf dieser Heftseite sehen wir Déogratias und Bénigne. Sie sind verliebte Teenager, er ein Hutu und sie eine Tutsi. Einmal auseinandersortiert, geraten sie in die Maschinerie der Massaker. Déogratias wird an der Ermordung Bénignes beteiligt sein. Das Land versinkt in der Barbarei, Déogratias zerbricht an seinem inneren Konflikt als Mittäter. Die Graphic Novel zeigt, wie die Feindschaft zwischen den Ethnien erzeugt wird und welche Rolle dabei die Kolonisierung, die internationale Gemeinschaft, die katholische Kirche und Frankreich spielten. Damit wird nichts entschuldigt. Es ist zu sehen, wie in ruandischen Schulen oder über das Radio Spaltung und Hass erzeugt werden. Und: Kein Völkermord ohne Völkermörder. Rassistische Fanatiker mobilisieren für die »Hutu-Power« zum Morden und die normale Bevölkerung läuft und mordet mit. Déogratias ist ein Teil davon.
Der Genozid in Ruanda ist dieses Jahr 30 Jahre her, ebenso das Massaker von Srebrenica. Der deutsche Völkermord im heutigen Namibia geschah vor 120 Jahren. Diese Jahrestage sind wieder Anlass zum Gedenken. Und auch im aktuellen Diskurs hat der Begriff Konjunktur. Doch was macht einen Genozid aus? Wer beschließt, ob es sich um einen solchen handelt? Am Ende des Dossiers zeigt sich die Grauzone um den Begriff des Genozids in einer editorischen Besonderheit. An den Artikel von Reinhart Kößler im Heftteil »Genozide« über ‚Deutsch-Südwestafrika‘/Namibia schließt sich der Artikel von Henriette Seydel über ‚Deutsch-Ostafrika‘/Tansania im Heftteil »Kultur und Debatte« an. Beide Artikel haben wir schon bei der Anfrage zusammengedacht, weil sie nicht nur aufgrund der Klammer des Deutschen Kolonialismus zusammengehören. Warum wird das Morden an den Herero und Nama in Namibia als Genozid anerkannt, die vergleichbare Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in Tansania aber nicht? Die Trennungslinie zwischen den zwei Heftteilen entspricht hier inhaltlich einer Grauzone. Entsprechend thematisieren die Artikel die Problematik der offiziellen Genoziddefinition.
Kurz vor Redaktionsschluss werden in der Stadt El Fasher im Nordsudan etwa 1,8 Millionen Sudanes*innen von Milizen belagert. Darunter sind die Rapid Support Forces (RSF), deren Vorläufer vor 20 Jahren Massaker in Darfur begingen, die teilweise als Genozid bezeichnet wurden. Exakt davor wird jetzt wieder gewarnt. Die Zeit zur Prävention, das »Nie wieder«, ist jetzt. Im Dossier problematisieren wir die Politisierung im Sinne der Instrumentalisierung des Genozid-Begriffs. Das ist eine Gratwanderung. Denn zur Prävention von Genoziden braucht es die Antizipation dessen, was kommt. Das heißt: die Eskalation von aktuellen Konflikten zu bewerten und gegebenenfalls auch von außen zu intervenieren. »Déogratias« gibt uns etwas dafür an die Hand, um solche Prozesse zu erkennen.
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