Der Begriff des Genozids ist unverzichtbar und unvollkommen
Schon der internationale Streit um den neuen weltweiten Gedenktag für die Opfer des Genozids in Srebrenica zeigt, wie umstritten die Definition von Völkermord ist. Was hat es mit dem völkerrechtlichen Straftatbestand auf sich?
„Wir sind keine genozidale Nation“ – diese Botschaft war Mitte Mai 2024 als rotierender Neoschriftzug am höchsten Gebäude der Belgrader Uferpromenade zu sehen. Aleksandar Vulin, stellvertretender serbischer Ministerpräsident, äußerte sich gegenüber dem Internetportal telegraf ähnlich und warf Ruanda und Deutschland vor, „Serben zu einer völkermordenden Nation erklären zu wollen“. In Bosnien wiederum drohte Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, damit, dass sich der bosnisch-serbisch geprägte Landesteil aus „dem Entscheidungsprozess in Bosnien zurückziehen“ würde, was einer Abspaltung gleichkäme. Was war passiert?
Ein politischer Kampfbegriff …
Ruanda und Deutschland hatten eine Resolution über einen weltweiten Gedenktag für die Opfer des Genozids in Srebrenica am 11. Juli, dem International Day of Reflection and Remembrance of the 1995 Srebrenica Genocide in die UN-Vollversammlung eingebracht. Neben dem Gedenktag fordert die Resolution die Einbeziehung gerichtlich festgestellter Tatsachen über diesen Genozid in Bildungsprogramme. Serbien oder auch ‚die Serben‘ werden in der Resolution überhaupt nicht erwähnt. Das hielt die serbische Regierung nicht davon ab, eine massive Kampagne gegen die Resolution zu fahren. Denn auch fast dreißig Jahre nach dem Genozid wird Selbiger in Serbien (und nicht nur dort) immer noch nicht anerkannt. Dass tausende Bosniak*innen in Srebrenica ermordet wurden, wird zwar nicht bestritten. Sehr wohl aber, dass es sich dabei um einen Genozid gehandelt habe. Die offizielle Sprachregelung in Serbien ist 'Massaker'.
Dabei wurde das Massaker von Srebrenica, bei dem während des Bosnienkrieges im Juli 1995 über 8.300 Bosniak*innen von Truppen der Republika Srpska ermordet wurden, vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als Genozid eingestuft. Mehrere Verantwortliche, unter anderem General Ratko Mladić, wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Genozid, verurteilt.
Das scheint die serbische Regierung jedoch nicht sonderlich zu interessieren. Die Resolution wurde am 23. Mai auf der UN-Vollversammlung schließlich angenommen. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, der zuvor eine flammende Rede gegen die Resolution gehalten hatte, saß demonstrativ in eine serbische Flagge gehüllt in der Versammlung und erklärte die Abstimmung im Anschluss zu einem Sieg des gesamten serbischen Volkes.
Zu dieser skurrilen Aussage kam Vučić, indem er die 68 Enthaltungen den 19 Nein-Stimmen hinzurechnete. Tatsächlich werden Gedenktage in den UN-Vollversammlung häufig einstimmig beschlossen – eine Vorgabe dazu gibt es allerdings nicht. Dass letztlich nur 84 Mitglieder für die Einrichtung gestimmt haben, zeigt neben den veränderten geopolitischen Verhältnissen vor allem eins: wie umkämpft der Begriff des Genozids noch immer ist. Selbst bei relativ eindeutiger Rechtslage, wie im Fall von Srebrenica. Von den aktuellen Genozid-Vorwürfen sowohl gegen die Hamas als auch gegen Israel ganz zu schweigen. In den letzten Jahren wurde der Begriff mehr und mehr zum politischen Kampfbegriff. Genozid erscheint dabei als das Verbrechen gegen die Menschheit („Menschlichkeit“ – wie häufig verwendet – ist eine fragwürdige Übersetzung bei crimes against humanity) schlechthin: Das Delikt Genozid ist moralisch und emotional aufgeladen und wird immer wieder unsauber bis irreführend benutzt.
… eine UN-Konvention …
Doch worüber reden wir dann eigentlich, wenn wir von Genozid sprechen? Der Begriff Genozid wurde in den 1940er-Jahren von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt. Er ist ein Neologismus mit griechischen und lateinischen Wurzeln. Das griechische „genos“ bedeutet Stamm oder Rasse, das lateinische „caedere“ bedeutet vernichten. Lemkin war vor den Nazis erst nach Schweden und dann in die USA geflohen – ein Großteil seiner Familie wurde während der Shoa in Europa ermordet. Er entwickelte den Begriff Genozid unter dem Eindruck der Shoa, aber auch des Genozids an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich und setze sich vehement für die Anerkennung vom Genozid als Straftatbestand im internationalen Recht ein.
1948 wurde der Begriff durch die UN-Konvention über Genozid tatsächlich in das internationale Recht aufgenommen. Es war die erste Konvention überhaupt, die von der UN verabschiedet wurde. Viele ihrer Formulierungen beruhen auf Ideen Lemkins, der an Entwürfen für die Konvention beteiligt war. Mittlerweile haben 153 Staaten weltweit die Konvention ratifiziert. Sie definiert Genozid „als Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine ethnische, rassische, religiöse oder nationale Gruppe entweder teilweise oder als Ganzes zu zerstören“. Diese Handlungen können sein: die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe, die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen, Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe oder die gewaltsame Verbringung von Kindern aus der Gruppe. Diese Handlungen sowie der Versuch, sie zu begehen, sind strafbar.
Schaut man sich die Konvention an, wird ein erstes Missverständnis deutlich. Gemeinhin wird mit Genozid vor allem eines assoziiert: sehr viele Tote. Dabei kann nach dieser Definition ein Genozid stattfinden, ohne dass eine einzige Person stirbt – drei der fünf Handlungen, die unter den Straftatbestand des Genozid fallen, beinhalten nicht zwangsläufig Tötungen. Schon Lemkin wies darauf hin, dass Genozid nicht zwangsläufig die Vernichtung einer Gruppe meinen muss. Umgekehrt gibt es viele massenhafte Tötungen, die nicht als Genozid klassifiziert werden können – etwa die Ermordung von circa zwei Millionen Menschen während dem Terrorregime der Roten Khmer in Kambodscha 1975 bis 1979.
… und ein rechtlicher Straftatbestand in Einem
Das Auseinanderdividieren von Genozid und anderen Massakern hat mehrere Gründe. Der zentrale Punkt bei der Definition und der Verfolgung von Genoziden ist die Intention. Menschen müssen als Angehörige einer der oben definierten Gruppen Ziel von Verfolgung werden – auch und gerade aus Sicht der Täter*innen. Diese Intention nachzuweisen, kann jedoch extrem voraussetzungsvoll sein. So ist es naheliegend, dass viele Kolonialverbrechen den Tatbestand des Genozids erfüllen – oft fehlt aber der Nachweis der Intention. Eine Ausnahme bildet der Genozid an den Herero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen im heutigen Namibia (Seite 39): Mit dem Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha gibt es einen eindeutigen Nachweis der Intention.
Das bedeutet nicht, dass andere Kolonialverbrechen nicht das Ziel hatten, die lokale Bevölkerung auszulöschen, sondern nur, dass diese Intention nicht nachgewiesen werden kann – manchmal vielleicht auch, weil nicht nach Beweisen gesucht wird. In einigen Fällen mag die Intention tatsächlich fehlen. Und auch im Fall der Roten Khmer stellt sich bei einem Teil der Todesopfer die Frage der Intention: Viele Khmer starben schlicht an Hunger, da die Erschütterung des Agrarsektors die Ernten einbrechen ließ. Trotzdem sind intentionale Massaker nicht von der Hand zu weisen, auch, wenn sie vor allem die ‚eigene‘ Bevölkerungsgruppe trafen. Über zwei Millionen Staatsbürger*innen wurden auf den Killing Fields ermordet. Das internationale Rote-Khmer-Tribunal verurteilte führende Rote Khmer wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Aber ein zweiter Punkt in der völkerrechtlichen Definition von Genozid, der bei der Bewertung der Tötungen durch die Roten Khmer zentral ist, ist die Tatsache, dass politische Gruppen in der Genozid-Definition der UN fehlen. Diese große Schwachstelle der Definition hat mit den politischen Kräfteverhältnissen zur Zeit der Verabschiedung der UN-Konvention zu tun. Die Aufnahme von politischen Gruppen in die Definition scheiterte damals am Widerstand der Sowjetunion, die fürchtete, ansonsten für den politischen Massenmord unter anderem während des Großen Terrors belangt werden zu können.
Ein Massenmord ist kein Völkermord
Deshalb gilt die Ermordung von 8.000 Bosniak*innen in Srebrenica als Genozid, die Ermordung von etwa 500.000 Kommunist*innen in Indonesien jedoch nicht. Auch die kambodschanische Rote Khmer verfolgte die meisten Todesopfer nicht, weil sie Teil einer „ethnischen, rassischen, religiösen oder nationalen Gruppe“ waren, sondern aufgrund ihr Klassenzugehörigkeit oder Gegnerschaft zum Regime. Sie verfolgte besonders Besitzende, Intellektuelle und angebliche Staatsfeind*innen. Einzig die Ermordung der vietnamesischen Minderheit sowie der muslimischen Cham Minderheit erfüllt den Tatbestand des Genozids, für den ranghohe Khmer auch so begründet verurteilt wurden. Dennoch erscheint es auch vielen Genozid-Forscher*innen unlogisch, das Morden der Roten Khmer nicht als Genozid zu bezeichnen. Ein Berichterstatter der UN behalf sich damals mit dem Begriff auto-genocide, da Täter*innen und Verfolgte derselben ethnischen Gruppe angehörten.
Um diese manchmal schwierige rechtliche Definition geht es aber selten, wenn, wie aktuell in Bezug auf Gaza, von Genozid gesprochen wird. Dabei ist Genozid genau das: Ein Begriff des internationalen Rechts. Dadurch ist er notwendig abstrakt. Er ist darauf ausgelegt, die Verfolgung von Verbrechen zu ermöglichen, also die Täter*innen zu bestrafen. Es gibt berechtigte Kritik an der Genozid-Definition der UN-Konvention, zum Beispiel, dass sie die Verfolgung politischer Gruppen nicht abgedeckt. Den Genozid-Begriff deshalb losgelöst von der Definition zu verwenden, ist jedoch eine schlechte Lösung. Man landet dann allzu schnell beim populistischen Politikstil à la Aleksandar Vučić. Der Begriff ist dann nur noch ein politischer Kampfbegriff, der zur Delegitimierung des Gegners oder zur Aufwertung der eigenen Position verwendet wird. Es geht dabei selten darum, konkrete Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen.
Die inflationäre Verwendung des Begriffes Genozid ist auch aus anderen Gründen ein Problem: Einerseits verwässert sie den Begriff, wenn jedwede Tötungen ohne rechtlichen Rückbezug als Genozid bezeichnet werden. Diese Beliebigkeit begünstigt die Leugnung von tatsächlichen Genoziden, wie im Fall der serbischen Kampagne gegen den Gedenktag für Srebrenica. Gleichzeitig ist die Begriffsverwendung Teil eines perfiden Aufmerksamkeitswettbewerbs. Durch die ständige Verwendung des Begriffs jenseits seines rechtlichen Rahmens treten andere Verbrechen, wie etwa ein Angriffskrieg, in den Hintergrund. Überspitzt gesagt: Damit sich die Öffentlichkeit empört, ‚reicht‘ es nicht, dass Menschen sterben – es muss schon ein Genozid sein (auch dann ist die Aufmerksamkeit unterschiedlich verteilt). Warum ist das so? Der Historiker Robert Cribb schreibt dazu im Oxford Handbook of Genocide Studies: „Wir sind besonders empört, wenn Menschen für das bestraft werden, was sie sind, und nicht für das, was sie getan haben.“ Diese Empörung ist berechtigt, aus ihr heraus ist der Straftatbestand des Genozids überhaupt entstanden. Cribb problematisiert aber auch die dabei mitschwingende Unterscheidung zwischen einer als ‚ursprünglich‘ verstandenen Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe und einer ‚angenommenen‘ politischen Idee. Die Empörung werde kleiner, wenn Menschen aus politischen Gründen verfolgt werden – weil das Politische als Wahl begriffen wird. Aber sollte massenhaftes Sterben nicht immer Empörung und Handeln hervorrufen? Ist ein Tod weniger schrecklich, wenn jemand ermordet wird, weil sie Kommunistin ist (oder als solche gesehen wird)? Oder einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war?
Der Inhalt des Genozid-Begriffs
Damit kommen wir zum Kern des Genozid-Begriffs: Es geht dabei um den Angriff auf Gruppen, nicht auf Individuen. Das stellt eine Ausnahme im humanitären Völkerrecht dar, welches sich sonst auf Individuen bezieht. Solange man den Begriff als einen rechtlichen verwendet, ist das kein Problem. Für eine politische Verwendung stellen sich aber analytische Fragen, die mit der dahinterliegenden Vorstellung von Gruppenzugehörigkeit zu tun haben. Wenn Genozid als das verwerflichste aller Verbrechen verstanden wird, sind dann andere Verbrechen gegen die Menschheit weniger drastisch, weil damit nicht eine Gruppe zerstört werden soll? Hinter einer solchen Vorstellung steht schlussendlich die Annahme, dass Nationen und Nationalitäten einen Wert an sich haben. Damit sind wir wieder bei Lemkin: Dieser beschäftigte sich viel mit Kultur, verstand diese dabei aber als national, unveränderbar und ein Wert an sich. In seiner Vorstellung konnte Kultur daher nur ausgelöscht oder assimiliert werden.
Seit Lemkins Zeit hat sich das Verständnis von Nation und Kultur gewandelt. Die kritische Nationalismusforschung der 1980er- und 1990er-Jahre hat die Vorstellung von Nation und Ethnie als überzeitliche, essentialistische Kategorien ad acta gelegt und gezeigt, wie diese Vorstellung auch Genozide begünstigt hat. Bei Debatten um Genozide kommt die alte Vorstellung jedoch wieder zurück. Einerseits natürlich auf Seiten der Täter*innen, denn der nationale Wahn ist mit Beginn des neuen Jahrtausends sicher nicht verschwunden. Dass Nationalist*innen Nationen essentialistisch begreifen, kann niemanden verwundern. Dass ein ungebrochener Bezug darauf etwa bei Linken wieder möglich ist, schon eher. Rassistisch wird es, wenn Genozide mit Rückgriff auf einen solchen Nationenbegriff ‚erklärt‘ werden. So geschehen in den 1990er-Jahren sowohl in Bezug auf die jugoslawischen Zerfallskriege als auch beim Genozid in Ruanda, wenn die Rede von ‚uraltem ethnischem Hass‘ ist, der sich in den Morden angeblich Bahn gebrochen habe. Damit wird die politische Dimension der Konflikte geleugnet. So kann Genozid externalisiert werden – man schaut weit weg nach Osteuropa und Afrika auf deren ‚uralten Hass‘, anstatt etwa in die eigene Vergangenheit oder die von Siedlerkolonien wie den USA und Australien.
Dass Genozide nach internationalem Recht verfolgt werden können, ist unabdingbar. Wenn der Genozid-Begriff jedoch jenseits seines rechtlichen Rahmens verwendet wird, entstehen Schwierigkeiten. Als rechtlicher Begriff taugt er nicht zur Gesellschaftsanalyse, da er wenig über die Hintergründe der Verbrechen aussagt. Genozide sind niemals punktuelle Ereignisse, sondern immer die Ergebnisse von gesellschaftlichen Prozessen. Wenn es darum geht, zu verhindern, dass Menschen Opfer werden, muss es um das Verständnis dieser Prozesse gehen. Gewaltverbrechen als Genozide einzuordnen und zu verfolgen, kann Teil dieser Arbeit sein. Dafür darf der Begriff aber nicht zur Generierung von politischem oder moralischem Kapital verwendet werden. Denn das nimmt weder die Opfer von Genoziden noch von anderen Gewaltverbrechen ernst. Es ist das Gegenteil von dem, was mit dem Verweis auf einen Genozid erwirkt werden soll: Empathie.
Larissa Schober arbeitet im iz3w.