Die neue Wissenschaft

Die Wissenschaftsfreiheit ist zwar grundgesetzlich geschützt - nichtsdestotrotz aber seit jeher ein umkämpfter Begriff. Die Freiheit der Suche nach Erkenntnissen haben Menschen immer für sich in Anspruch genommen und stießen dabei an Grenzen: technologische, räumliche, rechtliche oder (macht)politische. Alex Demirovic erörtert die historische Genese von Begriff und Inhalt des gesellschaftlichen Verständnisses von Wissenschaftsfreiheit und betrachtet vor diesem Hintergrund die aktuellen Auseinandersetzungen.

Die Freiheit der Wissenschaft ist keine Frage ihres Schutzes durch das Grundgesetz. Die Freiheit der Forschung, des Wissen-Wollens, der beweglichen, offenen Suche nach neuen Einsichten, nach Erkenntnis, nach einem konkreten Wissen, die Möglichkeit des Nachdenkens, Diskutierens, Erörterns und der Weitergabe ihres Wissens haben Menschen immer wieder für sich in Anspruch genommen. Dabei stießen sie an die begrenzten materiellen Möglichkeiten, dass Instrumente nicht vorhanden waren und erst entwickelt werden mussten, Bücher nicht zugänglich waren, die Kommunikation mit anderen aus persönlichen, räumlichen, technischen, politischen Gründen nur eingeschränkt möglich war. Diejenigen, die neugierig waren und sind, gerieten schnell in einen Konflikt mit den geltenden Autoritäten der kirchlichen, feudalen, bürgerlichen Macht, ebenso aber stoßen sie an die Grenzen von Konventionen, auf Vorbehalte und Abwehr, ihr Wissen wird abgewertet, sie werden an Schulen, Hochschulen oder in Medien lächerlich gemacht, das, was sie dann herausfinden, gilt als schädlich, bedrohlich, es kränkt lieb gewordene Denkmuster, das neue Wissen wird beschwiegen, marginalisiert, über längere Zeit verdrängt. Irgendwann einmal gelangt vieles davon dann doch in die Gesellschaft, weil es objektiv gedacht wurde. Es wird anerkannt und bestimmt die weitere Neugierde und gesellschaftliche Diskussion. Aber eine Gewähr dafür gibt es nicht, vieles an vorhandenem Wissen geht verloren, noch mehr vermutlich, weil diejenigen, die es denken, nicht ermutigt werden. Dies kann mit Ungewissheit zu tun haben, denn es gibt eben kein Wissen über das noch nicht gewusste Wissen und zukünftiges Nicht-Wissen; es kann aber auch Ergebnis intellektueller Bequemlichkeit, von Ressourcenmangel oder von Herrschaft sein, die die Möglichkeiten von Neugierde und Wissen nicht nur begrenzt, sondern vor allem diese auch in bestimmte Bahnen lenkt und damit umfangreich die Ressourcen bindet.

Freiheit der Lehre und Treue zur Verfassung

Die Erfahrungen mit autoritärstaatlichen Entwicklungen, während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und dann vor allem mit dem Nationalsozialismus, also mit obrigkeitsstaatlichen, antidemokratischen Wissenschaftsbehörden, Hochschulleitungen und -gremien, die jungen Forscher_innen eine wissenschaftliche Karriere verbauen, ihnen Lehrbefugnisse verweigern oder entziehen oder schon etablierte Kolleg_innen meiden, sie diskreditieren, dazu beitragen, ihre bürgerliche Existenz zu vernichten oder sie gegebenenfalls auch physisch zu vernichten, waren offensichtlich Anlass und Grund, die Freiheit der Wissenschaft unter die Grundrechte der bundesdeutschen Verfassung aufzunehmen. Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit gewährleistet, hält in Absatz 3 fest: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei - das klingt einfach, aber so einfach ist das nicht. Faktisch ist die Freiheit eingeschränkt.

Zunächst einmal sind es nicht die Wissenschaft im Allgemeinen und die Forschung, sondern es ist die Lehre, die durch die grundrechtlich normierte Treue zur Verfassung eingeschränkt wird. Aber mit der Lehre werden ja Wissensbestände an die nächsten Generationen weitergegeben. Soweit dies durch Hochschulen geschieht, mobilisiert der Staat dafür erhebliche gesellschaftliche Ressourcen. Er nimmt damit auch das Recht in Anspruch, darüber zu entscheiden, welches Wissen - und damit: welche Forschungsfragen - weitergegeben wird. Der Staat legt fest, wie viele Hochschulen es gibt, welche Fächer an diesen Hochschulen eingerichtet werden und wie viele Hochschullehrer_innen auf einem Gebiet forschen und lehren können. Der Staat legt die Einrichtung von Studiengängen, die Semesterzahl und die Anerkennung von Abschlüssen fest. Die Zahl der akademischen Abschlüsse (also Promotionen und Habilitationen) wird vom Staat beeinflusst, ebenso durch Forschungsförderung die aktuellen Forschungsschwerpunkte. Damit werden auch die Nachwuchswissenschaftler_innen und ihre Interessensgebiete gelenkt. Die Kontinuität der Forschungsfragen wird demnach nur in geringem Maße durch die wissenschaftliche Diskussion und den offenen Horizont der Forschung selbst bestimmt, sondern durch eine politische und wirtschaftliche Vorentscheidung.

Man mag nun sagen, dass dies unproblematisch sei, weil der bundesdeutsche Staat demokratisch verfasst sei; und angesichts der immer wieder autoritären Orientierungen von Wissenschaftler_innen ist es sinnvoll, dass die gewählten Vertreter_innen des Volkes auch darauf Einfluss nehmen, in welche Richtung sich die Forschung und Lehre bewegen. Es hängt nun viel davon ab, wie die Normen der Verfassung interpretiert werden. Ist die Verfassung ordnungspolitisch offen? Darf es zu einer Demokratisierung der Demokratie kommen? Dürfen in Forschung und Lehre kommunistische und sozialistische Positionen vertreten werden? Die Verfassung ist durch eine offizielle Hintergrundphilosophie getragen, der zufolge sie vom Volk und von extremistischen Positionen bedroht sei. Dies bedeutet erstens, dass nach Artikel 20 zwar die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, dieses seine demokratischen Rechte nur in Wahlen und Abstimmungen wahrnehmen darf, ansonsten aber die Gewalt durch Legislative, Exekutive und Judikative ausgeübt wird. Das Volk wurde zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik nicht als reif für die Demokratie angesehen, es habe sich von charismatischen Führern von links und von rechts verführen lassen. Das Grundgesetz ist deswegen bis in einzelne Grundrechtsartikel hinein paternalistisch. Das gilt etwa für die Auffassung von Familie oder die Rolle von Gewerkschaften und Streiks. Erst in zahlreichen Auseinandersetzungen konnten demokratisierende Elemente zu Momenten der Verfassungswirklichkeit werden. Zweitens wird von staatlicher Seite offiziell mit der Extremismusideologie argumentiert. Sozialismus auf der einen, der Faschismus auf der anderen Seite berührten sich und seien sich einig darin, die Verfassung zu beseitigen. Der substanzielle Unterschied beider wird kaum beachtet. Im Fall des Sozialismus handelt es sich um das Ergebnis der europäischen Aufklärung und um Bewegungen, die die demokratischen Freiheitsrechte in allen Lebensbereichen zur Geltung bringen wollen. Es war ein langer Kampf von der Seite der sozialistischen Bewegung erforderlich, das Bürgertum dazu zu bewegen, demokratische Formen zu akzeptieren. Das Bürgertum war widerwillig und war eher bereit, mit den feudalen Kräften zusammenzugehen und die Restauration und den Konservatismus mitzutragen. Dieser stellte sich der parlamentarischen Demokratie entgegen, der als Einstieg in eine umfassende Freiheit gefürchtet wurde. Der Faschismus radikalisierte diese antidemokratische Strömung und wollte die demokratischen Tendenzen ein für allemal zerschlagen. Es handelte sich um einen für viele Menschen folgenreichen strategischen Irrtum des Bürgertums, anzunehmen, der demokratische Klassenkompromiss könne durch Vernichtung von Menschen beseitigt, der Kapitalismus aber beibehalten werden. Sozialismus und Faschismus sind keine Extreme, die sich wie bei einem Hufeisen berühren, sondern sie sind ›vorn‹ und ›hinten‹, demokratischer Fortschritt oder reaktionäre Regression, Zukunft oder Retro-Projekt. Das Bürgertum hat sich konservativ mit der demokratischen Verfassung arrangiert, indem es ihr eine Ewigkeitsgarantie abverlangt. Das ist selbst wieder eine ganz undemokratische Haltung und fesselt auch die wissenschaftliche Forschung. Denn es wird ja damit gesagt, es könnten nachfolgende Generationen nicht aufgrund freier Einsicht die Verfassungsinstitutionen für überholt halten.

Freiheit als Korridor

Es gibt weitere wissenschaftliche, politische und kulturelle Vorentscheidungen hinsichtlich der Freiheit von Forschung und Lehre. Bis zum Ende des Nationalsozialismus und durchaus darüber hinaus galt Rasseforschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine seriöse wissenschaftliche Forschungsrichtung, die in verschiedenen Disziplinen verankert war. An Schüler_innen wurden noch nach dem Zweiten Weltkrieg Studien über das Verhältnis von Kopfform und IQ durchgeführt. Durkheims mehr als fragwürdige Behauptungen über den Zusammenhang von Gehirnmasse, Geschlecht und gesellschaftlicher Evolution gehen wie selbstverständlich in den Lehrkanon des Faches Soziologie ein; die Folgen von Kants rassistischer Anthropologie für seine gesamte Philosophie werden erst neuerdings untersucht. Im Prinzip ist seit Jahrzehnten die Kategorie der Rasse kein Bezugspunkt mehr für die wissenschaftliche Diskussion. Forschungsprojekte, die schulische Erfolge von Kindern aus Migrationsfamilien ausdrücklich unter Bezug auf die Kategorie der Rasse ableiten würden, würden wohl nicht gefördert werden. Solche Fragestellungen und Forschungen würde der Status, wissenschaftlich zu sein, aus guten Gründen aberkannt werden. In der Folge dieser historischen Erfahrungen und Auseinandersetzungen wird heute kaum jemand eine Chance auf eine Professur oder die Förderung eines Drittmittelprojekts haben, die oder der Fragen einer deutschen Genetik oder deutschen Physik verfolgen will. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass in der Biologie oder in der Politikwissenschaft sich irgendjemand im wissenschaftlichen Sinn auf die biblische Schöpfungslehre berufen wird oder darauf, dass Entscheidungen oder Ereignisse von Gott bestimmt seien. Solche Bezüge auf Kategorien wie Rasse oder Gott gelten der Mehrheit der Wissenschaftler_innen als unwissenschaftlich oder politisch als inopportun - auch wenn sie privat vielleicht der Überzeugung sind, dass Gott existiere, er alles Leben geschaffen habe und das Weltgeschehen lenke (und in der Bundesrepublik zahlreiche theologische Lehrstühle existieren). Anders gesagt: Die Freiheit der Wissenschaft findet also in einem Korridor statt.

Der Bezug auf Freiheit legt hier ein Missverständnis nahe, das von rechter Seite auch genährt wird. Es klingt so, als werde die Freiheit der Forschung und Lehre eingeschränkt, so als handele es sich um eine Einschränkung des Pluralismus. Aber es verhält sich anders. Dass nicht mehr von Rasse gesprochen wird, dass der Schöpfungsglaube oder die Existenz Gottes, dass der nationale Gedanke keine Grundlage mehr für wissenschaftliche Arbeit ist und Wissenschaftler_innen auch nicht mehr die Ansicht vertreten, die Sonne drehe sich um die Erde, ist Ergebnis eines Erkenntnisprozesses und einer mit diesem verbundenen politischen Macht (die die Kirche oder antidemokratische Tendenzen begrenzt). Es war ohnehin töricht, Frauen, Schwulen und Lesben oder Menschen anderer Hautfarbe oder Kultur eine vermeintliche Zivilisation abzusprechen. Entsprechende Kritik und ein Eintreten für die Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte der Menschen gibt es über die Jahrhunderte. Doch diese Einsichten konnten sich lange Zeit nicht durchsetzen. Es ist erst wenige Jahrzehnte her, dass Vergewaltigung in der Ehe noch als legal galt, dass rassistische Experimente in Konzentrationslagern es Wissenschaftlern erlaubten, eine Lehrbefugnis an einer deutschen Universität zu erhalten, dass es gesellschaftlich akzeptiert war, Folter an Schwulen und medizinische Verstümmelung an Trans-Personen zu praktizieren. Erst die politischen Erfahrungen mit den verheerenden Folgen der pathischen Reaktionen auf alles Abweichende halfen auch den schon seit langem vorhandenen Einsichten in die Falschheit von rassistischen oder sexistischen Annahmen zum Durchbruch. Auf dem Weg dahin mussten sinnloserweise viele Menschen ihr Leben lassen. Sie wurden Opfer von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie. Angeblich waren juristische, sozialwissenschaftliche, medizinische oder biologische Forschungen notwendig, die diese Menschen betrafen. Sie sollten, wenn wir an Homosexuelle denken, geheilt werden und wurden dafür medizinischem Terror ausgesetzt. Sie sollten, wenn wir an die Menschen in den Kolonien denken, auf eine höhere Zivilisationsstufe gebracht werden und wurden ausgebeutet oder mit Gewalt überzogen. Diese normalistischen Praktiken bestimmten die Praktiken der mächtigen Staaten in Europa und Nordamerika - aber nicht nur gegenüber denen, die kolonial, rassistisch, sexistisch oder klassistisch unterworfen wurden. Diese Herrschaftspraktiken hatten Folgen für die europäischen Gesellschaften und das Selbstverhältnis der Menschen in diesen Gesellschaften. Das alles ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand einer umfassenden öffentlichen Aufarbeitung und wissenschaftlicher Forschung und Lehre. Die Kultur, das Wissen, die immer schon im Triumphzug der Herrschenden mitgeführt wurden (Walter Benjamin), werden heute kritisch überprüft: Literatur, Kunst, Denkmäler, Museumsbestände, Denktraditionen, Wissenschaftsbereiche. Die selbstkritische Diskussion in unserer Gesellschaft über ihre kolonialen, rassistischen, sexistischen Praktiken dient auch der Emanzipation der Menschen in den imperialen Metropolen. Wer sich dem im Namen der Wissenschaftsfreiheit entgegenstellt, redet nicht der Wissenschaftsfreiheit das Wort, sondern will das Gegenteil: die Fortdauer des Privilegs auch in der Wissenschaft, nicht Neugierde und Aufklärung, sondern Macht über Regionen und Menschen, will die Kontinuität des Herrschafts- und Gewaltzusammenhangs.

Konformismus bürgerlicher Intellektueller

In diesem Zusammenhang ist jene Initiative zu betrachten, die zu Beginn 2021 unter dem Namen Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet wurde und dem sich mittlerweile mehrere hundert Wissenschaftler_innen angeschlossen haben. Die Mitglieder des Netzwerks repräsentieren sehr verschiedene Fachgebiete und politische Ausrichtungen, darunter Rechtskonservative, Liberale, Linksliberale oder rechte Sozialdemokraten. Wenn aus Wissenschaftskreisen solche Initiativen hervorgehen, liegt es nahe, wie im Fall des früheren Bundes Freiheit der Wissenschaft, der Akademie für Soziologie oder des Appells für freie Debattenräume, dass es darum geht, sich kritischen Ansätzen der Forschung und der kritischen Theorie entgegenzustellen. Die öffentlichen Reaktionen in vielen Feuilletons und die abgedruckten Zuschriften in den Zeitungen geben dieser Vermutung Evidenz.

In der Erklärung des Netzwerks heißt es, es wolle die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beitragen. Freie Forschung solle gegen ideologische Einschränkungen verteidigt werden. Es wird behauptet, dass es Einzelne seien, die vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele in Anspruch nähmen, festzulegen, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich seien. Damit würde der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren, politische Korrektheit durchzusetzen und Konformitätsdruck auszuüben.

Klar, es gibt solche Ambitionen der weltanschaulichen Normierung. So nehmen die christlichen Kirchen im Forschungs- und Lehrbetrieb eine Funktion wahr, Staatsverträge erlauben der katholischen Kirche, bei der Besetzung von Konkordatslehrstühlen mitzusprechen. Die Banken oder Unternehmen verfolgen eine Strategie, durch Forschungsmittel, Stiftungsprofessuren oder Spenden ihre Fragestellungen auch in die Forschung und Lehre hineinzubringen. Die Wirtschaftsverbände haben massiv Einfluss darauf genommen, dass Forschungen über ökologische oder betriebliche oder Konsumentwicklungen ausgebremst wurden. Man muss nur daran denken, wie unter George Bush schwarze Listen von kritischen Wissenschaftler_innen angelegt wurden, wie Donald Trump die Forschungen zur Klimaentwicklung eingeschränkt hat, wie einschlägige Medien Klima- oder Genderforscher_innen angeprangert und denunziert haben, wie in Deutschland Forschungen zu Rechtsextremismus, Rassismus, Polizei oder Friedenspolitik verzögert oder verhindert wurden. Forschungen zu gesellschaftlichen Alternativen oder zu neuen Formen der Demokratie haben es durchaus schwer. Von solchen Zusammenhängen und Erfahrungen ist in der Erklärung keine Rede. Es wird eben auf die Wirkung auf Einzelne hingewiesen; mit den Mächtigen will man sich offensichtlich nicht anlegen. Das ist der Konformismus bürgerlicher Intellektueller, die Anpassung an die Mächtigen, um mit ihnen gegen die Unten und am Rand zu kämpfen. Es gehört zur Retorsionsstrategie derjenigen, die das Netzwerk betreiben, dass sie Freiheit beanspruchen, um Unfreiheit praktizieren; dass sie behaupten, ihre Freiheit würde eingeschränkt, obwohl sie Zugang zu den großen Medien wie FAZ, NZZ, Welt haben, in denen sie seit Jahren im vermeintlichen Kampf gegen politische Korrektheit und "Cancel Culture" die Genderstudies, die Klimaforschung, FFF, #metoo oder Black lives matter im Allgemeinen, aber auch die dafür einstehenden Personen angreifen; die behaupten, sich für unkonventionelle Ideen einzusetzen, um dann Nationalstaat, konservative Werte, Familie, den Liberalismus zu propagieren; die Wissenschaft vorgeben zu schützen, um studentische Kritik an Kathederdummheit und -spießigkeit abzuwehren, die sie mit den autoritären Reorganisationsbemühungen im Zuge des Umbaus zur unternehmerischen Universität glaubten, erreichen zu können und ohne Hemmung vertreten zu dürfen;, dass sie sich gegen die neuen Einsichten des Poststrukturalismus, der Gender- oder kritischen Rassismus- oder Postkolonialismusforschung wenden, aber sich ihr Vokabular aneignen und es verkehren, um zu suggerieren, es gäbe keinen Rassismus und diejenigen, die davon sprächen, hätten ohnehin keine Ahnung. Es handelt sich bei denjenigen, die die erwähnten Appelle initiieren und unterstützen, der Tendenz nach um Personen, die kritische Erkenntnisse abwehren und die Taktik des Haltet-den-Dieb anwenden: sich vermeintlich verteidigend andere angreifen, auf die anderen zeigen, um selbst unverblümt Identitätspolitik zu betreiben: normalistisch, national, männlich, elitär, professoral.

Eine Schlussbemerkung zum Wissenschaftsverständnis. Diese angeblich Einzelnen, die kritisiert werden - und es sind nicht nur Einzelne - thematisieren eigene Erfahrungen oder nehmen eine advokatorische Haltung ein, wenn sie sich gegen Rassismus, Sexismus oder ökologische Zerstörung engagieren und für neue Lebensweisen eintreten. Sie bestreiten die Universalität der Erkenntnis derjenigen, die in Deutschland die Stellung eines Professors oder einer Professorin erlangt haben und die Partikularität ihrer Lebenserfahrung verallgemeinern. Solche Kritik gehört zum wissenschaftlichen Prozess, der eben nicht auf Hochschulen begrenzt ist, und öffnet diesen für neue Einsichten. Aber dabei sollte die Kritik nicht stehen bleiben. In diesem Prozess der Auseinandersetzung muss es zu Objektivierungen kommen, zu verallgemeinerbaren und überprüfbaren Einsichten und zur Herstellung der Erkenntnis des Ganzen. Denn auf eines weist die gegenwärtige Auseinandersetzung hin: Standpunktgewissheit trägt auf Dauer nicht zu Erkenntnis und zu einer emanzipatorischen Veränderung der Verhältnisse bei.

Alex Demirovic, Apl. Prof. an der Goethe-Universität, Gastwissenschaftler des Center for Humanities and Social Change an der HU zu Berlin, Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beiratsmitglied des BdWi.