Struktur, Handlung und der ideale Durchschnitt

in (15.06.2010)

1. Marx lesen als Praxis

Anlässlich der Veröffentlichung eines Buches zur neuen Marx-Lektüre spricht Norman Levine von einem neuen Zeitalter der Marx-Interpretation (Levine 2007). Frieder Otto Wolf bestätigt diese Ansicht, wenn er feststellt, dass sich die Voraussetzungen der Kapital-Lektüre tiefgreifend verändert hätten. Das historische Ende des stalinistischen Sowjetblocks, die durchgreifende Krise des historischen Marxismus als zeitgenössische Philosophie und Wissenschaft, die weltweite Radikalisierung der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise - das alles mache es heute wieder notwendig, das Kapital zu lesen, „um ohne Scheuklappen und ohne Zensur zu begreifen, welche Beiträge aus diesem Kernstück der Marxschen Theorie für eine radikal zeitgenössische Philosophie der Befreiung und ein wissenschaftliches Begreifen der globalen Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise gewonnen werden können" (Wolf 2007, 193).

Damit ist ein wesentliches Problem, das des Verhältnisses und der Modalitäten dieses Verhältnisses zu Marx angesprochen. Der Text von Marx ist zunächst Gegenstand einer konventionellen intellektuellen Praxis: Lesen, Diskutieren, Schreiben. Anders kann sich die Aneignung seiner Theorie nicht vollziehen (auch wenn die Nutzung anderer Medien wie des Films denkbar sind, wie es Sergej Eisenstein und Alexander Kluge projektiert haben). Aber in einer solchen Praxis geht sie nicht auf, denn es stellt sich die Frage, wer auf welche Weise unter welchen Umständen und mit welchen Zielen Marx' Texte liest und diskutiert. Sind es SchülerInnen und Studierende, die sich für eine linke politische Praxis intellektuell schulen wollen? Kritische WissenschaftlerInnen, die sich auf Argumente von Marx beziehen, um sie analytisch und empirisch fruchtbar zu machen? Ist es der engagierte Zeitgenosse, der, von politischen Großereignissen beeindruckt, einen neuen Blick auf einen Klassiker wirft? Ist es die Lektüre des „Klerikers", der sich hermeneutisch in den Text versenkt, seine Bedeutung erschließen und in der Erläuterung dessen eigentliche Wahrheit offen legen möchte: eine Wahrheit, die im Text gleichzeitig enthalten ist und doch von niemandem zuvor je ausgesprochen wurde? Würde diese Wahrheit „wieder" gefunden, einmal noch klarer gedacht, was Marx vielleicht gedacht haben mag, dann, so wird nahegelegt, würde sich die geheimnisvolle Logik der kapitalistischen Produktionsweise ein für allemal erschließen und könnte endlich einmal radikal und konsequent gehandelt werden. Demgegenüber plädiere ich für eine nicht-theologische, materialistische Form der Lektüre, die die Theorie als ein Produktionsverhältnis begreift, in dem mit historisch vorgefundenen Begriffen auf spezifische Weise neue Begriffe zur kollektiven Aneignung und Bearbeitung der sozialen Verhältnisse ausgearbeitet werden; also als eine Praxis, die seit je mit anderen Praktiken verschränkt ist und die sich immer mit diesen Praktiken gemeinsam in einem konkreten historischen Zusammenhang bewegt. Es wäre eine Lektüre, die die Theorie von Marx als Intervention begreift, als einen „wissenschaftlichen Versuch zur Revolutionierung einer Wissenschaft" (Marx an Kugelmann, 28.12.1862, MEW 30: 640). Die sozialen Akteure sollen qua „Macht der Wahrheit" von der Notwendigkeit überzeugt werden, aus dem Alltagsverstand, aus der „Religion des Alltagslebens" (MEW 25: 838) des Kapitalismus, aus der bloßen Gesinnungs- und moralischen Kritik herauszutreten und sich auf das historische Niveau der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise einzulassen (vgl. Demirovi_ 1989; Demirovi_ 2008).

Norman Levine erinnert daran, dass die Rede von der Erneuerung des Marxismus zwei mögliche Bedeutungen hat: eine „esoterische, als Rekonstruktion des Marxschen Denkens allein aus sich selbst heraus, und eine exoterische, der es darum geht, durch eine neue Interpretation begreiflich zu machen, wie aufgrund einer Methodologie die Funktionsweise des gegenwärtigen Kapitalismus erklärt werden kann" (Levine 2007: 192). Mir erscheint diese Trennung selbst ein grundlegendes Problem der an Marx anschließenden Diskussion und auf eine Verkennung der Ansprüche der Theorie. So vor die Alternative gestellt, nehme ich mit dem Plädoyer für eine intervenierende Lektüre nicht in Anspruch, zu einer Rekonstruktion des Marxschen Denkens beizutragen. Doch es kann auch nicht darum gehen, wie Frieder Wolf vorschlägt, das Kapital unter dem Gesichtspunkt zu lesen, welche Beiträge es zur zeitgenössischen Philosophie der Befreiung und zum wissenschaftlichen Begreifen der kapitalistischen Produktionsweise enthalte. Dies unterstellt, dass es eine solche Philosophie oder ein solches Theorieprojekt jenseits der Theorie von Marx gäbe und dessen Theorie jetzt gleichsam wie ein Werkzeugkasten zu nutzen sei, aus dem die eine oder andere These als Instrument genommen werden könnte. Das legt nahe, dass es so etwas wie eine Supertheorie des Befreiungsdenkens oder eine Philosophie der Befreiung gibt, also ein Standpunkt, von dem das Ganze des Befreiungsdenkens in den Blick kommt. Doch auch das ist nur eine theoretische Praxis. Intern ist keine Theorie pluralistisch, sie kann nicht sie selbst und eine andere Theorie sein. Die Marxsche Theorie erhebt den Anspruch auf eine umfassende Ausarbeitung und eine begriffliche Erweiterung auf andere Traditionen des Befreiungsdenkens. Sie hat mehr als nur einzelne Überlegungen oder Thesen zum Befreiungsdenken beigetragen, sondern die historische Tradition der radikalen europäischen Aufklärung in sich aufgenommen und stellt eine Art Wendepunkt in diesem Denken selbst dar. Es handelt sich bei Marx' Revolutionierung der Wissenschaft darum - und darin folge ich Louis Althusser -, dass er den Kontinent der Geschichte entdeckt hat und eine historisch völlig neue Art des Wissens und der Praxis: die kritische Theorie der Gesellschaft, die den inneren Zusammenhang der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche als historischen Prozess der permanenten Auseinandersetzung zwischen sozialen Klassen verständlich machen will. Diese Theorie verlangt auch die Bildung eines neuen Typus von Intellektuellen und trägt zu dessen Herausbildung bei, worauf Gramsci sowohl als auch die Kritische Theorie hingewiesen haben. Marx selbst hat von diesem theoretischen Projekt einer Analyse des Ganzen der „Gesellschaft, nach ihrer ökonomischen Struktur betrachtet", selbst nur einen Bruchteil eingelöst (MEW 25: 827). Seine Absicht, das System der bürgerlichen Ökonomie darzustellen und mit der Darstellung auch sogleich zu kritisieren, konnte er nicht verwirklichen. Gar zu einer umfassenden Ausarbeitung der Theorie der bürgerlichen Gesellschaftsformation, wie sie in der Deutschen Ideologie oder im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie angedeutet wird, ist es nicht gekommen. Seitdem gab es zahlreiche Versuche, dieses Projekt fortzusetzen. Diese Bemühungen stießen jedoch auf mehrere Schwierigkeiten oder Herausforderungen: a) Die bürgerliche Gesellschaftsformation ist, wie Gramsci im Anschluss an Marx betont, ein Organismus, der sich selbst permanent revolutioniert, so dass sich der Gegenstand der Analyse zu verändern scheint. b) In der Art und Weise, wie die kapitalistische Produktionsweise herrscht, werden bestimmte Lebensbereiche phasenweise wichtiger oder verlieren wieder an Bedeutung: die Frage der Natur, des Rassismus, der Organisation, des Individuums oder der Moral, um in einer anderen Konjunktur - in ein neues Licht getaucht - wieder aktuell zu werden. c) Der Modus der Herrschaftsausübung ändert sich, also die Formen der Ausbeutung, Herrschaft und Verwaltung von Menschen, die Klassenbeziehungen, die Art und Weise der Konflikte, die Themen und Subjekte sowie die Perspektiven der Emanzipation. Der Befreiungsprozess verläuft nicht linear, teleologisch und nach geschichtsphilosophisch gewährleisteten Gesichtspunkten, sondern ist durch die Kontingenz sozialer Auseinandersetzungen bestimmt, die die sozialen Verhältnisse teilweise tiefgreifend verändern. d) Die Marxsche Theorie ist seit vielen Jahrzehnten selbst ein Bestandteil der historischen Auseinandersetzungen und ausgesprochen umkämpft. Dadurch wurde jedes Wort und jeder Satz mit Bedeutungen aufgeladen. Seine, so wenig wie jede andere Theorie ist eine Substanz, sondern setzt sich aus semiotischen Momenten zu einem komplexen, historisch je spezifischen Diskursereignis zusammen. Immer werden Marx' Sätze in konkreten Kontexten aufgegriffen und verwendet. Dies geschieht unter besonderen intellektuellen Arbeits- und Denkverhältnissen, die von den Intellektuellen, die sich auf Marx beziehen, so wenig wie von allen anderen außer Kraft gesetzt werden können. Historisch lassen sich sehr pauschal die epistemischen Terrains unterscheiden, auf deren Grundlagen jeweils ein „marxistisches" Verhältnis zu den gesellschaftlichen Widersprüchen eingenommen werden konnte: Für Marx selbst war charakteristisch, dass er seine Theorie außerhalb des offiziellen akademischen Lebens und als Beitrag zur Konstitution des Projekts der sozialen Revolution ausarbeitete. Die zweite Generation von marxistischen TheoretikerInnen war in Parteien verankert und übte in diesem Kontext ihre intellektuelle Funktion aus. Dies schränkte zwangsläufig auch die theoretische Diskussion ein. Eine theoretische Kritik an vorherrschenden politischen Positionen in der Partei konnte für die Intellektuellen unmittelbare Folgen haben. Dies galt erst recht, wo der Marxismus zur offiziellen Staatsideologie wurde und Lehrmeinungen mit staatlicher Gewaltausübung verbunden waren. Für jede weitere Entwicklung des Marxschen Projekts ist dies eine Schlüsselerfahrung: wie die Macht, die im Namen wissenschaftlicher Wahrheit ausgeübt wird, sich mit Zensur, Marginalisierung, Vertreibung oder Mord gegen die Theorie und ihre natürlichen Subjekte wenden kann. Die Frage, die sich stellt ist, wie die Theorie angelegt sein muss, dass sie sich durch ihre Praxis der Dynamik einer solchen polizeilichen Logik entgegenstellt. Nicht zuletzt aufgrund solcher negativer Erfahrungen war für eine dritte Phase das Streben kritischer Intellektueller nach Autonomie von Wirtschaft und Politik prägend. Die Grundlage für eine gewisse intellektuelle Freiheit schienen die Hochschulen zu sein. Doch wurden die Enge und Zwänge akademischer Produktionsverhältnisse und ihre Folgen für die kritische Theoriebildung schon in den 1960er Jahren zum Gegenstand gesellschaftstheoretischer Kritik. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahren wird kritisch-materialistisches Denken in der Tradition von Marx aus den Universitäten gedrängt und eine vierte Phase der Ausarbeitung des Projekts deutet sich an. Jede Fortsetzung des Marxschen Projekts kann also nur in der Spannung von realer Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation und konkreter materieller Existenz und Praxis der Fortentwicklung der Theorie durch kritische Intellektuelle stattfinden (vgl. Demirovi_ 2006). Denn die Marxsche Theorie ist ein antagonistisches Moment der umfassenden Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaftsformation, darin enthalten und doch zugleich ihr Anderes. Darin besteht eine ihrer Leistungen: sie öffnet den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft, indem sie den Gegensatz austrägt: dass diese Gesellschaftsformation mit sich identisch sein will und sich doch nicht in einer Identität abschließen kann, sondern immer wieder scheitert. Auf paradoxe Weise prägt dies auch das Projekt der an Marx anschließenden Theorie: sie repräsentiert den antagonistischen Widerspruch und insofern das Andere der kapitalistischen Logik. Doch sie scheitert dort, wo unterstellt wird, ihr Ziel sei das einer integralen und systematischen Theorie und Kritik der kapitalistischen Gesellschaftformation. Die ältere Kritische Theorie hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass der fragmentarische Charakter der Theorie kein Unvermögen der kritischen Intellektuellen ist, das sich durch mehr Ressourcen und noch energischere Arbeit überwinden ließe, sondern ein Problem im Gegenstandsbereich der Theorie selbst anzeigt. Das Programm einer Theorie im Sinne eines kohärenten Systems ist nicht einlösbar, es ist ein falscher Anspruch. Das Marxsche Theorieprojekt ist nicht auf eine solche Identität zu bringen, es kann keine universelle Theorie mit einem eindeutigen Korpus von zusammenhängenden Sätzen werden, weil es „mit Wahrheit" und Erkenntnis zum Prozess der Emanzipation beitragen will und intern die Widersprüche austrägt und bearbeitet, von denen die bürgerliche Gesellschaftsformation durchzogen ist. Es kann aus Gründen der historischen Notwendigkeit nur bis an die Grenzen dieser gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaftsformation denken und deren Identität und damit alle ihre konstitutiven Begriffe in Frage stellen.


2. Die Einheit von Struktur und Handlung

Aus der soziologischen Diskussion sind zwei eng miteinander verbundene Begriffspaare hervorgegangen, die das Ganze der Gesellschaft zu bestimmen suchen. Es geht um die Begriffe der System- und der Sozialintegration und um die Begriffe von Struktur und Handlung. In beiden Fällen wird unterschieden zwischen einem systemischen Bereich der Gesellschaft, der nicht vom Handeln der einzelnen Individuen, von ihrem Sinnverständnis, von ihren Zielen und Vorstellungen bestimmt ist, sondern sich sogar von dieser Praxis vollständig abzulösen scheint, und einem Bereich sozialen Handelns, in dem die Interaktionen, die Kommunikationen, die moralischen Normen, die Vorstellungen, die die einzelnen von sich und anderen haben, zentral sind. Struktur oder System erscheinen als der dauerhafte, beharrende, determinierende Aspekt der Gesellschaft. Mit ihnen wird Ordnung und Stabilität assoziiert. Demgegenüber erscheint Handeln als die dynamische, die verändernde Seite einer Gesellschaft.

Die Diskussion zu Struktur und Handlung hat zu ganz gegensätzlichen Theorietypen geführt, zur Systemtheorie auf der einen, zur Handlungstheorie auf der anderen Seite. Die Systemtheorie, prominent vertreten von Niklas Luhmann, hält Handeln der Individuen für abgeleitet, für eine Zurechnung von systemischen Prozessen zu Personen: Kommunikationen des Systems erhalten durch diese Zurechnung zu Personen, die vermeintlich handeln, eine Adresse und erscheinen als Handlung einer Person. Auf der anderen Seite finden sich interaktive Ansätze, die die Gesellschaft als eine Verkettung von interaktiven Beziehungen zwischen handelnden Individuen verstehen. Ein solcher Ansatz wird von Anthony Giddens vertreten. Angesichts einer solchen gegensätzlichen Konstellation können soziologische Gesellschaftstheorien auch so angelegt sein, dass sie, wie die von Jürgen Habermas, beide Stränge nicht in die eine oder andere Richtung aufeinander reduzieren, sondern sich um eine theoretische Kombination beider Theorietraditionen bemühen. In seiner Theorie wird der Versuch unternommen, eine Perspektive zu entwickeln, die beide Bereiche zu einem komplexen Reproduktionsprozess der Gesellschaft als ganzer kombiniert. Die Frage wird allerdings in der soziologischen Theorie seit Max Weber nicht gestellt, warum überhaupt die Gesellschaftstheorie immer wieder mit diesem Widerspruch von hier System- und Strukturtheorie und dort Handlungstheorie zu tun hat, sondern unterstellt, dass es sich um eine wissenschaftlich fortschrittliche Einsicht handele. Es ist der Widerspruch der Bereiche von Notwendigkeit und Freiheit, also der Bereiche, in denen auf der einen Seite die Erhaltung der Menschen, die natürlichen und gesellschaftlichen Zwänge und Notwendigkeiten liegen, auf der anderen Seite die Möglichkeiten des Sinns und der Kultur, der Bedeutung und der Begriffe, des Vorausdenkens und des verändernden Handelns. Die Bemühungen gehen dahin, diesen Widerspruch zu schlichten, entweder indem die eine Seite des Widerspruchs in die andere aufgelöst wird oder indem nahegelegt wird, der Widerspruch beruhe auf Missverständnissen und eine Integration beider Seiten in eine umfassende Theorie sei möglich. Im Fall beider Lösungsstrategien wird der Widerspruch selbst nicht ausgetragen und als ein spezifischer, die kapitalistische Vergesellschaftung selbst kennzeichnender Antagonismus begriffen, der sich nicht durch bessere Theorie, sondern allein durch die Transformation der Verhältnisse selbst überwinden lässt. Aber um eine solche Überwindung denken zu können, muss das Problem, wie es aus soziologischer Sicht erscheint, selbst transformiert werden. Denn aus der herrschenden soziologischen Sicht scheint es sich bei diesem Widerspruch von Struktur und Handlung selbst wiederum um eine Art gesellschaftliches Naturgesetz zu handeln. Es bedarf also einer veränderten Fassung des Problems. Im Folgenden will ich dahingehend argumentieren, dass es in der von Marx ausgehenden Theorietradition eine alternative Problematik gibt, die eine paradigmatische Differenz zur Soziologie markiert.

Das erscheint auf den ersten Blick kontraintuitiv. Denn auch für die Theorie von Marx lässt sich dieser gesellschaftstheoretische Widerspruch von Struktur und Handlung feststellen. Es wird von ihm in den theoretischen Schriften die Ansicht vertreten, dass er die bürgerliche Gesellschaft wissenschaftlich analysieren wolle. Als wissenschaftlich gilt ihm die Beobachtung und die Analyse der Naturgesetze des Kapitals. So spricht Marx 1859 im methodischen Rückblick auf seine bisherige Forschung davon, dass die Betrachtung von gesellschaftlichen Umwälzungen zu unterscheiden habe zwischen „der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen" und den ideologischen Formen, in denen sich die Menschen dieser Umwälzungen bewusst werden. Diesen ideologischen Formen scheint angesichts dieser tieferen Gesellschaftsdynamik keine so große Rolle zuzukommen. Diese Überlegung bekräftigt er noch einmal, wenn er im Vorwort zum Kapital von den „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion" und den „mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen" spricht, deren Enthüllung der Zweck seiner Untersuchung sei (MEW 23: 12). Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des Kapital zitiert er zustimmend eine Rezension von I.I. Kaufmann, der den quasi naturwissenschaftlichen Aspekt von Marx' Methode akzentuiert: „Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. [...] Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen." (Kaufmann, zit. nach Marx, MEW 23: 26) Von daher stellte sich in der marxistischen Tradition denjenigen, die nicht alle sozialen Prozesse und politischen Kämpfe auf die Naturgesetze des Kapitals und damit auf einen Gegenstand der kritischen politischen Ökonomie reduzieren wollten, dann auch die Frage nach einer materialistischen Soziologie. Wenn Marx, wie er schreibt, in seinen Arbeiten nur eine Analyse der „Anatomie" der bürgerlichen Gesellschaftsformation unternommen hat, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht - in welcher Weise herrscht diese Produktionsweise dann in der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher Weise formiert sie diese? Welche Möglichkeiten haben die Individuen und die sozialen Gruppen, durch ihre Praxis überhaupt auf die mit naturgesetzmäßiger Gewalt ablaufenden Prozesse der kapitalistischen Produktionsweise Einfluss zu nehmen oder diese gar zu ändern? Das berührt auch Marx' Analyse selbst, denn zwangsläufig stellt sich die Frage, welche Bedeutung sie überhaupt haben kann, wenn dem Bewusstsein eine so geringe Rolle beigemessen wird: warum und für wen müssen die Tatsachen überhaupt festgestellt werden, wenn sich alles mit eherner Notwendigkeit vollzieht? Stellt sich Emanzipation hinter dem Rücken der Akteure her? Wäre es vielleicht sogar besser, sie würden das Ziel der freien Assoziation nicht wollen, weil der gleichsam naturgesetzliche Prozess der Emanzipation nicht durch die nicht-intendierten Folgen von Absichten gestört würde?

Es gibt Äußerungen von Marx, die in die genaue Gegenrichtung weisen und ins Zentrum der Theorie das menschliche Handeln stellen. In seinen Thesen über Feuerbach (1845) steht der Begriff der Praxis im Zentrum, kritisiert wird von ihm an Feuerbach, dass dieser die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts fasse, also gerade nicht als Ergebnis menschlicher Tätigkeit. In der elften These wird verändernde Praxis zu einem Imperativ erhoben. Im Kommunistischen Manifest wird betont: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (MEW 4: 462) Das Moment von Freiheit menschlichen Handelns wird von ihm herausgehoben, wenn er davon spricht, dass das Reich der Freiheit dem Reich der Notwendigkeit entgegenstehe. „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." (MEW 25: 828) Diese Formulierung könnte so verstanden werden, dass die kapitalistische Gesellschaft durch naturgesetzliche Abläufe bestimmt sei, diese Naturnotwendigkeit jedoch durch Emanzipation immer weiter zurückgedrängt werden könnte bis allein noch Freiheit übrig bliebe. Eine zukünftige Assoziation freier Individuen wäre durchgängig durch freies Handeln ausgezeichnet. Wenn die kapitalistische Produktionsweise derart naturgesetzlich bestimmt ist, dass sie vom Bewusstsein, dem Wollen und den Absichten der Individuen unabhängig ist, dann könnte im Umkehrschluss gefolgert werden, im Reich der Freiheit würde alles vom Bewusstsein und den Absichten der Individuen bestimmt und es könnte keine eigenmächtigen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten geben. Doch Marx ist offensichtlich nicht an der Tradition der Bewusstseinsphilosophie orientiert, in der Freiheit mit Transparenz der sozialen Verhältnisse assoziiert wird und ein direkter Zusammenhang zwischen Absichten und Folgen nahe gelegt wird. Die Arbeiterklasse wisse, dass die „Ersetzung der ökonomischen Bedingungen der Sklaverei der Arbeit durch die Bedingungen der freien und assoziierten Arbeit nur das progressive Werk der Zeit sein kann"; sie wisse, „daß das gegenwärtige ‚spontane Wirken der Naturgesetze des Kapitals und des Grundeigentums' nur im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses neuer Bedingungen durch ‚das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit' ersetzt werden kann" (MEW 17: 546; Herv. von mir). Diese Formulierung von Marx verstehe ich so, dass er nicht die Ansicht vertritt, dass Notwendigkeit und Freiheit sich äußerlich gegenüber stehen, hier ein anonymes System, dort das freie, bewusste Handeln der Individuen, so dass im Fall kommunistischer Vergesellschaftung die Freiheit als ständiger freier Willensakt der Individuen außerhalb aller gesellschaftlichen Verhältnisse zur Geltung käme. Vielmehr sind die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten beider Formen von Produktionsverhältnis mit dem Handeln, der Praxis vermittelt - allerdings in einer radikal verschiedenen Art und Weise, so dass sowohl die Gesetzmäßigkeiten des Handelns als auch das Handeln selbst anders beschaffen sind. Die Menschen, so lässt sich Marx verstehen, handeln immer frei, allerdings nicht immer unter selbstgewählten Verhältnissen (vgl. MEW 8: 115). Auch im Fall der emanzipierten Form des Zusammenlebens handeln sie nach spontanen sozialen Gesetzmäßigkeiten. Soweit es sich um spontane Gesetzmäßigkeiten handelt, stehen sie nicht ständig zur Disposition und sind nicht willkürlich von Einzelnen zu verändern. In beiden Fällen, der kapitalistischen Produktionsweise und der freien Assoziation, werden Menschen von den objektiven Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Kommt es unter kapitalistischen Bedingungen jedoch zu einem Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit, von Struktur und Handeln, so besteht der emanzipierte Zustand darin, dass die Individuen ihre Verhältnisse aus freien Stücken wählen und gemeinsam ihre gemeinsamen Lebensverhältnisse erzeugen und bestimmen, unter denen sie leben.

Marx geht es also nicht - im Sinne einer universellen soziologischen Theorie - um den Unterschied von Struktur und Handlung, diesen gibt es nicht in einem abstrakten Sinn, sondern wenn überhaupt nur in der historisch besonderen Konstellation der kapitalistischen Produktionsweise, in der sich Freiheit und Notwendigkeit als Gegensatz von Struktur und Handlung, als Gesellschaftssystem und Praxis von Einzelnen oder Kollektiven darstellen, weil es keine personale Autorität mehr gibt, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse als Rechts- und Willensverhältnisse erscheinen, die als gewollte auch selbständige Form anzunehmen scheinen. Aber Marx geht noch weiter. Das, was als „Struktur" als das Bestimmende und Erste erscheint, wird von ihm als etwas Abgeleitetes begriffen. Kommen wir noch einmal auf die methodologischen Bemerkungen von Marx zurück. Was Kaufmann als Marx „wirkliche" Methode bezeichnet, was Marx, dies positiv aufgreifend, als seine „dialektische" Methode bezeichnet, verweist auf den historischen Charakter der Naturgesetze selbst. In ihnen ist eine doppelte Bewegung enthalten. Kaufmann zufolge geht es Marx nicht allein um das Gesetz der Phänomene, sondern mehr noch um das „Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre" (MEW 23: 26). Genau diese Überlegung legt Marx auch nahe, wenn er im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital schreibt, dass den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmere, „daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist" (MEW 23: 16). Völlig richtig zieht Kaufmann also die Konsequenz, dass die Naturgesetze des Kapitals von Marx nicht als ewige, sondern selbst als historische verstanden werden. Jede historische Periode besitze ihre eigenen Gesetze. Trete das Leben aus einem gegebenen Stadium in ein anderes, beginne es auch durch andere Gesetze gelenkt zu werden. Noch einmal Kaufmann: „Die alten Ökonomen verkannten die Natur ökonomischer Gesetze, als sie dieselben mit den Gesetzen der Physik und Chemie verglichen."

Diese Ausführungen können so verstanden werden, dass Marx der Ansicht ist, er habe die Gesetzmäßigkeiten bestimmt, nach denen sich die kapitalistische Produktionsweise und bürgerliche Gesellschaftsformation intern ständig transformierten. Doch könnten demnach immer noch die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals selbst als stabil unterstellt werden, weil es sich um die Analyse der Struktur handelte, die die Veränderungen im doppelten Sinne determiniert: Anstoß gibt für Veränderungen, aber auch die Grenzen zieht, innerhalb deren sie stattfinden müssen. Es entsteht dann das Problem, den Prozess der Veränderung auf das zu beziehen, was identisch bleibt. Eine Art „verhüllte Kerngestalt" (MEW 25: 219) oder „Kernstruktur" (Ritsert 1973: 32) organisiert diesen Prozess der Veränderung und gewährleistet die Stabilität noch in der Veränderung selbst, bestimmt also, in welcher Weise überhaupt Veränderung stattfinden kann. Historische Veränderungen wären nur Veränderungen an der Oberfläche, in der Erscheinung des Kapitalverhältnisses. Die Erkenntnis der Kerngestalt wäre dann die ganze Erkenntnis der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise. Tatsächlich konnte in der Marxphilologie die Ansicht vertreten werden, die Analyse der ökonomischen Zelle, der Warenform, wäre ausreichend für das Verständnis des Gesamtprozesses des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Die Analyse nach einer mit sich identischen Kernstruktur würde auf die systemtheoretische Frage danach verweisen, ab wann Selbsttransformationen eines Systems bestimmte Sollwerte überschreiten, ab wann ein System seine Identität verliert und in die Krise gerät. Eine Gefährdung des Systems würde zunächst nur an den Rändern auftreten, dort, wo jene Sollwerte überschritten werden. Entsprechend muss es dann darum gehen, einen festen identitären Kern des kapitalistischen Systems zu bestimmen, um den es Marx in seiner Analyse gegangen ist und der deswegen auch das paradigmatische Definiens der Theorie ist. Ist dieser Kern festgelegt, dann handelt es sich um die kapitalistische Produktionsweise, die Marxsche Analyse würde sich demnach in der Spannung von ökonomischer Kernstruktur, von Wesenslogik auf der einen Seite, und Oberfläche, Erscheinung, Bewusstsein auf der anderen Seite bewegen. Krisen werden nur in der Alternative von Systemkrise oder Adaption wahrgenommen. Die sozialen Kämpfe selbst hätten keinen Einfluss auf die Kernstruktur selbst und die Art und Weise, wie diese für Stabilität und Kontinuität sorgt. Andere gesellschaftliche Bereiche der bürgerlichen Gesellschaftsformation, also Staat und Ideologie, werden dann allein unter dem Gesichtspunkt relevant, dass sie funktional den Kern stabilisieren: die Bedingungen der Reproduktionsbedingungen. So weiß man alles, was man wissen muss, wenn man weiß, dass sie zur Aufrechterhaltung des Kapitals beitragen. In den Blick kommt nicht die Dynamik des politischen Prozesses, der Staat als das gesellschaftliche Verhältnis, in dem sich herrschende soziale Akteure darum bemühen, Konflikte weniger still zu stellen, als vielmehr in einer Weise zur Austragung gelangen zu lassen, dass sie die weitere Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise nicht gefährden. Für beide Positionen finden sich Anhaltspunkte bei Marx und Engels (vgl. Heinrich 2004: 193ff). Ebenso bleiben die kulturell-diskursiven Prozesse der alltäglichen Organisation der Lebensführung in einem weit gegliederten zivilgesellschaftlichen Dispositiv außer Betracht, in dem, wie Marx (MEW 13: 9) sagt, die gesellschaftlichen Konflikte bewusst und ausgetragen werden.

Marx verknüpft in seiner Argumentation Strukturgesetzmäßigkeiten und Handeln intern, zwischen ihnen besteht ein inneres Band. Das Kapitalverhältnis ist die Voraussetzung einer Art von Produktion, die gleichzeitig auch dieses Verhältnis als Voraussetzung reproduziert. „Wie alle seine Vorgänger, geht der kapitalistische Produktionsprozeß unter bestimmten materiellen Bedingungen vor sich, die aber zugleich Träger bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind, welche die Individuen im Prozeß ihrer Lebensreproduktion eingehn. Jene Bedingungen, wie diese Verhältnisse, sind einerseits Voraussetzungen, andrerseits Resultate und Schöpfungen des kapitalistischen Produktionsprozesses; sie werden von ihm produziert und reproduziert." (MEW 25: 827) Marx erklärt nun aber auch noch, warum sich so etwas wie „System" als gegenüber den Individuen verselbständigtes herausbilden kann. Denn diese Reproduktion der Voraussetzungen der Produktionsverhältnisse findet in einer spezifischen Weise statt, nämlich derart, dass die Bildung von Reichtum als eine besondere Eigenschaft des Kapitals erscheint, nicht als das Ergebnis der Aneignung des lebendigen Arbeitsvermögens durch das Kapital. In dieser Reproduktion kommt es zu einer „Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihrer Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten", zu einer „Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten" (MEW 25: 839). Dieser Objektivitätsüberhang der Produktionsverhältnisse gegenüber den Produktionsagenten könnte nun als ein Verhältnis von Struktur und Handeln begriffen werden, in dem die Struktur das Handeln determiniert, eine genetisch strukturierte Struktur, die sich nun vom Handeln der Akteure systemisch verselbständigt und im weiteren das Handeln bestimmt. Demgegenüber wird von Marx das Produktionsverhältnis als ein Prozess bestimmt, in dem diese Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten selbst immer wieder reproduziert werden muss. Anders gesagt, die determinierende Struktur bleibt vermittelt und abgeleitet. Aber mehr noch, darin ist das entscheidende Moment von Klassenherrschaft enthalten, denn die Verselbständigung ist eine, die nicht für alle sozialen Klassen in gleicher Weise gilt, sondern in besonderer Weise für die Lohnarbeiterklasse. Das Kapital sei nicht die Summe der materiellen und produzierten Produktionsmittel, sondern sind „die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel, die der lebendigen Arbeitskraft gegenüber verselbständigten Produkte und Betätigungsbedingungen eben dieser Arbeitskraft, die durch diesen Gegensatz im Kapital personifiziert werden" (MEW 25: 823). Das Maß der Verteilung von Freiheit und Notwendigkeit ist also für die verschiedenen Klassen unter kapitalistischen Bedingungen sehr verschieden; und das Ziel von Marx ist es, diese Dynamik der Verselbständigung sozialer Handlungszwänge durch eine Wiederaneignung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, so dass für alle Bedingungen positiver Freiheit bestehen.

Wenn die Voraussetzungen des kapitalistischen Verwertungsprozesses selbst in diesem Prozess noch reproduziert werden müssen, dann tritt das Wollen und Bewusstsein ebenso wie die Kritik nicht von außen hinzu. Diese Reproduktion wird nicht unabhängig vom Wissen, den Diskursen, den Erwartungen der Akteure organisiert, sondern die Verhältnisse werden durch ihr individuelles und gemeinsames Handeln reproduziert bzw. nicht reproduziert. Marx selbst ist in diesem Punkt nicht so eindeutig. Denn auch wenn er offensichtlich die Äußerung Kaufmanns, dass es ihm nicht auf das Wollen und die Absichten der Individuen ankomme und diese als Personifikationen ökonomischer Kategorien analysiert würden, für richtig erachtet, misst er kulturell-ideologischen Faktoren eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Schon allein die Rede von der „Personifikation" und der „Charaktermaske" wirft die Frage nach den besonderen Subjektivierungsformen auf, die es Individuen erträglich macht, nach Gesichtspunkten ökonomischer Rationalität zu handeln, so dass sie überhaupt zur Verfügung stehen. Marx spricht auch davon, dass der Begriff der Gleichheit die „Festigkeit eines Volksvorurteils" angenommen haben muss, bevor überhaupt das „Geheimnis des Wertausdrucks" entziffert werden kann (MEW 23: 74). Soll es also nicht zu einer Tautologie kommen, kann die Herausbildung solcher Volksvorurteile nicht selbst wiederum durch den Warentausch erklärt werden, sondern es bedarf weiterer politischer und kulturhistorischer Gesichtspunkte.

Offensichtlich nimmt Marx an, dass sich auch die Faktoren, die vermeintlich die Stabilität, Kontinuität und Identität festlegen, ebenfalls ändern. Ihm zufolge transformiert sich die Gesellschaft ständig, weil sie in sich durch Widersprüche und damit von Dynamiken gegensätzlichen Handelns bestimmt ist, die auf ihre Überwindung gehen. Theorie sei nicht nur positives Verständnis des Bestehenden, sondern „zugleich auch Verständnis seiner Negation" (MEW 23: 28). Diese Negation findet als Kritik statt, die von einer sozialen Klasse, dem Proletariat, vertreten wird - insofern ist die Theorie parteilich (MEW 23: 22). Die Feststellung der Tatsachen meint demnach, dass die Widersprüche einer Gesellschaft nicht als äußerlich hinzutretende begriffen werden, sondern zu den von der Theorie festzustellenden gesellschaftlichen Tatsachen gehört auch die von innen bestimmende Dynamik der ständigen Transformation. Die Widerspruchsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise ist derart, dass sie sich auch noch in sich selbst verändert. Dies ist möglich, weil sie das Ergebnis der sozialen Kämpfe von gegensätzlichen Klassen und ihrer Kompromisse ist, die sich als gegensätzliche Klassen in diesem Prozess selbst reproduzieren. Es bliebe unangemessen, diesen Prozess systemtheoretisch als den eines Systems zu begreifen, dem System des sich selbst verwertenden Werts, das sich selbst einfach nur neuen Gegebenheiten und Herausforderungen anpasst, ansonsten aber mit sich identisch bleibt. Widerstände oder Kritiken schienen dann von außen zum System hinzuzukommen und von solchen Menschen oder besonderen Eigenschaften von Individuen auszugehen, die nicht systemisch integriert sind. Sozialer Protest erscheint als eine Abweichung von systemischen Imperativen solange, bis auch er in das selbstadaptive System integriert worden ist. Damit jedoch werden die Veränderungen der sozialen Kämpfe, der Akteure, der Gegenstände des Konflikts, der Art der Austragung zugunsten einer wesenslogischen Betrachtung zur Seite geschoben, die nahelegt, dass es sich immer um gesellschaftliche Verhältnisse und Klassenkämpfe des Typus handelte, die Marx vor Augen hatte. Gelegentlich wurde die neoliberale Globalisierung so interpretiert als bringe sich der Kapitalismus nun auf den Begriff. Entsprechend kann dann auch die Erwartung entstehen, es müssten auch ein bestimmtes Klassensubjekt und eine bestimmte Art der Kämpfe sich wiederbeleben.

Das Besondere an der Theorie von Marx ist, dass er die Dynamik der Veränderung in der „Kerngestalt" der kapitalistischen Produktionsweise selbst verankert sieht. Es sind ihm zufolge zwei Merkmale, die die kapitalistische Produktionsweise definieren. Erstens ist charakteristisch, dass ihr Produkt als Produkt des Kapitals erscheint und vorwiegend die Form der Ware annimmt. Dazu gehört, dass auch die Arbeitskraft selbst eine Ware ist und der Arbeiter als freier Lohnarbeiter auftritt. Alle Warenbesitzer wollen ihre Waren so teuer wie möglich verkaufen. Die Gesellschaftlichkeit der je individuellen Arbeitsleistungen, die als Wertbestimmung in die Ware eingehen, kann erst auf dem Markt in der Konkurrenz zur Geltung gelangen. Ob und in welchem Umfang die Ware Arbeitskraft überhaupt einen Wert hat, ob also und in welchem Umfang in ihre Herstellung gesellschaftlich nützliche Arbeit eingegangen ist, erweist sich erst am Markt. Hier bildet sich in der Vielzahl von einzelnen Angebots- und Nachfragehandlungen etwas heraus wie ein Durchschnitt dessen, was als gesellschaftlich nützlich verausgabte Arbeitszeit gelten kann. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen." (MEW 23: 53) Ein Durchschnitt besteht solange, bis es jemandem gelingt, die zur Produktion der Ware benötigten Arbeitszeit wiederum unter den gesellschaftlichen Durchschnitt zu drücken. Aber was zu einem Zeitpunkt der Durchschnitt ist, weiß niemand, der Durchschnitt bildet sich aus der unendlichen Zahl von Transaktionen zwischen Kapital und Arbeit, keine konkrete Arbeit muss oder kann ihm entsprechen. „Nur als inneres Gesetz, den einzelnen Agenten gegenüber als blindes Naturgesetz, wirkt hier das Gesetz des Werts und setzt das gesellschaftliche Gleichgewicht der Produktion inmitten ihrer zufälligen Fluktuationen durch." (MEW 25: 887) Dieses Gleichgewicht ist der Durchschnitt, eine Normalität, die eine Abstraktion darstellt, weil es in der Wirklichkeit keinen Nullpunkt gibt, von dem aus diese Normalität zu messen wäre.

Zweitens ist die kapitalistische Produktionsweise dadurch bestimmt, dass die Produktion von Mehrwert ihr direkter Zweck ist. Dies bestimmt auch das Verhältnis zwischen den „Hauptagenten" der kapitalistischen Produktionsweise. Der Kapitalist übt seine Autorität als „Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit" unpersönlich in Gestalt eines als „Hierarchie gegliederten, gesellschaftlichen Mechanismus des Arbeitsprozesses" aus (MEW 25: 888). Diese Autorität über das Unternehmen und die dort für Lohn Arbeitenden ist notwendig, damit dem Kapitalisten bei der Aneignung von Mehrarbeit keine Nachteile entstehen, die ihn in der Konkurrenz nach außen benachteiligen könnten, wenn er anderen Warenbesitzern gegenübertritt und sich auf dieser Stufe erneut der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion als „übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht" (ebd.). In beiden Fällen aber greifen die Lohnarbeiter in den spezifischen Modus des kapitalistischen Produktionsverhältnisses ein. Die Lohnarbeiter produzieren Waren und produzieren damit, mit dem in diesen enthaltenen Mehrwert, gleichzeitig die Bedingungen dafür, dass die Kapitaleigner im nächsten Zyklus auf einer höheren Stufenleiter noch mehr lebendiges Arbeitsvermögen anzueignen vermögen. Dies kann aufgrund von Rationalisierung einhergehen mit einer Veränderung der technisch-beruflichen Struktur oder mit einem Abbau von Arbeitsplätzen. Die Konsequenz in beiden Fällen ist die Veränderung des Durschnitts der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, also eine Entwertung von gesellschaftlicher Arbeit bei der Erzeugung der Ware Arbeitskraft und Arbeitslosigkeit sowie daraus resultierender Nachfrage. Die Autorität in den Fabriken kann zu Ineffizienz, zu Kämpfen gegen Vorgesetzte, zu Sabotage führen. Da die Produktion von Mehrwert ein Zweck ist, können solche Prozesse der Arbeitslosigkeit, der Lohnkämpfe, des Nachfrageausfalls, der Autoritätskonflikte aufgrund von Erfahrungen antizipiert werden. Erwartungen können stabilisiert, das Eintreten der blinden Naturgesetzmäßigkeit verzögert, ihre Wirkungen gemildert werden.

In seinen Analysen betont Marx immer wieder, dass ihn nicht die endlose Zahl von Einzelfällen, die Oszillationen am Markt, die konkrete Konkurrenz, das Entstehen und der Untergang von Unternehmen oder einzelnen nationalen Ökonomien, nicht die konkreten Arbeitskämpfe interessieren. Relevant ist für ihn, dass es sich - im Unterschied zu voran gegangenen Produktionsweisen - um Vorgänge handelt, die zahlreich und regelmäßig wiederkehrend stattfinden und an denen jeweils sehr viele Individuen beteiligt sind. Die wirkliche Bewegung der Konkurrenz liege außerhalb seines Plans und er habe „nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt" darzustellen (MEW 25: 839). Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Formulierung zu verstehen. Im einen Fall wird „Durchschnitt" als etwas historisch Unspezifisches verstanden, so wie die Dinge im Regelfall idealerweise stattfinden. Doch da Marx auf jeder Stufe seiner Darstellung immer wieder darauf hinweist, dass sich die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals als Prozesse einer Durchschnittsbildung durchsetzen, lässt sich der Begriff des „idealen Durchschnitts" auch als eine Art Durchschnitt der Durchschnitte begreifen. In diesem Sinn wäre der „ideale Durchschnitt" das, was Marx als „Begriff" oder „allgemeinen Typus" des Kapitalverhältnisses charakterisiert, wenn er schreibt: „In solcher allgemeinen Untersuchung wird überhaupt immer vorausgesetzt, daß die wirklichen Verhältnisse ihrem Begriff entsprechen, oder was dasselbe, werden die wirklichen Verhältnisse nur dargestellt, soweit sie ihren eignen allgemeinen Typus ausdrücken." (MEW 25: 152) Es geht also nicht darum, welche Einzelereignisse auftreten, sondern allein um eine Masse von Ereignissen; auch nicht darum, dass an jedem Punkt des Kapitalkreislaufs Störungen auftreten können und damit schon das Gelingen des Kapitalkreislaufs selbst etwas Unwahrscheinliches und Krisenhaftes ist. Für Marx ist entscheidend die Perspektive des Durchschnitts. Aus seiner Sicht kommt im Durchschnitt aller Bewegungen der Kapitalkreislauf zustande. Dazu gehören die Konkurrenz der Einzelkapitale, die Arbeitskämpfe und sozialen Proteste, die unterschiedliche Autonomie des Staates vom Kapitalkreislauf. Nur durch alle diese Bewegungen hindurch kommt die Verwertung des Kapitals zustande. Insofern gehört zu diesem Kreislauf die Utopie der immerwährenden Prosperität ebenso wie die ständige Erwartung darauf, dass Krisen und Konflikte ausbrechen, die den Kreislauf unterbrechen. Für Marx ist die Frage, was in der langen Tendenz, also im Durchschnitt vieler Einzelereignisse und Pendelausschläge der Produktionsweise insgesamt geschieht: Phasen der Prosperität und der Krise, die in kurzen und langen Rhythmen wechseln, soziale Kämpfe, in denen über Jahrzehnte hinweg zyklisch soziale Akteure in historisch spezifischen Identitätsformen langanhaltende Konflikte austragen. Im Durchschnitt der Bewegungen wiederholen sich die Probleme auf jeweils höherer Stufenleiter: das Themen des Wahlrechts und der Art der Demokratie, das Verhältnis zur Natur, die Frage des Rassismus, das Geschlechterverhältnis. Im idealen Durchschnitt kreist die kapitalistische Produktionsweise in langen Rhythmen um sich selbst und löst keines der von ihr geschaffenen Probleme. Allerdings nimmt Marx an, dass sich langfristig im Durchschnitt dieser Bewegungen auch eine Tendenz zur Emanzipation behauptet. Denn es gibt die stetige Tendenz zur Akkumulation des gesellschaftlichen Reichtums, der in kapitalistischer Form nicht mehr reproduziert werden kann, also eine Tendenz zur Vergesellschaftung der privaten Produzenten, die die Menschheit über die kapitalistischen Produktionsweise und die Logik des idealen Durchschnitts hinausführt. Die Bildung von Durchschnitten ist ein entscheidendes Merkmal des Kapitalverhältnisses selbst, da es sich um eine auf privater Warenproduktion beruhende Produktionsweise handelt. Im Einzelfall handeln alle frei, sie beobachten sich wechselseitig, bilden Erwartungen und Erwartungserwartungen über das Handeln anderer aus und versuchen, ihre Chancen zu optimieren. Weil ihnen alles als ungewiss erscheint, versuchen, sie die Eintrittswahrscheinlichkeit von Ereignissen zu berechnen, also Durchschnitte und Risiken zu antizipieren und sich darauf einzustellen. Erst indem sie in bestimmten Quanten vorkommen, bilden die Einzelereignisse Durchschnitte. Der Durchschnitt selbst wird gerade zur Macht über den unmittelbaren Produzenten: ihre einzelne Arbeitsverausgabung soll aus ihrer individuellen Sicht ein Produkt mit einem Wert schaffen, aber ob und welchen Wert es hat, erweist sich erst, wenn am Markt durch den Vergleich der einzelnen Waren ein Durchschnitt gebildet wurde, ein Durchschnitt, der sich im Vorgang Ware gegen Geld herstellt. In gleicher Weise verkehrt sich der von einem Kapitalisten angeeignete Mehrwert durch die Konkurrenz der Einzelkapitale in einen Durchschnittsprofit und gewinnt als solcher wiederum eine Eigendynamik. Der Durchschnitt ist demnach eine wesentliche Bestimmung des Wertgesetzes. Allein, indem sich in einer Vielzahl von einzelnen Handlungen und Vorgängen ein Durchschnitt bildet, setzt sich das Wertgesetz durch. Die Blindheit des Naturgesetzes besteht also in der Form der Durchschnittsbildung. Anders gesagt, die Individuen handeln frei und sind, in logischer Hinsicht, gezwungen, frei zu handeln, aber sie werden in dieser Freiheit immer wieder von ihren spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen eingeholt, insofern sie, ohne es ex ante immer zu wissen, Teil eines Prozesses der Durchschnittsbildung sind, den sie mit ihrem Handeln vollziehen. Mit Blick auf unsere Fragestellung lässt sich demnach sagen, dass Struktur und Handlung nicht gleichsam vertikal angeordnet sind und die Struktur das Primäre, das Handeln das Abgeleitete sind; vielmehr befinden sich beide logisch auf einer Ebene. Das Handeln der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaftsformation ist gesellschaftstheoretisch hier zunächst einmal insofern relevant, wie es „Struktur" wird; und es wird zur „Struktur", insofern es durch die Bildung von Durchschnitten eingeholt wird. Die Struktur ist nichts Drittes, die das Handeln determiniert, sondern das Handeln aller anderen bildet für die einzelnen, frei Handelnden die Struktur, da sie erst durch ihr Handeln die Verhältnisse reproduzieren, unter denen sie selbst wieder auf eine bestimmte Art und Weise handeln müssen. Marx versucht also deutlich zu machen, dass aus seiner theoretischen Sicht die Begriffe Struktur und Handeln keinen Gegensatz darstellen, da nicht das Handeln von etwas Drittem, einer Struktur, determiniert wird. Die Rede von der „Struktur" ist eine Abkürzung für den komplexen Sachverhalt, dass das Handeln der Einzelnen, das sich zu einem kollektiven Muster aggregiert, füreinander zur Determinante wird. Das Wertgesetz bezeichnet also keine zugrunde liegende Struktur, sondern gibt den Begriff für den Vollzug und die Wirkungen kollektiven Handelns.


3. Das Gesetz der großen Zahl und seine Überwindung

Marx' Überlegungen, so meine Vermutung, sind in der Geschichte der Gesellschaftstheorie einzigartig, weil er nicht nur den dinglichen Charakter von gesellschaftlichen Phänomenen in Verhältnisse auflöst, sondern zudem in Relationen, die sich im und durch das Handeln der Individuen selbst noch ständig ändern. Ungewiss ist in jedem Einzelfall, ob die Terms dieser Relationen erneuert werden. Entscheidend für den gesellschaftlichen Prozess ist, was im Durchschnitt der Fall ist. Entsprechend ist Gegenstand der Theorie der Prozess der Bildung von Durchschnitten und deren Folgen. Meinem Eindruck nach wurde die Bedeutung der Marxschen Auffassung, wonach die bürgerliche Gesellschaftsformation in ihrer Gesamtheit eine von statistischen Ereignissen, Normalverteilungen und Durchschnitten bestimmte Form der Vergesellschaftung ist, nur wenig zum Gegenstand der gesellschaftstheoretischen Diskussion. Es gibt jedoch einzelne Hinweise. Auf einige von ihnen möchte ich im Folgenden zu sprechen kommen. Studien zur Normalisierung lasse ich hier außer Betracht, weil sie trotz zahlreicher innovativer Überlegungen nicht die kapitalistische Gesellschaftsformation als Ganze zum Gegenstand nehmen (vgl. insbesondere Link 2006; Sohn/Mehrtens 1999; Schmidt-Semisch 2000).

Michel Foucault hat in seiner 1978 gehaltenen Vorlesung über „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung", die sich mit der Genealogie der Politischen Ökonomie als Technologie der Regierung befasst, nachgezeichnet, wie sich die Logik der Regierung von Einzelereignissen vermittels statistischer Verteilungen, Normalitätskurven und Durchschnitten gebildet und zur Formierung entsprechender Regierungsobjekte geführt hat: also die Bevölkerung, die Ökonomie, die Gesellschaft. Er zeigt, dass der Entstehung der Politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert eine neue Haltung zugrunde liegt, die das Phänomen des Nahrungsmangels nicht mehr in moralischen Begriffen versteht und deswegen verhindern will, sondern als „ein Arbeiten im Element dieser Wirklichkeit selbst" verstanden werden kann (Foucault 2004: 63). Die Dinge ereignen sich, auch wenn man sie nicht für wünschenswert hält. Es geht darum, die Dinge laufen zu lassen, die Zirkulationen zu begünstigen und dann nach den Gesetzen und Prinzipien der Realität selbst zu steuern. Entsprechend soll der Nahrungsmangel nicht mehr verhindert werden, sondern andere Elemente der Wirklichkeit sollen im Verhältnis zu ihm in Gang gesetzt werden, die ihn aufheben. Vergleichbares findet im Verhältnis zu Krankheiten statt. Die Krankheit wird nicht mehr gefürchtet, sondern es wird die Verteilung der Fälle in einer Bevölkerung beobachtet. Damit wird das Risiko für die einzelnen Individuen berechenbar, von einer Krankheit betroffen zu werden. Es wird erkennbar, dass die Risiken variieren und für die Individuen sehr ungleich verteilt sind. Es lassen sich wahrscheinliche Morbiditäts- und Mortalitätskoeffizienten berechnen und Normalitätserwartungen hinsichtlich der Häufigkeit ausbilden. Es lassen sich verschiedene Normalitäten unterscheiden und selbst wiederum in ein Verhältnis zueinander setzen, so dass sich abweichende Normalitäten von einer normalen, allgemeinen, durchschnittlichen Kurve der Normalität unterscheiden lassen. Die Regierungstechnologie besteht dann darin, die ungünstigen Kurven den günstigeren anzunähern. „Wie haben hier also etwas, das vom Normalen ausgeht und sich bestimmter Aufteilungen bedient, die für normaler als die anderen, jedenfalls für günstiger als die anderen gehalten werden. Es sind diese Aufteilungen, die als Norm dienen. Die Norm ist ein Spiel im Inneren der Differential-Normalitäten. Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab." (Foucault 2004: 98) Damit entsteht neben der Souveränitäts- und der Disziplinarmacht, die darauf beruhen, den Willen des einen kontinuierlich und erschöpfend an einen anderen weiterzugeben, eine dritte Form der so genannten Bio-Macht, die die Bevölkerung als ganze zum Gegenstand hat. Diese Macht stimme die Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation ab. Sie „war gewiß ein unerläßliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre" (Foucault 1977: 168). Zur regulierenden Kontrolle der Bevölkerung entstanden eine Vielzahl von Wissen-Macht-Techniken, die die „großen Zahlen" verwalten und regieren, die Fortpflanzung, die Geburten und Todesfälle, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer zum Gegenstand hatten: die Statistik, die Demographie, die Epidemiologie oder die Ökonomie (vgl. dazu auch Desrosières 2005).

Wenn Foucault die Entstehungsphase der Logik des Durchschnitts und damit verbunden der Ökonomie und Gesellschaft als Gegenstände des Regierungswissens untersucht, so haben Horkheimer und Adorno bestimmte Aspekte in den Blick genommen, die sie als Merkmale einer neuen Form der Beherrschung der Individuen durch ihre Reduktion auf konformierende Angehörige von Massen zu bestimmen versuchten. Beherrschung der Individuen findet demnach nicht primär repressiv statt. Auf einer neuen historischen Stufe der Kapitalakkumulation wird noch die freie Zeit der Individuen, in der sie sich zuvor der Logik des Verwertungs- und Arbeitszwangs entziehen konnten, als Freizeit der Kapitalverwertung unterworfen. Mit den konsumtiven Verhaltensmustern während der Freizeit - also Mediennutzung, Sport, Inneneinrichtung ihrer Wohnungen oder Automobilität (Ausflüge am Wochenende, Autokino) - tragen die Individuen dazu bei, dass sich neue Bereiche der Kapitalverwertung und Kapitalfraktionen bilden können. Damit wird die Sphäre der Kultur von einer Sphäre, in der Distanz, Muße und Reflexion möglich war, zu einer Sphäre der Herrschaft. Die Lenkung der Individuen findet durch das „Gesetz der großen Zahl" statt: also dadurch, dass viele das Gleiche tun und sich wechselseitig daran orientieren, was die anderen tun oder haben (das Haus, das Auto, den Urlaub) und alles preiswert überhaupt nur zu erhalten ist, wenn es in großen Mengen zur Verfügung steht: der Kinofilm, der Gewinn nur bringt, wenn Millionen ihn sehen; die Millionen, die alle dieselben TV-Programme schauen, das standardisierte Reihenhaus, das Automodell, das sich nur geringfügig in der Ausstattung oder dem Design unterscheidet, der einsame Strand, an dem sich alle Mitreisenden desselben Reiseunternehmens wieder treffen. Die ‚Masse' wird zur Rechtfertigung von Produkten, die die ‚Masse' erst herstellen. „Die Logik ist demokratisch, in ihr haben die Großen vor den Kleinen dabei nichts voraus. Jene gehören zu den Prominenten wie diese zu prospektiven Gegenständen der Wohlfahrtspflege. Wissenschaft im allgemeinen verhält sich zur Natur und zu den Menschen nicht anders als die Versicherungswissenschaft im besonderen zu Leben und Tod. Wer stirbt, ist gleichgültig, es kommt aufs Verhältnis der Vorfälle zu den Verpflichtungen der Kompanie an. Das Gesetz der großen Zahl, nicht die Einzelheit kehrt in der Formel wieder." (Horkheimer, Adorno 1947: 107) Gleichwohl werden der freie Wille und die Entscheidungsfreiheit des Konsumenten, sein je klassenspezifischer Geschmack, der Spaß und das Vergnügen angereizt, um den Verkauf zu fördern. In Foucaultschen Begriffen gedacht, geht es darum, die Streuung in den Verhaltensweisen der Individuen zu vergrößern und diese zirkulieren zu lassen, so dass sie glauben können, sie verfolgten ihre aufgeklärten Ziele als freie Bürger. Sie werden ständig dazu aufgefordert, sich als Besondere zu sehen: Teilnahme an Schönheitswettbewerben, Song-Contests, Preisausschreiben, Lotterien. Alle machen mit, damit einzelne das Glück trifft. Die Besonderheit wird egalisiert in der Form des Glück-Habens, des Zufalls. „Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat. Die Befreiung, die Amusement verspricht, ist die von Denken als von Negation. ... Trotzdem ist es mit dem bei der Stange Halten immer schwieriger geworden. Der Fortschritt der Verdummung darf hinter dem gleichzeitigen Fortschritt der Intelligenz nicht zurückbleiben. Im Zeitalter der Statistik sind die Massen zu gewitzigt, um sich mit dem Millionär auf der Leinwand zu identifizieren, und zu stumpfsinnig, um vom Gesetz der großen Zahl auch nur abzuschweifen. Die Ideologie versteckt sich in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nicht zu jedem soll das Glück einmal kommen, sondern zu dem, der das Los zieht, vielmehr zu dem, der von einer höheren Macht - meist der Vergnügungsindustrie selber, die unablässig auf der Suche vorgestellt wird - dazu designiert ist. Die von den Talentjägern aufgespürten und dann vom Studio groß herausgebrachten Figuren sind Idealtypen des neuen abhängigen Mittelstands." (Ebd.: 170f)

Horkheimers und Adornos Analyse bewegt sich im Horizont der fordistischen Regulierung von Marktprozessen. Die Überlegungen von Marx gelten im Prinzip, müssen jedoch modifiziert werden. Marx nahm an, dass sich der Durchschnitt erst ex post bildet und sich das Wertgesetz hinter dem Rücken der Akteure durchsetzt, diese also die Durchschnittsbildung nicht antizipieren. Doch trifft dies für den Fordismus nicht zu. Vielmehr können sich die Akteure auf die Bildung des Durchschnitts selbst einstellen, und sie können sein Eintreten versuchen, ex ante selbst noch zu organisieren (vgl. Lipietz 1985). Es geht also darum, bestimmte Regelmäßigkeiten nicht nur zu beobachten und zu erwarten, sondern das Eintreten bestimmter Ereignisse zu fördern: Häufigkeit, Intervalle, Rhythmus, Intensität, Dauer. Die Arbeit des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters und die kollektiven Gewohnheiten der Bevölkerung werden dahingehend aufeinander abgestimmt und reorganisiert, dass erwartbare und kalkulierbare Regelmäßigkeiten eintreten. Der Durchschnitt setzt sich dann nicht einfach nur blind durch, sondern wird von einer Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren selbst wiederum zum Gegenstand einer Praxis gemacht: sozialstaatliche Agenturen, Schulen, Medizin, Psychologie, Soziologie. Entsprechend werden Ressourcen, Infrastrukturen, Ausbildungseinrichtungen, das Steueraufkommen und die staatlichen Ausgaben geplant. Der Staat bemüht sich, durch Infrastrukturförderung, Besteuerung und Transferleistungen, durch politische Appelle und konkrete Programme die Bevölkerung zu bestimmten Gewohnheiten zu erziehen und eine regelmäßige Nachfrage zu erzeugen, so dass die Unternehmen in einer berechenbaren Größenordnung - economies of scale - mittelfristige Perspektiven für Kapitalvorschüsse, Arbeitskräftebedarf, zu erwartende Rückläufe, für Produkte und Produktionsverfahren entwickeln können. Die Konsumenten werden durch Konsumforschung, Meinungsbefragung, Kundenprofilbildung, Werbung, Fernsehprogramme, medizinische Beratung und durch das Ganze kulturindustrialisierter Lebensgewohnheiten zu regelmäßigen Gewohnheiten auf hohem Aggregationsniveau angehalten. Auf diese Weise wird ein bestimmtes arbeitsteiliges Verhältnis von Unternehmen und Branchen, den entsprechenden Arbeitskräften, Ausbildungen, Wohnungen, Verkehrswegen und Konsum geschaffen. Die Dynamik ist gering, die Profitraten sind langfristig stabil und auf einem niedrigen Niveau - was über einen längeren Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kapitaleignern hingenommen wurde (vgl. Harvey 2007). Denn aufgrund staatlicher Maßnahmen tragen auch solche Unternehmen zur Bildung der Durchschnittsprofitrate bei, die dem fortgeschrittenen Stand der Produktivitätsentwicklung nicht entsprechen. Dem wird von neoliberaler Seite ein Begriff von Planung entgegen gestellt, demzufolge mit dem Markt geplant werden soll, d.h. Kapital, dessen Produktivität sich in der Konkurrenz nicht gering erweist, soll nicht durch staatliche Maßnahmen gerettet, sondern antizipierend zerstört werden, um den Markt ‚proaktiv' zu bereinigen. Doch trotz solcher Planungen, die den Durchschnitt der gesellschaftlichen Verhältnisse betreffen, ist der Durchschnitt nicht unter der Kontrolle der gesellschaftlichen Akteure, sondern bleibt eigenmächtig. Die Freiheit der Individuen bleibt also eine eingeschränkte.

Weder Foucault noch die Vertreter der älteren Kritischen Theorie sprechen so klar die politische Konsequenz der Analyse des Gesetzes der großen Zahl und der Normalverteilungen an wie Gramsci in seinen Gefängnisnotizen. Gramsci hat das Problem der rationalen Proportionen in der Bevölkerungszusammensetzung vor Augen, also das, was Marx unter dem Blickwinkel des Zusammenhang von technischer und wertmäßiger Zusammensetzung des Kapitals diskutiert. Um von einer bestimmten Ware eine größere Menge als zuvor erzeugen zu können, kann die Quantität sehr plötzlich einen qualitativen Aspekt aufweisen. Es bedarf für den Produktionsprozess größerer Gebäude oder größerer Mengen an Rohstoff, einer größere Zahl von Arbeitskräften oder einer veränderten Organisation des Arbeitsprozesses, der Aufsicht und Kontrolle, Infrastrukturen für die Distribution etc. Die mengenmäßigen Anforderungen, die der Produktionsprozess stellt, stehen in einem proportionalen Verhältnis zueinander, das gestört werden und zu Konflikten führen kann (vgl. MEW 23: 366ff). Für eine bestimmte Menge von anzuliefernden Rohstoffen bedarf es im Durchschnitt einer bestimmten Menge an Transportkapazitäten oder im Durchschnitt einer bestimmten Menge an Arbeitskräften mit einer bestimmten Qualifikation. Die Bevölkerung kann also dem Alter oder Geschlecht, der Region, der Ausbildung oder Arbeitsmoral nach falsch zusammengesetzt sein, so dass sie sich für die Ausdehnung der Produktion als eine Grenze erweist. Da in der bürgerlichen Gesellschaftsformation solche Verteilungen nicht systematisch geplant sind und geplant werden sollen, setzen sie sich nur im Sinne von statistischen Regelmäßigkeiten durch, also wiederum in Durchschnittsgrößen. Gramsci spricht deswegen vom Gesetz der großen Zahl, das er selbst wiederum als eine Metapher für gesellschaftliche Kräftekonstellationen deutet. „Man kann diese Überlegungen zum Anlaß nehmen, um festzustellen, was ‚Regelmäßigkeit', ‚Gesetz', ‚Automatismus' bei den historischen Tatsachen bedeutet. Es handelt sich nicht darum, ein metaphysisches Gesetz à la ‚Determinismus' zu ‚entdecken', und nicht einmal darum, ein ‚allgemeines' Kausalitätsgesetz festzustellen. Es handelt sich darum, zu sehen, wie sich in der allgemeinen Entwicklung relativ ‚dauerhafte' Kräfte bilden, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit und einem gewissen Automatismus wirken. Auch das Gesetz der großen Zahl, obwohl es sehr nützlich ist als Vergleichsgröße, kann nicht als das »Gesetz« der gesellschaftlichen Tatsachen unterstellt werden." (Gramsci 1991ff.: 1015) Das politische Ziel ist Gramsci zufolge, diese Logik des Durchschnitts und damit vor allem das Gesetz der großen Zahl zu überwinden, wie sie für die Logik der Kapitalverwertung charakteristisch sind: „In der Tat ist in der Politik die Übernahme des statistischen Gesetzes als schicksalhaft wirkendes Wesensgesetz nicht nur wissenschaftlicher Irrtum, sondern wird politischer Irrtum in actu; außerdem begünstigt sie die Denkfaulheit und die programmatische Oberflächlichkeit. Es muß bemerkt werden, daß die politische Handlung gerade darauf gerichtet ist, die großen Massen aus ihrer Passivität hervortreten zu lassen, also das Gesetz der großen Zahl zu zerstören; wie kann dies also für ein soziologisches Gesetz gehalten werden?" (Ebd.: 1424).

Das die angeführten Autoren von Marx bis Foucault vereinigende Ziel ist es, das Gesetz der großen Zahl historisch zu überwinden. Dies wirft die Frage der Politik auf. Alle vertreten sie ebenfalls die Ansicht, dass auch die Politik selbst als Handlungssphäre zu überwinden sei. Auch das Verhältnis zwischen der Politik und der Ökonomie unterliegt den Gesetzmäßigkeiten des Durchschnitts: Politiker können glauben, unabhängig zu handeln, bis sie wieder daran erinnert werden, dass der Staat ein Ausschuss der gesamten bürgerlichen Klasse ist. Aber was bedeutet dies für das emanzipatorische Handeln selbst. Denn immer wieder wurde diesen Autoren vorgeworfen, dass sie letztlich eine systemtheoretische Sicht vertreten, die ein radikales emanzipatorisches Handeln nicht wirklich denkbar macht und am Ende zu Pessimismus führen muss. Umgekehrt stellt sich bei vielen, die eine emanzipatorische Praxis verfolgen, die Enttäuschung und Sorge ein, dass alles nur zur erneuten Stabilisierung des Systems beiträgt, das scheinbar die unerschöpfliche Fähigkeit zum Lernen und zur Selbstadaption besitzt. Es nicht so aporetisch, und dennoch ändert dies nichts an der Forderung von Foucault und Gramsci, ultrarealistisch zu sein.

Da die Individuen frei sind, orientieren sie sich wohl oft an den durchschnittlich zu beobachtenden Handlungen der anderen, brechen aber auch mit diesen kollektiven Gewohnheit. Denn eine solche konformistische Orientierung, das zu tun, was alle tun, weil alle es tun, wird zwar in vielen Hinsichten gefordert und mittels Disziplinartechniken eingeübt, trägt aber wiederum oftmals zu einer Verschlechterung der eigenen Wettbewerbschancen bei. Individuen weichen von der Normalität des Durchschnitts ab und probieren Neues und Anderes aus, weil auch das zu den Normalitätserwartungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation gehört. Sie sind aufgefordert, frei zu sein und abweichend zu handeln. Ein Durchschnitt kann sich nur bilden, wenn es eine gewisse Streuung der Verhaltensweisen gibt. Öffentlich geäußerte Kritik und Protest, Bemühungen um ökonomische Selbständigkeit, Bildungsaufstieg, Kampf um höhere Löhne und Streik, Fabrikbesetzungen und Versuche der unmittelbaren Produzenten, die Produktionsmittel in eigener Regie zu nutzen, Eskapismus oder Ausstieg. Diese Freiheit, etwas Neues auszuprobieren, stellt zunächst einen gewissen Bruch mit vorhandenen Reproduktionskreisläufen dar. Dies hat zur Folge ist, dass es in der „Kerngestalt" der kapitalistischen Produktionsweise selbst ständig zu Veränderungen kommt, zu Transformationen der transformierenden Dynamik, damit sie gleich bleiben kann: neue Konsummuster, Wohn- und Besiedlungsformen, Alltagsgewohnheiten wie Sport, Kino, Musik, neue Arbeitsformen und Herrschaftstechniken, in denen sich in veränderter Gestalt das Wertgesetz als Gesetz der großen Zahl wieder behauptet. Die bürgerliche Klasse ändert ihre Identität und ihre Lebensweise ebenso wie die Art und Weise, wie sie die Produktionsprozess organisiert, den Mehrwert auspresst und aneignet. Die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse sind gerade derart, dass sie sich permanent ändern. Die Prozesse gesellschaftlichen Handelns und die daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Regelmäßigkeiten lassen sich nicht von den ökonomischen Kreisläufen trennen und greifen in deren Gestalt selbst ein. Gleichzeitig stabilisieren sich die Veränderungen wiederum auf der Grundlage neuer Durchschnitte, an denen Differential-Normalitäten gemessen und ausgerichtet oder stärkere Abweichungen bekämpft werden. Entscheidend ist, dass die herrschenden Kräfte die Möglichkeit haben, die Radikalität der Streuung und das Tempo der Veränderung selbst noch zu kontrollieren, um Kontinuität herzustellen. Dies gelingt ihnen aber nur, wenn sie sich und ihre Herrschaftstechniken im Durchschnitt selbst noch ändern.

Die Logik des Wertgesetzes und des Durchschnitts bringt also den Widerspruch hervor, dass es Veränderung und Dynamik ebenso wie Statik und Ordnung gibt, dass es ohne diese Bewegung zwischen beiden unter den gegebenen Verhältnissen nicht geht. Weder kommt es zum geschlossenen System durch zu viel Integration, noch zu einem Zustand freier Assoziation. Gerade die Logik des Durchschnitts verlangt als nicht selbstbestimmtes Verhältnis die ständige Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Abweichung von diesen. Daraus erwächst auch regelmäßig die Tendenz zu emanzipatorischem Handeln, es selbst ist ein fester und regelmäßiger Bestandteil im gesamten Reproduktions- und Selbsttransformationsprozess der bürgerlichen Gesellschaft. Die Radikalisierung der Praktiken, die kritisch die kollektiven Gewohnheiten in Frage stellen, polarisiert die Gesellschaft, stellt eine Situation der offiziellen Nichtidentität dieser Gesellschaft her und führt wiederum regelmäßig und auf immer neuen historischen Niveaus zu Ansätzen des Bruchs. Versuche zu diesem Bruch wiederholen sich in immer neuen Konstellationen. Die Emanzipationsversuche selbst vergesellschaften sich historisch und reichern sich an: sie erfassen weitere räumliche Gebiete, mehr Menschen, beschränken sich nicht mehr auf Staaten, Unternehmen und nationale Ökonomien, sondern umfassen viele soziale Verhältnisse: die Ausbeutungs-, die Natur-, die Geschlechter-, die rassifizierten und nationalisierten Verhältnisse. Aber anders als Adorno vermutete, bleibt auch das Scheitern nicht einmalig, die Katastrophe und die Barbarei haben nicht ein für allemal stattgefunden, sondern auch das Scheitern wiederholt sich im Durchschnitt: Rückfall hinter die Menschenrechte auch in zivilisierten Staaten, Hunger und Krankheit bei Milliarden, Völkermorde, menschengemachte Naturzerstörung planetarischen Ausmaßes. Wie das ausgeht, ist ungewiss - aber auch das ist kein Trost. Der Durchschnitt ist Barbarei, weil die unverwechselbaren Ansprüche aller Individuen und diese selbst geopfert werden.


Literatur

Demirovic, Alex (1989): Die hegemoniale Strategie der Wahrheit. Zur Historizität des Marxismus bei Gramsci, in: Die Linie Luxemburg-Gramsci. Zur Aktualität und Historizität marxistischen Denkens, Hamburg.
Demirovic, Alex (2006): Intellektuelle zwischen Fordismus und Postfordismus, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7-8/2006.
Demirovic, Alex (2008): Das Wahr-Sagen des Marxismus: Foucault und Marx, in: PROKLA 151.
Desrosières, Alain (2005): Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Heidelberg.
Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main.
Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt am Main.
Gramsci, Antonio (1991ff): Gefängnishefte, Hamburg.
Harvey, David (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich.
Heinrich, Michael (2004): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart.
Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987.
Levine, Norman (2007): Ein neues Zeitalter der Marx-Interpretation, in: Widerspruch, Nr. 53.
Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen.
Lipietz, Alain (1985): Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise, in: PROKLA 58.
Marx, Karl (1852): Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1972.
Marx, Karl (1859): Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1974.
Marx, Karl (1867): Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1969
Marx, Karl (1871): Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich", in: MEW, Bd. 17, Berlin 1973
Marx, Karl (1894): Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1969
Ritsert, Jürgen (1973): Probleme politisch-ökonomischer Theoriebildung, Frankfurt am Main.
Schmidt-Semisch, Hennig (2000): Selber schuld. Skizzen versicherungsmathematischer Gerechtigkeit, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main.
Sohn, Werner, Mehrtens, Herbert (Hrsg.) (1999): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Wiesbaden.
Wolf, Frieder Otto (2007): Kapital-Lektüre und Herrschaftskritik, in: Widerspruch, Nr. 53.

----------
Dieser Artikel erschien zuerst in PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 159, 40. Jg., 2010, Nr. 2, 153-176