Von der negativen Seite

in (28.04.2025)

Das Scheitern Linken war stets mit ihren Erfolgen verknüpft. Mal entstand es aus dem Inneren der Emanzipationsansprüche heraus, mal war es der Stärke des Gegners geschuldet. Endgültig ist es nie. 



Fangen wir etwas allgemeiner an: geschichtsphilosophisch. Ich will damit sagen, dass das Scheitern nichts Spezifisches für die Linke ist. Es scheitern vor allem die Herrschenden. Sie herrschen im Namen des Besser- und des Führungswissens, des Überlebens des Kollektivs, der Verantwortung und Leistung. Dafür lassen sie zerstören, morden, foltern, verarmen. Sie wissen es nicht besser. Sie können es nicht. Sie entziehen sich der Verantwortung.
Die Geschichte muss von ihrer negativen Seite her gedacht werden. Aber das tun wir nicht gern. Es ist uns unangenehm; wir wollen die Ungeheuer nicht wahrnehmen, die die herrschenden Verhältnisse ausbrüten. Die Autoindustrie soll wachsen, denn andernfalls geht es der Wirtschaft schlecht – aber von den vielen Menschenopfern durch Feinstaub, Emissionen, Verkehrstoten und -verletzungen, den Ängsten im Auto wird nur selten berichtet. Wenn über Schauspieler*innen, die Sänger*innen und Musikbands, die Künstler*innen, über all die, die sich den Fotoshootings, den Castings, Auswahlwettbewerben von Deutschland sucht den Superstar oder Voice of Germany berichtet wird, dann geht es im Regelfall um diejenigen, die in der Kulturindustrie aufsteigen, Erfolg haben. Wenn Janis Joplin oder Jimi Hendrix so früh verstarben, dann scheint dies noch ihr Genie zu bestätigen. So kann man sich irgendwie mit dem Scheitern versöhnen und all die Menschenopfer, die negative Seite des auf Erfolg, Aufstieg, Einschaltquoten und Einkommen getrimmten bürgerlichen Kulturapparats verdrängen. Von all den Vielen, die nicht aufsteigen oder wirklich gescheitert sind, die in die Pornoindustrie und Sexarbeit gedrängt wurden, die von Drogen abhängig wurden, die sich mit miesen Jobs im Kulturbereich über die Runden halten, die irgendwann aufgeben und eine bürgerliche Familie gründen, ist nicht die Rede. Das gilt auch für die vielen Künstler*innen oder die Vielen, die vielleicht Kunst machen würden, deren Existenzangst, privater Druck in den privaten Beziehungen, Sorge um die Kinder oder die eigene Zukunft sie daran hindert. Es gehört dazu, dass Künstler*innen darben. Dadurch soll ihre Kreativität angeregt werden.
Solche Phänomene gibt es auch in der Politik. Wir haben die Befreiungsbewegungen geliebt in der Phase ihres Erfolgs: die Sandinist*innen in Nicaragua, Chavez in Venezuela, Morales in Bolivien, die FLN in Algerien, die MPLA in Angola. Aber was danach kam, wurde lange ignoriert. Auch im Kleinen gibt es das: diejenigen, die sich engagieren, eine Situation bestimmen, definieren, was links oder sozialistisch oder kommunistisch ist, die dann nach einer Weile ausscheiden aus dem Prozess, weil sie sich übernommen haben, weil sie ihren Ansprüchen nicht gerecht werden, weil sie den Misserfolg nicht ertragen, weil sie sich anpassen an die herrschenden Verhältnisse, die gutes Leben und Karriere versprechen. Doch bis dahin haben sie vielleicht Kriterien und Maßstäbe behauptet oder gar durchgesetzt, die andere, die sich vielleicht auch hätten engagieren wollen, abdrängen, verärgern, resignieren lassen. Das Nicht-Scheitern oder anders: der Erfolg ist kontingent und unwahrscheinlich. Analoges lässt sich auch über die Sphäre der Wissenschaft sagen.
Etwas allgemeiner gesprochen: Die bürgerliche Gesellschaft von ihrer negativen Seite aus zu betrachten, war ein Vorschlag von Immanuel Kant. Die Geschichte entwickele sich durch Kriege, Folter, Zerstörung hindurch. Kant war optimistisch. Es sei der geheime Plan der Natur, der hier die ungeselligen Menschen durch ihre gemeinsame Leiderfahrung dazu dränge, endlich jene Institutionen zu bilden, die ihnen den Frieden bringen würden. Wir können sagen: durch das Scheitern der Menschen hindurch – sowohl der Einzelnen wie ihrer Gesellschaften – kommt es schließlich zur Versöhnung. Ein großartiger Gedanke. Von Marx wurde er aufgenommen und materialistisch gewendet. Demnach gibt es keinen geheimen Plan der Natur. Alles ist Ergebnis der Freiheit und der Kämpfe zwischen den Menschen ohne irgendeine Garantie. Die Menschen scheitern an sich selbst. Deswegen müssen sie radikal sein, also an die Wurzel gehen. Die Wurzel sind sie selbst. Sie sind frei. Sie sollen also nicht irgendeinen Gott verantwortlich machen, nicht irgendeine kapitalistische Ökonomie oder eine Supermacht. Alles Ausreden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, sie sollen innerweltlich denken und ihre Freiheit dazu verwenden, die Verhältnisse zu ändern, unter denen sie leben. Der Materialismus darf nicht missbraucht werden, um die Macht des Faktischen anzubeten und herunterzuleiern, dass die große Macht der objektiven Verhältnisse leider nichts zu verändern erlaube. Die Menschen leben unter nicht selbst gewählten Verhältnissen, die sind Ergebnis früherer Kämpfe, aber sie können diese Verhältnisse in aller Freiheit verändern. Sie nicht zu verändern, heißt scheitern.
Die Aufklärung und die Linke scheitern seit Jahrhunderten. Die bürgerlichen Kräfte konnten sich herausbilden durch Landeinhegungen, durch die Privatisierung der Commons im 17. Jahrhundert, durch die blutige Drangsalierung derer, die von ihren Höfen und aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Den Arbeiter*innen in England gelang es nicht, dem amerikanischen und französischen Vorbild folgend, eine Revolution für die Republik und das Wahlrecht durchzusetzen. Im revolutionären Frankreich scheiterten die, die für eine soziale Revolution kämpften und soziale Gleichheit einforderten, am jakobinischen Terror. Es kam eine lange Periode der Restauration. Dem Juni-Aufstand von 1848, in dem die Arbeiter*innen die soziale Republik, also Kommunismus forderten, folgte für zwanzig Jahre die Ausnahmeherrschaft von Louis Bonaparte. Ein Höhepunkt der sozialen Kämpfe um Emanzipation war die Pariser Kommune 1871, auch sie scheiterte. Der Ort der Revolution verlagerte sich hin zur Dreifachrevolution in Russland: 1905, Februar 1917, Oktober 1917, zu den Revolutionen in Deutschland, Österreich, Italien. Das erschien den Zeitgenoss*innen als Beginn einer neuen Zeitrechnung – nach Jahrtausenden der Klassenherrschaft wurde die Wiederholung des Immer-Gleichen unterbrochen. Aber doch auch nur für einen kurzen Moment. Denn aus dem Innern der Emanzipationsbewegung erwuchsen die stalinistischen Säuberungen. In Westeuropa wurde der restaurative Prozess gegen die demokratische Republik und eine daraus sich ergebende sozialistische Dynamik von der faschistischen Gegenrevolution organisiert. Für die Linke war das verheerend, denn so viele wurden verfolgt, eingesperrt, aus Europa vertrieben, ermordet. Damit wurden Wissen, Beziehungen, Institutionen der Linken auf Jahre und Jahrzehnte an einer organischen Entwicklung gehindert. Verhindert wurde die reflektierte Veränderung der Verhältnisse. Es brauchte sehr viel Zeit, in Ländern wie Spanien, Österreich oder Deutschland wieder eine Linke mit ihren Diskussionen, ihren Praktiken, ihrem Wissen aufzubauen. So richtig den Alltag und den Alltagsverstand der Leute prägen konnte die Linke nicht. Der Konsumismus, der Antikommunismus, der Rassismus, das distanzierte Verhältnis zur Demokratie waren und sind starke Ideologeme, in denen der Faschismus bis heute fortlebt. 
Dies alles hatte für Jahrzehnte eine materielle Grundlage in dem, was Fordismus genannt werden kann. Er verdrängte die Erfahrung des Scheiterns: der Revolution, der Demokratie, die Erfahrung des Faschismus, des Massenmordes im Krieg und in den Lagern. Aufgrund der Erfordernisse der kapitalistischen Nachkriegsökonomie erfuhr die Arbeiterklasse eine nachhaltige Veränderung, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Die repräsentative Demokratie konnte sich etablieren, ohne weiter von der Rechten (also Faschisten, Katholiken, Monarchisten) in Frage gestellt zu werden. Auch die Linke hatte ihre Lektion gelernt: Sozialismus musste demokratisch sein oder es würde nichts; deswegen ging es um die Demokratisierung der Demokratie, um eine Vertiefung und Ausdehnung der Demokratie durch Demokratie bis hin zu einer vergesellschafteten und demokratisierten Ökonomie. Diese Erfahrung konnte sich auf eine breite Bildungsbeteiligung der Subalternen stützen; die geschlechtliche Arbeitsteilung änderte sich tiefgreifend dadurch, dass auch viele junge Frauen sich an höherer Bildung beteiligen. 
Diese soziale, historische Entwicklung zusammengefasst, war das Scheitern der Linken auf merkwürdige und widersprüchliche Weise verbunden mit ihren Erfolgen: die Gesellschaften waren demokratisch, die Lebensweise wurde permissiv, Massenelend gab es in vielen westeuropäischen Staaten nicht mehr, ein erheblicher Teil der Gesellschaft – und dies gilt insbesondere für Frauen – nahm an Bildung und Kultur teil, Wissenschaften waren breit akzeptiert und konnten auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss nehmen. Das war kein Paradies, aber es gab dem Glauben an Fortschritt doch neue Impulse: durch Widersprüche hindurch zum Besseren. Aber eigentlich war nichts gelöst: es gab Arbeitslosigkeit, Antisemitismus und Rassismus, von den Demokratien verteidigte Militärdiktaturen und Apartheidstaaten, Neoimperialismus und neokoloniale Ausbeutung von Menschen und Natur, sexualisierte Gewalt, die Ausbeutung in den Fabriken erreichte ein neues historische Niveau, die Disziplin in den Schulen und Hochschulen war unerträglich. Die demokratische Partizipation wurde immer wieder durch die Parteien und die Korruption hintertrieben. Neue Formen der Macht bildeten sich. Die Produktivität staatlicher Gewalt und militärischen Tötens ging mit neuen Überwachungsmethoden, Aufrüstung der Polizeien, Erfindung neuer Folterpraktiken, mit Tötungsmaschinen wie Drohnen oder Lagern wie Guantanamo, den Atombomben bis ans Unvorstellbare einer Selbstzerstörung der Menschheit. Der Kapitalismus änderte sich und blieb doch das, was er war – auf höherer Stufenleiter.
Die Linke hatte enorme Analyseinstrumente entwickelt, einen Schatz an kulturellen Erfahrungen, eng verbunden mit Bildungsprozessen und Demokratie. Sie initiierte breite soziale Bewegungen zu vielen Themen: Verkehr, Wohnen, Ernährung, Geschlechterverhältnisse, Arbeit, Demokratisierung. Mit ihren Vorstellungen konnte sie sich in einem erheblichen Teil der Gesellschaft verankern und darauf hoffen, dass sie sich weiter ausdehnen würde. 
Der Neoliberalismus schien dieser Entwicklung bei aller berechtigten Kritik an der die Gesellschaft durchdringenden Ökonomisierung gar nicht so abträglich. Denn er konnte sich viele der neuen emanzipatorischen Praktiken aneignen und mit ihnen den Kapitalismus selbst modernisieren. Er setzte zwar vieles in Wert: das Wohnen, die Kultur, die Geschlechteremanzipation, die Bildung. Aber seine Aneignungspraxis schuf Spielräume. Die Linke wurde bekämpft, doch gefördert wurden die Zivilgesellschaft, das Ehrenamt, das bürgerschaftliche Engagement, die NGO-Szene, die Click-Demokratie. Es konnten sich auch breite soziale Bewegungen bilden, die die Naturzerstörungen, die Geschlechterverhältnisse, den Rassismus zum Thema hatten und haben.
Die von Linken vorhergesagte Finanzkrise mit ihren ökonomischen Folgen stellte einen Höhepunkt der multiplen Krise dar. Haus- und Wohnungsverlust, Obdachlosigkeit, hohe Mieten, private und öffentliche Verschuldung waren die dramatischen Folgen. Relevanten Teilen der Bourgeoise war klar, dass sie gescheitert waren. Die Linke hatte Recht behalten, der Kapitalismus war wieder einmal am Ende. Fortwährende Prosperität – dieses Mal durch die Finanzmärkte und Aktienanlagen – gab es nicht. Es entstanden seit 2011 riesige soziale Bewegungen in Nordafrika, in den USA, in Europa. Die Reaktion darauf war die Entwicklung eines autoritären Populismus und eines demokratischen Faschismus. Es kam zu Bürgerkriegen (im Irak, in Libyen, in Syrien, in Ägypten) und Einrichtung neuer autoritärer Regime.
Für die Linke war diese schnelle Wendung der Dinge überraschend. Zwar wurde die Linke bekämpft, aber es gab eine breite Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen. Trotz der Angriffe auf politische Korrektheit oder Identitätspolitik, trotz Propaganda für Männlichkeit und christliches Abendland, konnte erwartet werden, dass die Demokratie weiter ausgebaut, die Spielräume, die der Neoliberalismus bot, weiter genutzt werden konnten. Das war eine Selbsttäuschung der Linken. Es wurde mühsam für sie, sich intellektuell, programmatisch, organisatorisch zu erneuern.
Aber vor allem ist das bürgerliche Lager mehrfach gescheitert. Es musste, um die ökonomische Krise zu bewältigen, in die sie unerwartet hineinrutschte, sich immer weiter mit dem Sumpf der Rechtsautoritären einlassen, der Rechtsbeugung, dem Diebstahl, der Korruption. Dadurch wurde und wird nichts gelöst. Es ist Häme und sinnlos, wenn das bürgerliche Lager die Linke bekämpft und sich darüber freut, dass sie verliert und sich unter den Leuten, unter den Arbeiter*innen keine neuen Initiativen für Sozialismus herausbilden, für nachhaltige, versöhnte, friedliche Verhältnisse untereinander und zur Natur. Das Bürgertum, wie so oft, scheitert an den eigenen Ansprüchen: Demokratie, Emissionsbegrenzung, Wohlfahrt, Menschenrechte. Die Aufklärung scheitert wieder einmal. Aber unter Herrschaft gibt es keine letzten Siege: Wo Macht ist, ist Widerstand und das Andere. Man muss weitermachen.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 71, Winter 2024/25, „Scheitern“.


Alex Demirovic ist Apl. Prof. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und aktuell Senior Fellow am Leuphana Institute für Advanced Studies.