Zwischen Verwertung und Abwertung von Arbeitsvermögen

Aneignung und Aushandlung von Wissen in Integrationsinfrastrukturen

 

Die Krise der sozialen Reproduktion wird von feministischen Marxist*innen als Ausdruck des Widerspruchs zwischen dem Interesse an Ausbeutung und am dauerhaften Erhalt der Ware Arbeitskraft gedeutet. Dabei sind auch erzieherische, ausbildende und integrative Funktionen Bestandteil gesellschaftlicher Reproduktion. Es ist eine Herausforderung für staatliche (Infra)Strukturen Arbeitsvermögen verwertbar zu machen, ohne dass der Wert der Arbeitskraft steigt und somit das Ausbeutungsvermögen des Kapitals sinkt. Dieser widersprüchliche Prozess der zeitgleichen Entwertung der Arbeitskraft und Verwertung des Arbeitsvermögens präsentiert sich in besonderem Ausmaß im Kontext von Migration. Anhand meiner empirischen Forschung mit Subjekten und Akteuren der Arbeitsmarktteilhabe in Berlin und Brandenburg soll herausgearbeitet werden, inwiefern sich Konjunkturen der Integration im Kontext polit-ökonomischer Bedingungen und der permanenten Neuzusammensetzung der Arbeitskraft und Arbeitsteilungen wandeln (Atzmüller 2011). Dabei wird die Perspektive der Migration als zentral und konstitutiv für die Umsetzung und Fortsetzung von Arbeitsmarktpolitiken betrachtet. Durch zahlreiche Kämpfe der Migrant*innen wird die alltägliche Praxis der Politiken und Projekte ausgehandelt und angeeignet. Die Verweigerung sich einer kapitalistischen und rassistischen Regulation von Arbeit und Bildung widerstandslos unterzuordnen, kann auch zu langwierigen, wenngleich widersprüchlich bleibenden Veränderungen und staatlicher Aneignung von Integrationsdispositiven führen (Bojadžijev 2006).

Im ersten Teil werde ich diskutieren, inwiefern sich das institutionelle Integrationsvermögen seit dem Sommer der Migration neu zusammengesetzt hat. Dabei werden die widersprüchlichen und differentiellen Ansätze der Aktivierung des Arbeitsvermögens von Geflüchteten diskutiert sowie die Entstehung einer umfassenden Infrastruktur, die Integration durch die Steuerung in Bildungs-, Liefer- und Wertschöpfungsketten quasi logistisch managt (Altenried et al 2017). Im zweiten Teil werden die Konsequenzen dessen auf die Verwertung und Wertschätzung von Arbeitsvermögen analysiert. Dabei werde ich einerseits auf die enteignenden Elemente in der Integration eingehen, die – basierend auf post-kolonialen und rassistischen Vorstellungen sowie der bürokratischen und repressiven Migrationssteuerung – Sprach- und Arbeitsvermögen abwerten. Andererseits werde ich diskutieren, welche Neuerungen es mit dem Ziel der Inwertsetzung von heterogenen und durchaus auch informellen Fähigkeiten gibt, die auch durch die Forderungen und Aneignungsversuche von Geflüchteten gegenüber der Integrationsinfrastrukturen erkämpft werden.

 

Neuzusammensetzung des Arbeitsintegrationsvermögens

 

Die institutionelle und rechtliche Infrastruktur rund um die Integration von Geflüchteten seit dem langen Sommer der Migration 2015 konstituiert ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie Einwanderungsstaaten anhand von Asyl- und Migrationspolitiken versuchen, eine zeitgemäße Arbeitskraft zu reproduzieren. Dabei wirken die vorhandenen Tendenzen zur repressiven Aktivierung durch die Arbeits- und Aufenthaltsverwaltung im Workfare-Staat, aber auch rassistische und post-koloniale Diskurse. Dieser Prozess entspricht nicht einer einheitlichen Kapitallogik, sondern wird durch Reibungen zwischen Tendenzen zur Abschottung, Abwertung und Spaltung und neoliberalen Innovations- und Verwertungsbestrebungen ausgehandelt. Somit sind die entstehenden Infrastrukturen auch Ausdruck des Widerspruchs und der sozialen Kämpfe, die sie beinhalten.

 

Die zeitgemäße Aktivierung einer differentiellen Integrationsinfrastruktur

 

Eine Neuerung im Integrationsregime besteht darin, Geflüchtete vermehrt in die Arbeitsförderung einzuschließen. So wurden Asylsuchende bis Anfang 2016 laut einer Mitarbeiterin des Berliner Bleiberechtsnetzwerks von den Arbeitsagenturen „mit dem Hinweis: nicht zuständig“ (Bridge 2018) zurückgewiesen. Wie die Mitarbeiter*innen des Netzwerks wussten, haben arbeitssuchende Asylsuchende nach dem AsylbLG jedoch sehr wohl einen Anspruch auf Förderung. Allerdings wurde der Umfang des Anspruchs bald wieder reduziert, und zwar nach der gruppenbezogenen administrativen Kategorie der ‚Bleibeperspektive‘, die von der Consulting Agentur McKinsey eigens für die Bundesregierung entworfen wurde. So sollen nur Personen mit „guter Bleibeperspektive“ Zugang zu umfangreicher Förderung und somit z.B. auch Finanzierung von Anerkennungsverfahren bekommen, da diese sich voraussichtlich für längere Zeit in Deutschland aufhalten und somit auch wirtschaftlich einbringen würden. Personen aus Ländern mit vermeintlich unsicherer oder schlechter Bleibeperspektive zu fördern, lohne sich hingegen volkswirtschaftlich nicht. Eine gute Bleibeperspektive haben seit 2019 nur noch Personen aus Eritrea und Syrien und auch die vorherige Festlegung von fünf Herkunftsstaaten mit einer Anerkennungsquote von über 50% im Oktober 2015 durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz bleibt rechtlich und praktisch fraglich (Schultz 2019). Denn es ist so, - wie ein Bereichsleiter einer Arbeitsagentur mir gegenüber verlautete, „dass tatsächlich dieses Label »ich bin bald nicht mehr da« ja gar nicht stimmt, sondern der absolut überwiegende Teil ist ja trotzdem jahrelang hier“. Trotz restriktiver Asylrechte, wird ein mittel- oder langfristiges Bleiberecht oft erkämpft, während Integrationsansprüche verwehrt werden und Druck in Arbeit oder Ausbildung zu kommen erschwert Fähigkeiten einzubringen und auszubauen.

Solch angeblich pragmatisches Vorgehen kann mit dem Konzept der differentiellen Inklusion beschrieben werden. Dieses bezeichnet staatliche Regulationsmodi, die auf die zunehmend erforderte Heterogenität von Arbeiter*innen und Arbeitsverhältnissen reagieren und den Zugang zu Rechten und Ansprüchen fragmentieren (Mezzadra & Neilson 2013). Die Anerkennung vielfältiger Fähigkeiten und Eigenschaften von Arbeiter*innen war ursprünglich eine progressive Forderung in Bezug auf die homogenisierenden und entqualifizierenden Massenarbeitsverhältnisse des Fordismus. Insofern ist die Beobachtung einer meiner Interviewpartner, dass das Job Center alle gleichbehandle, ein Hinweis auf die Resilienz und Widersprüchlichkeit administrativer Systeme. Laut Mazen seien die Job Center „wirklich wie ein Rechner“, der Leute als „Zahl in den Prozessen“ wahrnehme. Die Gleichsetzung des Job Center mit Computersystemen deutet auf den logistifizierten Umgang mit den sogenannten Kunden sowie auf das Scheitern solcher logistischen Ansätze, die vielfältigen Arbeitenden und Arbeitsverhältnisse zu fassen, hin. So verweist das Konzept der differentiellen Inklusion auch auf Prozesse der sorgfältigen Selektion und Steuerung, die den Bedarfen des Arbeitsmarkts passgenau zuliefern sollen. Hinterfragt wird von meinen Interviewpartnern auch ein generelles Vermögen der Institutionen sich zu öffnen und aus Erfahrungen der Einwanderung zu lernen, wie eine Arbeitsvermittlerin aus Berlin bemängelt. Sie bemerkt, dass manche ihrer Kolleg*innen

„völlig verdrängt [haben], dass Flucht eigentlich Alltag ist in Europa und Umgebung und dass Geflüchtete auch einen großen Teil unserer Kunden ausmachen“ (Job Center 2019). Basierend auf dem Beispiel eines palästinensischen „Kunden“, erläutert sie, dass viele Erfahrungen und Frustrationen mit der fehlenden oder unangemessenen Arbeitsmarktteilhabe schon lange intergenerational gesammelt und weitergegeben wurden. Neben der fehlenden Anerkennung von Fähigkeiten, die hier angesprochen und in diesem Artikel noch ausführlicher diskutiert wird, werden von Mitarbeiter*innen der Arbeitsverwaltung vor allem die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, Unsicherheiten, Verzögerungen und Zwänge problematisiert. Die Druckmechanismen und Zielsetzungen der Arbeitsverwaltung werden weniger hinterfragt. Inwiefern aber Arbeitsintegrationsvermögen entwickelt wird, bleibt fraglich und wird im nächsten Abschnitt in Hinblick auf die vielfältige Maßnahmelandschaft und die darin verfolgten Interessen untersucht. Festzuhalten bleibt zunächst, dass es seit 2015 zu einer zunehmenden Inklusion von Asylsuchenden und Geflüchteten in die Arbeitsförderung kam, diese in ihrer bürokratischen und nötigenden sowie gleichzeitig zunehmend differentiellen Vorgehensweise jedoch konfliktreich bleibt.

 

Die Bildungs-, Liefer- und Wertschöpfungsketten der Integration

 

Abgesehen von den Zielvorgaben verschiedener Institutionen, welche den Ausländerbehörden vorgeben, Asyl abschreckend zu handhaben und der Arbeitsverwaltung, möglichst qualifiziert, schnell und langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, gibt es zahlreiche weitere Interessen, Konflikte und Versäumnisse in den Integrationsinfrastrukturen. Die polit-ökonomischen Interessen sind jedoch nicht unbedingt kohärent, sichtbar oder werden zum Teil auch verschleiert. So zweifelte eine Mitarbeiterin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Potsdam die Sinnhaftigkeit mancher Maßnahmen an und erklärt, dass sie es für wenig „zielführend“ halte, wenn Geflüchtete, die sich in ihrem Herkunftsland schon auf ein Studium orientiert haben, nun wochenlange Maßnahmen im Handwerksbereich durchlaufen würden. Während diese Position die Intentionalität und Zielorientierung in „Bildungsketten“ bestreitet, kann argumentiert werden, dass die angebotenen Orientierungs- und Qualifizierungsangebote für Geflüchtete einer logistischen Arbeitslieferkette folgen, und zwar der, die auf die unmittelbaren und regionalen Bedarfe von Arbeitgebern antwortet. Dabei werden viele von ihren vorherigen Erfahrungen, Erwartungen und Ambitionen abgebracht und in nachgefragte Bereiche verwiesen. Gleichzeitig ist die Aktivierung über das Job Center ebenso wie für Erwerbslose mit deutscher Staatsbürgerschaft an Konditionen und Zwänge geknüpft. Während die Job Center-Mitarbeitenden nicht die Kapazität haben die Eignung der Maßnahmen zu überprüfen, kann ihre Verweigerung zu Sanktionen führen. Inwiefern Interessen, Bedürfnisse und Forderungen geäußert und gehört werden ist wiederum von intersektionalen Faktoren abhängig. Eine Arbeitsvermittlerin aus einem Berliner Job Center erklärte mir, dass ihr einziger Einblick in die Maßnahme über ihre Kunden besteht. Diese seien aber oft zu unsicher oder ängstlich, um ihre Meinung auszudrücken, was auch Forschungsergebnisse bestätigen und auf den stigmatisierenden und benachteiligenden Umgang mit Migrant*innen sowie den Unwillen, Übersetzung zu ermöglichen, zurückführen (Ratzmann 2018: 42). Laut der Arbeitsvermittlerin sei die Einforderung der Förderung abhängig von „unterschiedlichen Kulturkreisen“ und bei einem Geflüchteten aus Damaskus anders als bei einer jungen Eritreerin. Allerdings spielt auch die teils vorurteilsbehaftete Einschätzung der Arbeitsmarktnähe und -potentiale durch die Arbeitsverwaltung eine Rolle dabei, wer Zugang zu wieviel und welcher Förderung hat.

Das Beispiel, dass Personen, die zuvor studiert haben oder studieren wollten, in handwerkliche Maßnahmen kommen, ist dabei kein Einzelfall, sondern kann in meiner Forschung oft beobachtet werden. So auch in Wassims Fall, der in einem von Syriens Nachbarländern ein Psychologiestudium begonnen hatte. Seine Orientierung hin zum Handwerk empfindet er als unangebracht, denn „ich will studieren!“. Das Studium bleibt ein Ziel, das Wassim nicht erreichen wird, aufgrund pragmatischer und institutioneller Faktoren, die ihn überzeugen, dass es zu schwierig und zeitaufwendig wäre. Er bemüht sich jedoch weiterhin vom Job Center Möglichkeiten der Weiterbildung einzufordern, die ihm nicht gewährt werden. Auf der Suche nach einer Ausbildung seiner Wahl, kontaktiert er die IHK und traf sich mit einem Mitarbeiter des vom BMWI geförderten Service „Passgenaue Besetzung“. Laut Wassim war dieser „so überrascht“ darüber, was er schon alles gemacht habe und die Mühe, die er sich schon gegeben habe, und beginnt ihn zu unterstützen. Statt in dem von ihm bevorzugten Beruf Grafikdesign, bekommt er schließlich eine Ausbildung im Außenhandel, mit der er, abgesehen von den langen Arbeitszeiten, relativ zufrieden ist. Neben dem Studium werden Ausbildungen im Handelsbereich von vielen meiner Interviewpartner bevorzugt, während es im Handwerk mehr Bemühungen benötigt, Geflüchtete zu überzeugen, wie ein Mitarbeiter von Arrivo Berlin dadurch erklärt, dass „in einigen Herkunftsländern […] dieser Unterschied zwischen handwerklicher Tätigkeit oder akademischer Tätigkeit halt viel größer [ist].“ Geflüchtete müssten oft erst vom hohen „Stellenwert der Berufsausbildung hier in Deutschland“ überzeugt werden. Ohne die Chancen abzustreiten, die der Zugang zur Ausbildung für viele verkörpert, muss dennoch die hegemoniale und zwanghafte Orientierung zur Ausbildung und damit verbundene kapitalistische Reproduktion von Arbeitskräften und Arbeitsteilungen thematisiert werden. So ist das Studium für viele meiner Interviewpartner finanziell und aufenthaltsrechtlich zu unsicher. Denn die Kosten während des Studiums sind schwierig abzusichern und das Studium ist aufgrund des fehlenden Einkommens zudem nicht zielführend für die Familienzusammenführung oder Niederlassungserlaubnis. Noch dazu erfordert es zunächst die Finanzierung eines C1 Kurses, was oft nicht vom Job Center übernommen wird, wie Giath bemängelt:

 

„Ich wollte eigentlich C1 machen und sie hat gesagt: Ne, wir übernehmen die Kosten nicht. Ich habe gesagt: Ich wollte […] ein Studium anfangen. Nein, brauchst du nicht, du kannst schon arbeiten und du kommst schon mit B2 aus. […] Ich habe schon den Anspruch! Ne, aber machen das nicht. Und ich wollte nicht mehr Kopfschmerzen haben. […] Ok, ich mache Ausbildung.” (Ghiath 2018)

 

Trotz seiner Mühe seinen Anspruch geltend zu machen, lenkt Giath schließlich ein und stimmt einer Ausbildung zu – auch in Hinblick auf die Verstetigung seines Aufenthalts. Die Orientierung weg vom Studium erklärt die Arbeitsvermittlerin durch die Bemessung an Integrationszahlen und die formellen wie politischen Vorgaben, die besagen, dass das Studium „nicht primär ein Ziel [ist], was vom Job Center gefördert wird“. Denn „wenn jemand studiert, ist er […] nicht arbeitslos, in die Statistik fällt er nicht rein, aber es ist auch keine Integration, es ist kein Erfolg“. So erscheint die Ausbildung oft sinnvoller, zumal sie für Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus und vor allem einer Duldung eine Chance sein kann, ein Bleiberecht zu erkämpfen. Je prekärer die aufenthaltsrechtliche Situation, desto schneller muss ein Ausbildungsplatz gefunden werden und dann „kommen sie zu den Betrieben, die ganz, ganz händeringend Auszubildende suchen und ja, das ist dann nicht unbedingt immer freie Wahl“. Die zitierte Mitarbeiterin von Bridge führt fort, dass die Ausbildungsduldung somit „ein ganz starker Regulator“ ist, der nicht existieren würde, „wenn nicht die Wirtschaft sich voll ins Zeug geschmissen hätte“ (2018). Somit ist die Ausbildungsduldung auch eine Reaktion auf die Krise der Reproduktion von Fachkräften durch das Ausbildungssystem, das von jungen Leuten vermehrt abgelehnt wird. Die Orientierung hin zur Ausbildung im Handwerk schränkt auch die Optionen von Walid ein. Er stellt seine Wahl der Ausbildung in einen Zusammenhang mit einer Informationsveranstaltung der Arbeitsagentur und der Unzulänglichkeit seiner Erfahrung. Seine Aussage, in Afghanistan keinen Beruf gehabt zu haben, trotz vielfältiger und mehrjähriger Arbeitserfahrung, kann als Enteignung seiner Arbeits- und Subsistenzmittel interpretiert werden. Obwohl er im IT-Bereich eine Ausbildung beginnen möchte, drängt ihn die Unsicherheit über sein Asylverfahren dazu schnell eine Ausbildung zu beginnen, und zwar in dem von der Arbeitsagentur vorgeschlagenen Beruf als Anlagemechaniker für Sanitär- Heizungs- und Klimatechnik; ein Mangelberuf in Berlin. Ein Jahr später erfahre ich, dass er schließlich doch im IT-Bereich einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Die temporäre Akzeptanz von bestimmten Berufen sowie einer Abwertung des Arbeitsvermögens stellt daher eventuell nur eine Phase in Berufsbiographien dar, die auch Taktiken der Aneignung von Wissen, Sicherheit und Anerkennung verfolgt. Dennoch entsprechen solche Übergangsphasen in Zeiten des lebenslangen Lernens auch Kapital- und Verwertungslogiken, die kaum bezahlte und ausbeuterische Phasen durch den Verweis auf Lernbedarfe verschleiern. Zusätzlich zur Sinnhaftigkeit und Zielsetzung der Maßnahmen wird von mehreren Interviewten die Wertschöpfung in Bildungsketten angeprangert, wie Yasser, dessen syrisches Abitur nur als mittlerer Schulabschluss anerkannt wurde, ausdrückt.

 

„Diese Schulen finde ich, dass die […] handeln mit uns […]. Wir sind wie eine Ware. […] Es ist okay, also ich sage Geld ist schön, aber […] mit dem Leben der Leute spielen, das ist nicht gut.” (Yasser 2018)

 

Diese Kritik an einer sich bereichernden Integrationsinfrastruktur wird ähnlich von Wassim angedeutet, der sich weigert als Schachfigur betrachtet zu werden. Die Vervielfältigung der geförderten Maßnahmen konstituiert für viele Bildungs- und Beratungsträger neue Finanzierungsmöglichkeiten. Dies ist nicht per se als negativ zu bewerten, aber welche Interessen der Wertschöpfung verfolgt werden und wie diese auf wirtschaftliche Bedarfe ausgerichtet sind, kann durchaus hinterfragt werden. Wie ein Brandenburger Bildungsträger verdeutlicht, für den die Ausweitung ihrer Maßnahmen auf Geflüchtete seit 2016 „eine Bank für ihr Unternehmen“ war, schreibt sich die Maßnahmelandschaft in einen langen Prozess ein. Dieser und andere Träger wurden in den 1990er Jahren mit dem Ziel der Wiedereingliederung enteigneter und entlassener ostdeutscher Erwerbslose gegründet. Während die Integrationsinfrastruktur im Vergleich zu vorherigen Asylregimen zwar Optionen bietet, als arbeitendes, aktives und produktives Gesellschaftsmitglied anerkannt zu werden, bleiben die Bedingungen dieser Arbeitsmarktteilhabe ungleich, ausbeuterisch und umkämpft, wie im nächsten Abschnitt vertieft wird.

 

Ungleiche und umkämpfte Inwertsetzung von Arbeitsvermögen

 

Im Folgenden werde ich mich mit Prozessen des Verlusts von Wissen und Arbeitsvermögen beschäftigen. Ich werde argumentieren, dass Integration als Moment der Enteignung zu verstehen ist, dessen Ausmaß und Ausgestaltung sich jedoch je nach polit-ökonomischer Konjunktur unterscheidet. Prozesse der Enteignung und zeitgleichen Verwertung von Arbeitsvermögen sind daher nicht nur Folge der Flucht, sondern strukturell in der Herausarbeitung eines neoliberalen Integrationsprojektes enthalten. Im kognitiven Kapitalismus wird über das Erfordernis der stetigen Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens Druck aufgebaut, ständig den Wert der eigenen Arbeitskraft zu beweisen und damit verbundene Unsicherheit zu tragen (Atzmüller 2011). Im Gegensatz zu früheren Konjunkturen der Integration, in denen es kaum Chancen auf Anerkennung gab, ist das Lernen und Wissen der Arbeiter*innen wichtiger geworden und stellt aus Kapitallogik ein größeres Verwertungs- und Ausbeutungspotential, aber auch potenziell größere Handlungsmacht der Arbeiter*innen, dar. So sind die staatlichen und wirtschaftlichen Steuerungsversuche auch immer sozialen Bewegungen und Kämpfen ausgesetzt.

 

Abwertung und Enteignung von sprachlichen und beruflichen Fähigkeiten

 

Die aktuelle Bedeutung sprachlicher und kognitiver Kenntnisse steht im Kontrast zu vergangenen Konjunkturen der Arbeitsmigration. Ein Abteilungsleiter einer Arbeitsagentur stellt fest, dass es früher reichte, „wenn da ganze Schichten unter sich vielleicht Türkisch gesprochen haben“. Heutzutage sei dies aufgrund der Wirtschaftsstruktur mit weniger produzierenden Gewerben und mehr immateriellen Dienstleistungen nicht mehr möglich. Wissen werde nicht nur durch praktische Tätigkeiten vermittelt, sondern müsse auch sprachlich ausgesprochen und sichtbar werden. Die Ausweitung an Sprachkursen kann durchaus als eine positive Entwicklung hin zu mehr sozialer Teilhabe verstanden werden. Dennoch muss auch die aktuelle Aneignung eines Integrations- und Teilhabediskurses von staatlicher Seite hinterfragt werden. Die fehlende Wahrnehmung von Wissen, das nicht hinreichend artikuliert wird, scheint ein zunehmend bedeutender Faktor in der Abwertung von Arbeitsvermögen zu sein. Vor welche Herausforderung und Benachteiligung das geforderte Sprachvermögen Geflüchtete stellt, wird im Zitat von Amer, einem 47-jährigen Leiharbeiter in der Montage mit diversen mehrsprachigen Arbeitserfahrungen in Ägypten und Syrien, deutlich.

 

„Mir ist die Sprache egal! Vielleicht arbeite ich besser als der Deutsche, sogar wenn meine Sprache nicht perfekt ist […]. Wir nennen das auf Arabisch: Sersar. Blablabla. Wenn ich labern könnte, Deutsch so gut spreche, aber nicht gut arbeite, was bringt das? […] Aber das Problem ist der Rassismus.” (Amer 2019).

 

Amer erlebt die Betonung von Sprachkenntnissen als einen rassistischen Mechanismus der Differenzierung und Hierarchisierung, welcher nicht in Verhältnis zu der geleisteten Arbeit steht. Es stellt sich demnach die Frage, wie die Existenz ungleicher Sprachkenntnisse gesellschaftlich kompensiert werden kann. Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten in der Wahrnehmung und Wertschätzung von Sprachfähigkeiten muss auf historisch etablierte Machtverhältnisse zurückgeführt werden, durch die Sprachen (post)kolonialer Zentren mehr Symbol- und Gebrauchswert erlangten (Fanon 1980). Trotz der zunehmenden Anerkennung der Potentiale der „Mehrsprachigkeit“ für Gesellschaft und Wirtschaft wie in der Aussage dieses Arrivo Mitarbeiters, bleibt die „defizitorientierte“ Fokussierung auf Deutsch bestehen. So werden auch Machtverhältnisse reproduziert.

 

„Es sind halt immer Leute, die können nicht genug Deutsch sprechen, dass sie aber vielleicht sowieso eine ganz andere Muttersprache haben, die auch wichtig ist und vielleicht sogar noch eine Sprache oder noch eine weitere können, […] das könnte sicherlich im Bildungssystem und so auch noch eine größere Rolle spielen, im Arbeitsleben auch, also bei den Betrieben auch, für die ist es eigentlich eine Riesenchance.“ (Arrivo 2019)

 

Wie die folgende Anekdote einer Gewerkschaftssekretärin bezeugt, werden Sprachkenntnisse von Arbeitgebern angeeignet, ohne angemessen entlohnt zu werden. Sie berichtet von einem Krankenhaus, in dem

 

„immer wenn dann jemand kommt, der nur Ukrainisch spricht, dann heißt es sie sollen mal die Reinigungskraft XY bitte in die Notaufnahme ordern.“ Sie schließt daraus, dass „es als sehr bereichernd und sehr wichtig erlebt wird, dass da auch Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, die auch ihre Sprache noch beherrschen und dass auch eine Möglichkeit ist sicher für Flüchtlinge in vielen Bereichen langfristig gedacht da auch ganz gut unterzukommen.“

 

Dass die Verwertung der Sprachkenntnisse der Reinigungskräfte für Krankenhäuser sinnvoll ist, ist klar. Es sollte allerdings auch klar gemacht werden, dass eine solche Umschreibung der Tätigkeit einen Ausbeutungsprozess darstellt, da die Reinigungskraft ja weiterhin als solche – höchst wahrscheinlich ausgelagert bei einem Subunternehmer – angestellt und entlohnt wird. In dem Sinne fungieren mehrsprachige Belegschaften vor allem als „Riesenchance“ für Unternehmen, um die benötigten Kenntnisse umsonst zu verwerten, was auch „Verteilungskonflikten“ in der „post-migrantischen Arbeitsgesellschaft“ entspricht (Lange & Liebig 2018). So ist Mehrsprachigkeit zwar gelebte Realität, findet aber keine öffentliche Akzeptanz, die zu einer materiellen Wertschätzung führt.

Die angesprochenen Defizitorientierung in Bezug auf Sprache und Bildung wurde als zentraler Bestandteil von Integrationsdiskursen beschrieben, die basierend auf kolonialen Verhältnissen und Verständnissen das Fortbestehen rassistischer Arbeitsteilungen reproduzieren und rechtfertigen (Ha 2007; Friedrich & Pierdicca 2014). Die kreativen Reaktionen meiner Interviewpartner*innen hinsichtlich solcher Abwertungsprozesse verweisen auf ihre anti-rassistisch gelebte Praxis. So regt es Wassim auf, dass er von deutschen Freunden gefragt wird, ob es Straßen in Syrien gibt und kontert, dass es dort schon länger Straßen gibt als hier. Ghiath greift das arabische Sprichwort „hinter den Kühen“ auf, übersetzt und erweitert es durch orientalistische Zuschreibungen. So erklärt er, dass die Überraschung über eine vorhandene (Aus)Bildung bei Geflüchteten auf die rassistische Annahme zurückzuführen ist, „dass wir nichts machen, einfach so hinter den Kamelen“. Diese selbstbewusste Kritik an der Wahrnehmung von Wissen und Bildung, verhindert jedoch nicht, dass Ghiath seine Ausbildung als KFZ-Mechatroniker abbricht. Das respektlose Verhalten seines Ausbilders, der stetig sein Wissen hinterfragt, ist für ihn unakzeptabel. Des Weiteren lehnt er zunächst ab die Anerkennung seiner Ausbildung als Elektriker zu verfolgen. Die Verweigerung oder Verzögerung der Anerkennung vorheriger Berufsabschlüsse ist mir öfter begegnet und kann nicht nur als Entmutigung und Unterwerfung in rassistische Wissenshierarchien verstanden werden. Die bewusste Entziehung aus defizitären Systemen der Anerkennung wurde mir vielmehr als eine Taktik vermittelt, um die Entwertung auf dem Arbeitsmarkt nicht zu durchleben oder um zunächst mehr Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln und dann umso selbstbewusster und erfolgsversprechender die Wertschätzung des Arbeitsvermögens einzufordern.

 

Verwertung und Aneignung von Wissen

 

Die Verwertbarkeit und Lückenbüßerfunktion migrantischer Arbeitskraft als liberales anti-rassistisches Argument hat eine lange Geschichte in der deutschen Einwanderungspolitik und hat nach dem Sommer der Migration eine neue Konjunktur erlebt (Friedrich & Pierdicca 2014). In Bezug auf die jüngste Arbeitsmarktteilhabe von Geflüchteten wird argumentiert, dass durch die individuelle Arbeitsleistung und kollegiale Zusammenarbeit im betrieblichen Alltag rassistische Benachteiligung und Vorurteile abgebaut werden (Huke & Schmidt 2019). Selbst zu einer zunehmenden Anerkennung und Verwertung von informellen Fähigkeiten sei es laut einer Gewerkschaftssekretärin bei Ver.di gekommen.

 

„Der Begriff ‚unqualifiziert‘, der hat sich glaube ich verändert in der Wahrnehmung, also früher war es eben so: Ein paar Jahre nicht im Beruf – unqualifiziert; keine Berufsausbildung – unqualifiziert. Und ich glaube bei den Flüchtlingen hat man jetzt gelernt, dass die durchaus sehr qualifiziert sind, aber einfach aus Ländern kommen, die nicht dasselbe Ausbildungssystem haben wie wir und dass man da sehr genau hinschauen muss, was können die und dass das auch durch dieses Gesetz zur Zertifizierung von Abschlüssen nicht abgedeckt ist. […] Das ist wirklich seit 2015 eine Veränderung, dass man dafür sensibilisiert ist, dass das typisch Deutsche: Ich habe ein Papier, also bin ich was, dass man da so ein bisschen von abgeht, zu mindestens beim Blick auf diese Gruppe und sagt, die sind nicht alle ungebildet, […] dass man einfach diese Defizitorientierung umkehrt in ein: Was kannst du eigentlich?“ (Ver.di 2018)

 

Diese Veränderungen in der Erfassung und Wahrnehmung von Fähigkeiten haben sich zum Beispiel dadurch ergeben, dass informelle Kompetenzen durch eine Evaluation der Bundesarbeitsagentur (BA) und IQ Netzwerke (Integration durch Qualifizierung) in Wert gesetzt werden. Das Programm „My Skills“ erlaubt Teilnehmenden auf fünf Sprachen ihre Fähigkeiten in 26 Berufen einzuschätzen. Das ausgestellte Zeugnis soll dann die Arbeitssuche vereinfachen, da Arbeitgeber die so dargestellten Fähigkeiten leichter erkennen und einschätzen können. Inwiefern dies auch zu einer formalen Gleichstellung in Tätigkeiten und Gehältern kommt, ist ungewiss. Formale Anerkennung von vorherigen Ausbildungen wird auch vermehrt von der IHK verfolgt und hat zu einem Anstieg von Anerkennungsanträgen von beruflichen und akademischen Ausbildungen – insbesondere aus Syrien – im Jahr 2018 geführt (Brenzel et al 2019). Für den Zugang und das Erfolgspotential spielen die Bleiberechtsperspektive, der Beruf, das Herkunftsland und dessen Bildungssystem eine große Rolle, wie das BQ-Portal, das damit beauftragt ist, Berufsbildungssysteme in diversen Ländern zu evaluieren, verdeutlicht. So werden auch Daten und vergleichbare Einschätzungen über die Fähigkeiten und das Wissen von Migrant*innen gesammelt, die demnächst mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und digitalen Anerkennungs- und Beratungssystemen der BA zu Tragen kommen könnten. Bei den Chancen auf Anerkennung der Berufsausbildung und -erfahrungen wirken aber auch wirtschaftliche Interessen und vor allem die Bedarfe an bestimmten Arbeitskräften. Die selektive Aneignung von Arbeitsvermögen in Mangelberufen wird von der interviewten Arbeitsvermittlerin als profitabel für Unternehmen beschrieben:

 

„Auch die Industrie- und Handelskammer hat bei manchen Sachen inzwischen diverse Möglichkeiten zu gucken, können wir Ausbildung oder irgendetwas anerkennen. […] Aber es hängt halt davon ab, ist es ein Mangelberuf oder nicht? […] Im Handwerk denke ich, ist man eigentlich sehr offen gewesen und sehr interessiert gewesen an den Leuten. Die, die handwerklich schon was gemacht haben vorher, waren handwerklich sicherlich besser als jeder normale Schulabgänger hier. “ (Job Center 2019)

 

Neben solchen Zuschreibungen sind es auch die Interessen bestimmter Branchen und Arbeitgeber, die eine Unsichtbarkeit und Abwertung oder umgekehrt eine flexiblere Anerkennung und Verwertung von Arbeitsvermögen bewirken. Im Handwerk mit Arbeits- und Fachkräftemangel scheint der Verwertungsbedarf besonders akut, was allerdings im betrieblichen Alltag weder zur Gleichstellung noch zu Kollegialität in den Belegschaften zu führen scheint. Tendenzen zur „konkurenziellen Fragmentierung“ (Hürtgen 2019) in Belegschaften werden durch fehlende oder ungleiche gesellschaftliche und institutionelle Anerkennung und Förderung vielleicht eher verschärft. In der KFZ-Mechatronik werden mitgebrachte Erfahrungen und Kenntnisse von Arbeitgebern häufig und unterschiedlich angeeignet. Eine Ehrenamtliche in Nordbrandenburg berichtete mir von einem Arbeitgeber, der zwei Geflüchtete in seiner Autowerkstatt anstellte, da er schnell bemerkt habe, dass sie „richtig was drauf“ haben – dank ihrer Arbeitserfahrung in Afghanistan. Er stellte beide zunächst zum Mindestlohn ein und erhöhte diesen dann in zwei Jahren schrittweise. KFZ-Mechatronik ist auch ein Beruf, der als Ausbildung beliebt ist, während die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen viele auf die Probe stellen. Ghiath und Noor entschieden sich aufgrund der schwierigen Arbeitsbedingungen und Berufsschulinhalte die Ausbildung oder Einstiegsqualifizierung (EQ) abzubrechen. Noor, der sich zwar im Betrieb wohlgefühlt habe, erklärte mir, dass die Fortsetzung der EQ für ihn nicht sinnvoll war. Denn einerseits war die Berufsschule und Arbeit für ihn sehr anstrengend, andererseits bekam er trotz langjähriger Berufserfahrungen nur eine EQ angeboten und somit nur 230€ Monatslohn.

 

„Arbeit war okay, da ich schon gearbeitet habe, hatte ich ein bisschen die Erfahrung dafür, ja mein Chef und Kollegen, alle waren zu froh mit meiner Arbeit. […] Aber mein Problem [war], dass ich nicht klar kam mit der Berufsschule. […] Dann habe ich mir gedacht, besser als dass ich Zeit verschwende, ich besuche […] Abendschule und ich arbeite auch richtig.“ (Noor 2019)

 

Der Abbruch der EQ kann zwar als schwerwiegender Einschnitt in Noors Berufsbiographie gesehen werden, verdeutlicht aber auch eine autonome Entscheidung. Anstatt sein Arbeitsvermögen, das er als gleichwertig mit Auszubildenden im zweiten oder dritten Jahr einschätzt, unter Wert einzusetzen, zieht er es vor, einen „richtigen“ und entlohnten Job auszuüben und durch den Besuch einer Abendschule sein Bildungskapital zu erhöhen. Ähnlich entschied sich auch eine von mir interviewte Geflüchtete mit kurdisch-iranischer Nationalität, die eine EQ als Friseurin begonnen hatte und zuvor nicht mal einen B1 Kurs finanziert bekam, während andere eine EQ von vorneherein ablehnen. Die Tendenz Geflüchteten trotz vorheriger Erfahrungen Ausbildungsunreife zuzuschreiben und in schlecht bezahlte EQs, die die Ausbildung um 6 bis 12 Monate verlängern, einzugliedern, verdeutlicht die Steigerung der Ausbeutungsrate durch abwertende Diskurse. Die Forderung einer spezifischeren Anerkennung von Phasen des Lernens, der Ausbildung und des Arbeitens bleibt insofern ungemein wichtig, wie Ghassan erläutert:

 

„Wovon die Person profitieren würde und Deutschland, wäre dass es eine Wertschätzung der Erfahrungen gibt, das ist sehr wichtig. Ich habe z.B. viele Erfahrungen oder sagen wir mittelmäßige […]. Sie lassen mich zwei Jahre der Ausbildung überspringen, sodass ich wertgeschätzt werde. […] Das wäre sehr gut und würde mich ermutigen eine Ausbildung zu machen und würden vielen Leuten, die Erfahrungen haben - vielleicht 15, 20 Jahre, praktische Arbeit, Möglichkeiten eröffnen wieder in denselben Bereich zu gehen, indem sie gearbeitet hatten in anderen Ländern.“ (Ghassan 2018)

 

Da es nicht möglich ist nur einen Teil seiner abgeschlossenen Ausbildung als Dekorateur zu wiederholen, beginnt er eine neue Ausbildung, die er bald wieder abbricht. Die Anerkennung seiner Ausbildung kam nicht in Frage, da er dafür eine Beglaubigung der syrischen Botschaft benötigen würde und somit an Glaubwürdigkeit als politisch Verfolgter einbüßen würde und er kein Geld an eine Regierung zahlen möchte, „die jemand anders an einem anderen Ort tötet“. Auch die sich dann ergebende Anstellung als Leiharbeiter für Malertätigkeiten lehnt er ab, da das Vorgehen der Leiharbeitsfirmen sowie der Ausdruck, dass er an die entleihende Firma verkauft wurde bei ihm ein ungutes Gefühl weckt. So wird Ghassans Potential weder verwertet noch ausgebeutet. Während er sein Wissen des deutschen Arbeitsmarkts wiederholt hinterfragt, deutet sein Misstrauen auf ein tiefes Verständnis von Macht- und Ausbeutungsverhältnissen hin. Er teilt mir seine Befürchtung mit, dass „es möglich ist, dass wir ausgebeutet werden, […] weil wir nichts wissen“ und meint ein kollektives wir „als Arbeiter“. Sein sorgsames und skeptisches Verhalten deutet aber darauf hin, dass er weder die Verwertung noch Ausbeutung seiner Arbeitskraft ohne Widerstand hinnimmt und unermüdlich dabei ist, sich Wissen und Infrastrukturen anzueignen, die seine Forderungen nach Anerkennung und gerechter Teilhabe weiterbringen.

 

Zusammenfassung

 

Seit dem langen Sommer der Migration hat sich eine umfassende Infrastruktur der Arbeitsmarktintegration gebildet. Die entstehenden Bildungs-, Liefer- und Wertschöpfungsketten sollen nicht nur möglichst schnell und profitabel in Arbeit vermitteln, sondern auch in bestimmte Branchen und Berufe und am besten mit passgenauen Fertigkeiten und möglichst geringen Kosten. Diese Infrastruktur kann mitnichten als neutrale Unterstützungsstruktur betrachtet werden. Ihre Projekte, Programme und Maßnahmen entsprechen regionalen und nationalen wirtschaftlichen Interessen und sind nicht einheitlich zugänglich. Wer Zugang zu welcher Orientierung, Aktivierung und Qualifizierung hat, hängt entscheidend vom Herkunftsland, Geschlecht, Arbeitsmarktnähe, Alter und Aufenthaltsstatus ab. Dennoch bietet die entstehende vielfältige Infrastruktur Möglichkeiten der Navigation und Verhandlung im derzeitigen Arbeitsmarkt sowie der Verweigerung gegenüber seinen Bedingungen und Bedarfen. So wird in vielfältigen Kämpfen eine anerkannte und gerechte Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt gefordert. Eine passgenaue Anpassung an dynamische Arbeitsteilungen und somit an wirtschaftliche Interessen kann nicht festgestellt werden. Strukturelle Gründe für die Enteignung und Abwertung des Arbeitsvermögens werden vielmehr von den Beteiligten erkannt und verdeutlichen die vielen und vielfältigen Momente der Benachteiligung von Personen mit nicht-deutschen Zeugnissen, Erfahrungen und Kenntnissen. So hinterlassen die gesammelten Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt eine Einsicht in ungleiche Machtverhältnisse, was auf eine andauernde Einforderung von mehr Rechten, Teilhabe und Gerechtigkeit hindeutet.

 

Literatur

 

Altenried, Moritz; Bojadžijev, Manuela; Höfler, Leif Jannis; Mezzadra, Sandro; Wallis, Mira (Hg.) 2017: Logistische Grenzlandschaften. Das Regime mobiler Arbeit nach dem ›Sommer der Migration‹

Atzmüller, Roland 2011: Die Krise lernen. Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens im postfordistischen Kapitalismus. In: Grundrisse

Bojadžijev, Manuela 2006: Verlorene Gelassenheit. Eine Genealogie der Integration. In: Kurswechsel (2), S. 79–87

Brenzel, Hanna; Brücker, Herbert; Fendel, Tanja; Guichard, Lucas; Jaschke, Philipp; Keita, Sekou; Kosyakova, Yuliya; Olbrich, Lukas; Trübswetter, Parvati; Vallizadeh, Ehsan 2019: Flüchtlingsmonitoring: Endbericht. IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)

Fanon, Frantz; Moldenhauer, Eva 1980: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am Main

Friedrich, Sebastian; Pierdicca, Marika 2014: Migration und Verwertung. Rassismus als Instrument zur Segmentierung des Arbeitsmarktes. In: Hartmut Tölle und Patrick Schreiner (Hg.): Migration und Arbeit in Europa. Köln: S. 125–138

Ha, Kien Nghi 2007: „Integration“ als Disziplinierungs- und Normalisierungsinstrument. Die kolonialisierenden Effekte des deutschen Integrationsregimes. RLS

Huke, Nikolai; Schmidt, Werner 2019: Zwischen solidarischem Universalismus und rassistischer Ausgrenzung. Zur betrieblichen Sozialintegration von Geflüchteten. In: Prokla 49 (195)

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