Politik des Sozialen – von alternativer Sozialpolitik zur Alternative zur Sozialpolitik

Widersprüche, Heft 168, 43. Jg. 2023, Nr.2, 87-104

Timm Kunstreich[1]

 

Politik des Sozialen – von alternativer Sozialpolitik zur Alternative zur Sozialpolitik

 

Die Diskussion in der Redaktion der Zeitschrift Widersprüche über alternative Sozialpolitik und Alternativen zur Sozialpolitik begann mit der Gründung der Zeitschrift 1981. In die Diskussion flossen Ergebnisse früherer Auseinandersetzungen aus den Arbeitsfeldern Sozialarbeit, Gesundheitswesen und Schule des Sozialistischen Büros ein, dokumentiert und verfügbar in den Informationsdiensten jener Zeit. Die Positionierungen waren geprägt von den sozialen und politischen Konflikten um die Zukunft der damals als „Modell Deutschland“ (s.u.) charakterisierten westdeutschen Gesellschaft. Es erleichtert den Einstieg in die Thematik, sich kurz der damaligen sozialstaatlichen Konstellationen zu vergewissern. 

Die konservative Hegemonie des CDU-Staates der 1950er und 1960er Jahre konkretisierte sich vor allem in der restaurativen Familienorientierung, in der von den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften geteilten normativen Arbeitszentrierung und in der Rentenreform von 1957 — eine bis heute wirksame Modernisierung. Diese drei Komponenten trugen wesentlich zur Absicherung eines Produktionstypus bei, den Antonio Gramsci schon in den 1920er Jahren heraufkommen sah: den Fordismus. Die fordistische Hochzeit nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint rückblickend wie ein „Goldenes Zeitalter“ (Hobsbawm): Massenproduktionen für jedermanns Lebensweise (Autos) und jedefraus Küche (Kühlschrank und Waschmaschine) und viele andere Produkte für den Massenkonsum prägten eine Massenkonformität, in der der Grundriss einer Wohnung für eine Familie mit zwei Kindern mit den Planungen der Möbelindustrie übereinstimmte. Nie gekannte Lohn- und Rentensteigerungen, der kollektive Aufstieg ganzer Klassenfraktionen – vor allem der Facharbeiter – sowie die Eröffnung neuer Bildungschancen für deren Kinder verbreiteten den sozialen Optimismus, dass es immer so weitergehe. Diesen Trend verstärkte nicht zuletzt die sozialliberale Politik Willy Brandts nach innen und nach außen: „Mehr Demokratie wagen!“. 

Aus der Perspektive der Professionellen in den Feldern Sozialer Arbeit wirkte dieser Kontext wie ein "Korridor für Regulationsformen" (Hoffmann 1996: 468), in diesem Fall wie ein "Korridor" innerhalb der gesamten sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen für die sich den dominierenden Strömungen anpassenden Regularien Sozialer Arbeit. Im übertragenden Sinn ist der "Korridor Soziale Arbeit" der Ort, durch den alle gehen müssen, die sich in diesem sozialen Raum bewegen – als "Wände" dieses "Gebäudes" lassen sich die sozial-politischen Regulationen verstehen. Neben "materiellen Baustoffen" wie Gesetzen, Vorschriften, Planstellen und Finanzmitteln gibt es ein wichtiges "immaterielles" Bindemittel, das den "Korridor" zusammenhält: die hegemoniale Ausprägung der Professionalität, deren dominante strategische Deutungsmuster zeigen, wie man sich am besten im „Korridor“ bewegt.

Aus der Perspektive der Kritik versuche ich, die Umwälzungen im Feld der Sozialen Arbeit seit den 1960er Jahren zu rekonstruieren. Mit dem „Modell Deutschland“, wie es die Ära Brandt/Schmidt modellierte, beginnt der zumindest quantitative Siegeslauf der Sozialen Arbeit: Keine Profession hat derartige Steigerungsraten in ihrem Stellenvolumen zu verzeichnen wie die unsrige. Die erste neoliberale Renovierung wurde von der Regierung Kohl/Genscher vorgenommen; den Schritt zu einem neoliberalen Umbau vollzog die erste rot-grüne Regierung unter Schröder/Fischer. Deren „Hartz-Reformen“ und Reform der Rentenversicherung setzten den bis heute gültigen ideologischen Rahmen: „Fördern und Fordern“ und „Keine Leistung ohne Gegenleistung“ sowie Privatisierung der Verantwortung für kollektive Risiken. Im Zuge der neoliberalen Globalisierung entsteht im internationalen Gleichschritt, was es in den USA und Großbritannien schon längst gibt: ein „Care-industrieller Komplex“, der die bislang staatlich regulierten Bereiche Gesundheit und Soziale Sicherung der Kapitalverwertung zugänglich macht. Über diese verschiedenen Um-, Aus- und Abbauten ist viel geforscht und geschrieben worden. Ich versuche, unsere Kritik zu artikulieren, nach möglichen Transformationen zu fragen und zugleich das herauszustellen, was an sozialpolitischen Errungenschaften verteidigt werden muss.

 

„Modell Deutschland“

 

Das „Modell Deutschland“ ist beschrieben worden als Typus einer industriellen Struktur mit extremer Exportorientierung (Autos, Chemie, Maschinenbau), als Typus staatlicher Modernisierungspolitik mit Subventions- und Forschungsvorhaben für die dominanten Sektoren, als Typus politischer Herrschaft mittels Klassenkompromiss, Umverteilungspolitik und Sozialpartnerschaft mit „sicherheitsstaatlichen“ Ausschließungen; und schließlich als Vergesellschaftungstypus, dessen „Rationalität“ sich durch materielle und soziale Infrastrukturen, durch Kultur und Lebensweise bis zu „Sozialcharakteren“ zieht. Das Modell und mit ihm die hegemoniale Lebensweise geriet mit seinem Höhepunkt in den 1970er Jahren zugleich an eine krisenhafte Grenze, die u.a. durch das Manöver der „geistig-moralischen Wende“ der Kohl/Genscher-Regierung „gelöst“ werden sollte. 

Die Diskussionen um das „Modell Deutschland“ zeigten, dass es in zunehmendem Maße unmöglich wird, Produktions- und Reproduktionsbereich „sauber“ zu trennen. Reproduktion ist alles, was die Fähigkeit des Lohnarbeiters und zunehmend auch der Lohnarbeiterin erhält und steigert, seine und ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Diese aktive Absicherung der Lohnarbeiterexistenz, die „aktive Proletarisierung“, setzt passive Proletarisierung voraus, d.h. die tendenzielle Auflösung aller nicht-kapitalistischen Lebens- und Arbeitsformen (vgl. Lehnhardt/Offe 1977; Brand/Wissen 2017). Dass nicht mehr der passiv Proletarisierten betteln, klauen und revolutionieren gingen, sondern zur Arbeit, dazu bedurfte es Aktivitäten: Zwänge und das Erzeugen von Sozialcharakteren und Haltungen, die einen Menschen bereit machen, „freiwillig“ Lohnarbeit zu verrichten. Dieser Prozess der passiven und aktiven Proletarisierung (bzw. der Verlohnarbeiterung) ist historisch keineswegs abgeschlossen. Auf der einen Seite sorgen die zerstörerischen Wirkungen der anarchischen, kapitalistischen Produktion ständig für mehr passiv proletarisierte Menschen, die in Ausschließungen, Arbeitslosigkeit, Knast, Psychiatrie, prekären Niedriglohnsektoren, verslumten Wohngebieten und isolierten Lebensformen ihr gesellschaftliches Dasein fristen; illegale und legale Migration führt am leichtesten in diese Existenzweise. Auf der anderen Seite war und ist eben diese Anarchie ständiger Quell für Widerstand und kollektive Gegenwehr, für phantasievolle Überlebensstrategien und subkulturelle Gegenmilieus. Dieser Widerstand vereinigte sich in den Hochzeiten der Arbeiterbewegung in den zwanziger Jahren zu einer Gegenkultur. Heute sind widerständige Tendenzen schwieriger auszumachen: Während die traditionellen Arbeitermilieus eher defensiv und rückzugsorientiert sind, bieten die bunt-alternativen Initiativen und queeren Subkulturen potentiell wichtige Elemente in oppositionellen Milieus. Doch „Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen“ (Rein 2017), müssen wir das als ihre Form von Kritik und Protest verstehen lernen. 

Die eine aktive Verwertung der Ware Arbeitskraft ermöglichende Funktion der Sozialpolitik soll die unterstützende – subsidiäre – Funktion genannt werden. Die andere Seite der Medaille ist die kompensatorische Funktion. Kompensatorisch sind alle Maßnahmen in Bezug auf die aktuelle oder dauernde Unfähigkeit, die Ware Arbeitskraft zu tauschen, d.h. alle Kompensationsleistungen gehen von der „aktiven Lohnarbeiterfigur“ aus. Einer der wichtigsten Erfolge des fordistischen Modells in Deutschland ist die Sicherung und Erweiterung der subsidiären Funktion, die aktive Proletarisierungsprozesse fördert. Die bis Mitte der 70er Jahre dauernde Vollbeschäftigungspolitik führte ökonomisch gesehen zu einer Verteuerung der Arbeitskraft (und zum Fall der Profitrate); diese Tendenz wurde lange Zeit durch imperialistische Hegemonie auf dem Weltmarkt wettgemacht. Politisch-ideologisch (aber auch materiell) wichtiger war und ist, dass durch die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen in der Erfahrung der betroffenen Menschen zum ersten Mal so etwas wie eine „erwartbare Sicherheit“ gegeben war: Die legitimatorische Funktion von Sozialpolitik ließ die Mehrheit der Bevölkerung erleben, dass Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht mehr zu unmittelbarer Existenzbedrohung, zu Hunger und Elend führen.

Diese historischen Errungenschaften gilt es zu verteidigen. „Verteidigung“ kann aber nicht dazu führen, Kritik an den zerstörerischen Akkumulationsprozessen, die unzertrennlich mit den Errungenschaften verbunden sind, aufzugeben. Die Kritik am Zusammenspiel kompensatorischer, subsidiärer und legitimatorischer Funktionen ist notwendig, um perspektivisch zur Aufhebung von Errungenschaften in einer Lebensweise beizutragen, die von egalitärer Kooperation geprägt wird und nicht von eliminatorischer Konkurrenz. Die Tendenzen und Entwicklungen, die in diese Richtung sehr unterschiedliche Handlungs- und Widerstandsformen entwickelt haben, lassen sich in drei unterschiedlichen „Strängen“ bündeln, die eng miteinander verwoben sind und die im „Modell Deutschland“ ihre besondere Prägung erfahren haben.[2] 

 

Erster Strang: Gegen Spaltung der Gesellschaft – Soziale Garantien

 

Die erste Perspektive, die wir immer unterstützen, ist, soziale Garantien gegen Armut, Ausschließung, Angst und Erpressung, also gegen die diversen Spaltungen, zu entwickeln und zu fordern. „Soziale Garantien“ beinhalten ein Mindest-Einkommen, unabhängig von der Lohnarbeit. Es geht darum, Mindest-Sicherungen statt Hartz IV bzw. Bürgergeld, bei der Grundsicherung und den Renten als Gegenmittel gegen die „soziale Rutschbahn“ in Armut und materielles Elend durchzusetzen. Mindest-Einkommen ist ein Gegenmittel gegen das repressive „Gravitationsgesetz“ des Sozialstaats und seine Propagierung ist zugleich ein Kampfbegriff gegen das Absinken, gegen Arbeitszwang durch Sanktionen. Mindesteinkommen unabhängig von Lohnarbeit würde auch bedeuten, sich von der „Leitfigur“ sozialstaatlicher Sicherheit, der Lohnarbeit, unabhängig zu machen. Andere gesellschaftliche Tätigkeiten: Hausarbeit, Pflege, Ausbildung, sinnvolle und selbstbestimmte Tätigkeit in Sport und Kultur, jenseits herrschaftlich anerkannter Produktion, könnten so abgesichert ermöglicht werden. Aus diesen Überlegungen entstand die Idee der Garantierten Grundarbeitszeit (s.u.).

 

Zweiter Strang: Gegen „Hilfe-Herrschaft“ - Logik: egalitäre Ko-Produktion[3]

 

Um dem Janus-Kopf von Hilfe und Herrschaft von beiden Seiten ins Gesicht zu schlagen, müssen Formen und Inhalte einer „egalitären Ko-Produktion“ gefunden werden, die hilfreich, aber nicht herrschend sind; individuell zureichend, aber nicht parzellierend; Lebenszusammenhänge stützend, aber nicht kompensatorisch; und die wirkungsvoll, aber nicht herrschaftlich funktional sind. „Egalitäre Ko-Produktion“ ist der Arbeitstitel für eine Strategie, in der die Kooperierenden selbst bestimmen, was das psychisch-soziale Problem oder das Anliegen ist, und die eingreift in die Bedingungen im Bereich der Entstehung selbst. Fassen wir den damit verbundenen „Produzenten“-Begriff weiter, und verstehen wir darunter alle, die ihre Lebenszusammenhänge, Krisen und Probleme kollektiv und öffentlich bearbeiten und ändern wollen, so geschieht „egalitäre Ko-Produktion“ in vielen unterschiedlichen Bereichen. Genannt seien hier die Frauenhäuser. Sie entstanden, als das Problem der Gewalt gegen Frauen aus dem Individuellen und Privaten herausgeholt, öffentlich gemacht und von Frauen gemeinsam bekämpft wurde. Noch ein weiteres Kriterium von „egalitärer Ko-Produktion“ lässt sich an diesem Beispiel verdeutlichen: Wer hat die Macht zur Definition des Problems? Sind es die Sozialämter, die den Frauen den individualisierenden und diskriminierenden Stempel der „hilflosen Person“ aufdrücken wollen, oder sind es die Frauen selbst, die die Gewalt gegen Frauen als das, was sie ist, anprangern: als ein gesellschaftliches Problem – und entsprechende gesellschaftliche Anerkennung fordern, einschließlich der Anerkennung der Verfügung über Mittel und Inhalte der Frauenhausarbeit. Und ein Letztes macht dieses Beispiel deutlich: den Umgang mit ExpertInnen. Statt durch Statusdifferenzierungen und herrschaftliche Hierarchie in die bürgerliche Hegemonie eingebunden, sind hier die ExpertInnen in einen lebendigen, egalitären Diskussionszusammenhang einbezogen, der „von unten“ kontrolliert wird, der vor Vereinzelung, Machtanhäufung und unausgewiesenen Normalitätskriterien schützt. Auch dieses Element findet sich in der Garantierten Grundarbeitszeit wieder.

 

Dritter Strang: Gegen sozialstaatliche Hegemonie: Selbstbestimmte Vergesellschaftung im Sozialstaat

 

Die im Sozialstaat vorfindbare Vergesellschaftung in Form von Verstaatlichung, Verrechtlichung und Bürokratisierung ist das Lebenselixier bürgerlicher Hegemonie: Herrschaft braucht nicht als solche benannt werden, sondern vollzieht sich durch Organisationsstrukturen selbst. Liberal-konservative Selbsthilfe-Ideologen setzen denn hier auch konsequent an, indem sie die Apparate unbehelligt lassen und stattdessen die Problembetroffenen „ermuntern“, sich selbst zu helfen. Selbstbestimmte Vergesellschaftung im Staat, das klingt fürs Erste paradox: Es geht um eine umfassende Transformation der Institutionen, letztlich des Staatsapparates selbst, mit dem Ziel alternativer Vergesellschaftungsformen. Wenn sich Herrschaft nicht in Eigentumstiteln und Verfügung darüber erschöpft, sondern sich in Arbeitsteilung, Geschlechterhierarchien, in „Ordnungen des Wissens“, in Bedürfnissen und Kulturen vergegenständlicht hat, wenn die Institutionen Herrschaft als „bürgerliche Hegemonie“ produzieren, dann muss es in einer gesellschaftlichen Alternative um eine „alternative Hegemonie“ gehen. Soziale Beziehungen jenseits der kapitalistischen Vergesellschaftung, Verhältnisse zu Natur und Körper jenseits der Wert-Abstraktion, Produktionsbeziehung jenseits von Geschlechterarbeitsteilung und kapitalistischen „Produktivitäten“ – das sind bereits praktisch gewordene Stränge einer Alternative, welche in den „Stellungskrieg“ (Gramsci) um die Hegemonie in den Institutionen verwickelt ist. 

„Alternative Hegemonie“, das heißt: Öffnung der Institution gegen anstaltsartige Ausschließung und Partialisierung; Ver-Öffentlichung von Bedürfnissen und Konflikten gegen heimliche und unheimliche Methoden und therapeutische „Geheimverfahren“; heißt Selbstregulation und Selbstverwaltung statt Hierarchie und Objektstatus. „Egalitäre Ko-Produktion“ ist eine Strategie der Aneignung bisher herrschaftlich verstaatlichter Bereiche der Reproduktion; die „alternative Hegemonie“ ist die Aneignung in den Institutionen des Staats und durch sie hindurch. Anders vergesellschaftete „Lösungen“ sind gefordert, die sich nicht abdrängen lassen in alternative Privatisierung. Es bedeutet eine selbstbestimmte, vergesellschaftete Sicherheit, die eine dualwirtschaftliche „Entschärfung“ nicht mitmacht, sich irgendwo „informell“ zu tummeln, abgespalten, machtlos und immer noch kompensatorisch gegenüber dem „formellen“ Zentrum der immer noch herrschenden Vergesellschaftung. Genau dieses will die Garantierte Grundarbeitszeit versuchen.

 

„Care-industrieller Komplex“

 

Der Siegeszug neoliberaler Globalisierung machte sehr schnell deutlich, dass nicht nur das „Modell Deutschland“ modernisiert, sondern auch die Kritik daran radikaler werden musste. Ähnlich dem Militär-industriellen Komplex und dem Gefängnis-industriellen Komplex hat sich auch im Bereich von Gesundheit, Pflege und Sozialer Arbeit eine Verflechtung von privatkapitalistischen Interessen und diese unterstützende, staatliche Regulationsformen entwickelt, die es rechtfertigen, von einem Care-industriellen Komplex zu sprechen. Zu diesem Komplex gehört z.B. die Einführung der nicht alle Risiken abdeckenden Pflegeversicherung, durch die ein sozialstaatlich finanzierter Markt geschaffen ist, auf dem privat-gewerbliche Anbieter mit privat-gemeinnützigen Anbietern konkurrieren. Zu diesem Komplex gehören auch die Akteure des vermarktlichten Gesundheitswesens von der Pharmaindustrie über Krankenhauskonzerne und Krankenversicherungen bis hin zur medizinischen Versorgung durch ÄrztInnen als Kleinunternehmen (vgl. Rakovitz 2019). Auch die Jugendhilfe ist im SGB VIII mit dem § 78 a-g einer Ökonomie der Fall-Generierung unterworfen. 

Vor diesem Hintergrund erweist sich unsere in den drei Strängen formulierte Kritik am „Modell Deutschland“ als nicht radikal genug. Eine wichtige Anregung gab in dieser Diskussion ein Artikel von W. F. Haug: Gramsci und die Politik des Kulturellen (1988: 32-48). Diesem Ansatz folgend versuchten wir nun unseren Ausgangspunkt in den vielfältigen sozialen Alltagspraxen der „Subalternen“ zu nehmen und eine Politik des Sozialen als Alternative zur herrschenden Sozialpolitik zu formulieren (Redaktion Widersprüche 1989: 7-15). In dieser Diskussion entwickelten wir drei Optionen.

 

Erstens: Eine Politik des Sozialen positioniert sich in den Konflikten innerhalb und zwischen Klassen

 

Eine implizite Annahme unserer Diskussionen erwies sich als nicht haltbar: dass es Zweck von Sozialpolitik sei, die Integration aller Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten. Dass die Realität nie diesem Versprechen entsprach, war immer einer der wichtigsten Kritikpunkte und Gegenstand vieler unserer Alternativvorschläge. Neben extremer Segregation räumlicher (Ost-West mit jeweils internen Ungleichheiten) und sozialer Art (Niedriglohnsektoren und prekäre Beschäftigungsverhältnisse) ist es Ziel der neuen Regulationsweise, nicht mehr die Homogenisierung der Lohnarbeiterschaft zu organisieren. Im Gegenteil, die Organisationsmittel werden derart „umgebaut“, dass sie die notwendigen Flexibilisierungsanforderungen der neuen, postfordistischen Akkumulationsweise absichern: „Heterogenisierung der Lohnarbeiterschaft, d.h. Spaltung in Kern- und Randbelegschaften, die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten, die Auflösung tradierter Lebensformen, neue Mobilitätsanforderungen usw.“ (Schaarschuch 1994: 78) sind nun die Erfordernisse und Konsequenzen eines praktisch und ideologisch auf „Globalisierung“ angelegten Neoliberalismus. Das Arsenal der gewendeten sozialpolitischen Organisationsmittel zielt auf Spaltung und Heterogenisierung der Gesellschaft.

Im Osten wie im Westen sind Ansätze einer Politik des Sozialen, die in den Aufmerksamkeits-Korridor bürgerlicher Öffentlichkeit gelangen, gering. Unter der Oberfläche hegemonialer Aufmerksamkeit jedoch gibt es unverbundene, zum Teil auch gegeneinander bestehende Aktivitäten. Wenn „Fridays for Future“ die gewerkschaftlichen Lohnforderungen und die Streiks der BusfahrerInnen unterstützt und beide für eine wirksame Mobilitätswende kämpfen, wenn Energiegenossenschaften in Dörfern und Kleinstädten nicht nur ökonomisch erfolgreich sind, sondern auch das gesellschaftliche Mikroklima verbessern, wenn Obdachlose nicht zu entwürdigenden „Wohntrainings“ gezwungen werden, sondern bedingungslos eine Wohnung vermittelt bekommen, dann zeigen sich Ansätze „egalitärer Kooperation“, die auf andere gesellschaftliche Sphären ausstrahlen.

 

Zweitens: Eine Politik des Sozialen basiert auf der Gestaltung von Geschlechterverhältnissen

 

Die Frage der Geschlechterverhältnisse lässt sich nicht klären, ohne einen diese Verhältnisse aufhebenden Subjektbegriff „vorwegzudenken“. Spätestens seit der Implosion des Staatssozialismus ist praktisch klar, was von kritischer Wissenschaft theoretisch herausgearbeitet war: Es gibt kein einheitliches Subjekt mit historischer Mission (vgl. W.F. Haug 1985; 1987; F. Haug 1996). Erst mit dem Zusammendenken der Themen „Geschlecht, Klasse, Ethnie“ im von Gramsci eingebrachten Konzept der Hegemonie, als „des mit Zwang gepanzerten Konsens“ (1992: 783) einer spezifischen Gesellschaft, kam das aktivistische, konstruktivistische Moment von „Subjekt“ wieder zur Geltung. Aus dieser Perspektive sind Subjekte immer soziale, d.h. sie bilden sich in wechselseitiger Anerkennung als kooperative Praxis. Deutlich wird, dass Individuum und Subjekt nicht gleichgesetzt werden können: Das Individuum kann Subjekt sein, die gesellschaftlich wirksameren Subjekte sind Handlungszusammenhänge, in denen kollektiv etwas erreicht werden kann, was eine einzelne Person nicht schaffen könnte. Handlungssubjekte in diesem Sinne sind Zusammenschlüsse jeglicher Art, insbesondere solche der egalitären Ko-Produktion. Was sie verbindet, ist der Bezug auf ein „Objekt“. Daraus zieht Hans Falck die Schlussfolgerung: „Die Grundeinheit der Gesellschaft ist die kleine menschliche Kollektivität, nicht das Individuum“ (Falck in Kunstreich 2022: 103).

 

Drittens: Politik des Sozialen bedeutet Gestaltung der Lebensverhältnisse durch die Subjekte selbst

 

Ein Subjektbegriff, der auf Praxen beruht, in denen die Akteure auf der Basis von Gleichheit ihre Differenzen als Freiheit erleben, hat Konsequenzen für das „Soziale“ selbst. Begreift man das Soziale mit Marx (das Individuum ist das Ensemble gesellschaftlicher Beziehungen) oder auch mit Bourdieu (das Soziale als den wechselseitigen Konstitutionsprozess der Subjekte in gesellschaftlichen Räumen), dann lässt sich das Soziale als aktiver, wechselseitiger Konstitutionsprozess handelnder Subjekte begreifen, die sich ihrer Einmaligkeit dadurch versichern, dass sie Mitglieder in unterschiedlichen informellen und formellen Gruppierungen, Institutionen, Milieus sind. Damit wird eine relationale Konstitution der Subjekte entworfen, die nicht von der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, sondern von interaktiver, relationaler Identität ausgeht. Aus dieser Perspektive der Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, von zeitlich begrenzten, geschlechtlich spezifizierten, altersmäßig unterschiedlich gestalteten Zugehörigkeiten relativiert sich die hegemoniale Bedeutung von Betrieb, Familie, Schule, Partei und anderen Institutionen der „ideologischen Staatsapparate“ (Poulantzas 1978). Zu dieser Vorstellung gehört die Möglichkeit der Wahl, d.h. der subjektiven Entscheidung für oder gegen eine Gruppe, so dass sich Netzwerke von Gruppenzugehörigkeiten darstellen lassen, in denen typischerweise nicht von einer Mitgliedschaft gesprochen werden kann, sondern wo reale Teilhabe an sehr unterschiedlichen formellen, vor allem aber informellen bzw. non-formalen Gruppierungen die zentrale Rolle im Alltagsleben und in den Lebensentwürfen spielt (vgl. Falck 1997; Kunstreich 2022).

 

Was tun?!

 

Die Konzeption einer Politik des Sozialen hat eher im links-alternativen Bereich Resonanz gefunden. Im Mainstream der Sozialpolitik sind diese und vergleichbare Ansätze bislang nur mit der Forderung nach einem „Bedingungslosen Grundeinkommen“ (BGE) konfliktfähig geworden. Grundelemente dieser Diskussion finden sich in den eingangs diskutierten bedingungslosen „sozialen Garantien“ (1. Strang), in „egalitärer Ko-Produktion“ (2. Strang) und „alternativer Vergesellschaftung im Sozialstaat“ (3. Strang). Auch von konservativer und insbesondere liberaler Seite werden Grundeinkommens-Konzepte favorisiert. Diese werden aber an Bedingungen geknüpft, vor allem an die Aufnahme von Lohnarbeit – eine neoliberale Modernisierung von Hartz IV bzw. dem Bürgergeld. Eine wirkliche Alternative bilden nur Ansätze des BGE, die ein existenzsicherndes Einkommen ohne Bedürfnisprüfung zur Grundlage haben. 

Auf der Basis der Politik des Sozialen lässt sich noch eine andere politische und kulturelle Vorstellung einer Existenzsicherung vorstellen: eine „Garantierte Grundarbeitszeit“ (GGA). Dieser Vorschlag geht davon aus, dass in allen gesellschaftlichen Sphären – Lohnarbeit, Care-Arbeit, politische und kulturelle Aktivitäten – gleichgewichtig und gleichwertig Zeiten eingebracht werden, die mit dem Rechtsanspruch auf einen bedingungslosen „living wage“ zu verbinden sind. „Living wage“ kann damit übersetzt werden, dass er Freiheiten ermöglicht, also Freiheit für etwas zur Verfügung stellt, nicht Freiheit von etwas sichert (vgl. Weber 2021). Um das zu begründen, soll ein Überblick über die bisherige Diskussion gegeben, dann BGE und GGA verglichen und schließlich GGA als Element einer „Infrastrukturpolitik des Sozialen“ vorgestellt werden.

 

Die Grundeinkommen-Diskussion[4]

 

Politik und Ideologie des Thatcherism („Ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen und Familie!“) sowie Reagans Geburtshilfe eines finanzgetriebenen Kapitalismus führten zu einer Hegemonie des Neoliberalismus — bis heute, auch wenn erste Kratzer erkennbar sind. In dieser Zeit begannen erste Visionen und praktische Experimente mit einem Grundeinkommen für alle Mitglieder einer Gesellschaft. Denn der neoliberale Angriff auf die kollektiven Sicherungssysteme sozialdemokratischer Art führte zu grundlegenden Veränderungen von sozialen Rechtsansprüchen: Sie wurden zunehmend an Bedingungen geknüpft bzw. an die Erfüllung von „Voraus-Leistungen“ und Verhaltensnormen. Exemplarisch dafür stehen die Hartz-Reformen, die zu einer massenhaften Verarmung führten (und führen), an der die Betroffenen noch selbst „freiwillig mitwirken“ bzw. dazu gezwungen werden. 

Ermutigt durch die antiautoritäre Revolte der Achtundsechziger entwickelten sich in dieser Phase Praktiken eines alternativen Lebens und Wirtschaftens. Mit dem Aufstieg der Grünen verstärkte sich eine Diskussion um die Frage, wie die Sicherung des täglichen Lebens von „repressiver“ Lohnarbeit getrennt werden könne. Führende Repräsentanten neoliberaler „Gesellschafts-Reform“ beteiligten sich mit Steuermodellen (Negativsteuer; Sozialdividende). Im Rückblick zeigt sich ein wellenförmiger Diskussionsverlauf. Wenn z.B. neue Maßnahmen des „Forderns und Förderns“ die Ideologie der „sozialen Sicherheit“ durch „Selbstoptimierung“ ad absurdum führen, wird intensiver nach einem neuen Ansatz der Absicherung gesucht. Das BGE, das nur in wenigen Konzepten subjektiv „bedingungslos“ ist (also ohne Bedürftigkeitsprüfung), erfährt immer neue Varianten – von der neoliberalen Marktradikalität über die konservative Erneuerung des Status-quo bis hin zu den gesellschaftskritischen Umbauplänen im linken und grünen Spektrum. Das gewerkschaftliche Spektrum war sich zunächst einig, dass derartige Diskussionen neoliberale Spinnereien seien. Inzwischen führen ver.di und IG Metall ernsthafte Diskussionen über eine andere Form von gesellschaftlicher Absicherung. Angeknüpft wird nicht an die alte Forderung der Arbeiterbewegung „Recht auf Arbeit“, die Diskussion geht um Arbeitszeitreduzierung (vgl. Bischoff 2007). Dass in der DDR ein verfassungsmäßiges „Recht auf Arbeit“ festgeschrieben und tatsächlich realisiert war, wird tabuisiert bzw. als repressives Negativbeispiel aufgeführt.

 

BGE und GGA – zwei unterschiedliche Modelle in der Diskussion

 

Das BGE wird in unterschiedlichen Varianten in der Partei Bündnis 90/Die Grünen diskutiert und ist Teil des Parteiprogramms. Auch in Teilen der SPD gibt es – vor allem bei den Jungsozialisten – Anhänger einer bedingungslosen Grundsicherung. Die Partei Die Linke hat in einer Mitgliederabstimmung mit fast einer Zweidrittelmehrheit für die Aufnahme des BGE in das Parteiprogramm gestimmt. Die Diskussion geht weiter. In einer einseitigen Annonce in der nd.Die Woche (10./11. September 2022) haben Befürworter wichtige Gründe für ein BGE aufgeführt, die im Folgenden von Vertretern der GGA kommentiert und kritisiert werden. Die Pro- und Contra-Argumente decken sich weitgehend mit der Debatte um ein BGE in der gesellschaftlichen Linken.

Einkommensarmut wäre im BGE in der Tat weitgehend reduziert; Prozesse, die im Kapitalismus zu Armut führen (Ausschließungen aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Herkunft, der Bildung, also der Klassenlage im umfassenden Sinne) blieben aber unberührt. Die GGA wirkt individuell und kollektiv auf graduelle Ausschließung ein, indem sie für alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten ein Einkommen garantiert und somit Sorge um andere (Care), kulturelle und sportliche Tätigkeiten, politische Kooperationen mit Lohnarbeit gleich bewertet (vgl. Konzept 4-in-1 von Frigga Haug).

Auch wenn die Verhandlungsmacht jeder und jedes Einzelnen durch das BGE vielleicht gesteigert werden könnte, könnte die gewerkschaftliche Vertretungsmacht bei einer entsprechenden neoliberalen Ideologiekampagne deutlich geschwächt werden. Vorstellung von Macht in der GGA ist eine andere. Sie geht von den vielen Kooperationen aus, in denen jeder Mensch in unserer Gesellschaft eingebunden ist und die ihn tragen. Alle vier Tätigkeitsbereiche sind nur kooperativ denkbar. Die Macht von Kooperationen liegt darin, dass Menschen mit und in ihnen etwas schaffen können, was sie als Vereinzelte nicht könnten.

BGE und GGA würden beide den Zwang zu Lohn-Arbeit beenden und sind in dieser Weise bedingungslos. Beide unterliegen aber den gesellschaftlichen Folgen eines hochentwickelten Kapitalismus mit entsprechender Gewinner- und Verlierer-Produktion. In diesem Sinne sind beide nicht bedingungslos. Während das BGE hofft, dass diese Bedingungen sich im Prozess der Durchsetzung dieses Modells ändern, ist die Durchsetzung einer GGA daran gebunden, dass die gesamte Sozialpolitik von einem Kompensations-Motor zu einem Modell einer „Infrastrukturpolitik“ wird. Perspektivisch bedeutet dies ein vom individuellen Einkommen entkoppeltes, mietfreies Wohnen, kostenlose Mobilität und kulturelle Teilhabe, umfassende kostenlose Bildung und kostenlose vorbeugende Gesundheitsversorgung. Diese Infrastruktur repräsentiert das gesellschaftlich erwirtschaftete Sozialvermögen und ist Sozialeigentum aller Gesellschaftsmitglieder (vgl. Völker 2013). Eine gleichberechtigte Nutzung steht jedem Gesellschaftsmitglied zu. Je umfassender beides – das Sozialvermögen und das Sozialeigentum – ist, desto niedriger kann das individuelle Einkommen ausfallen, für das man Sachen am Markt kaufen kann: Essen, Trinken und Bekleidung und noch einiges mehr.

Ein Grundeinkommen jeglicher Art muss von allen finanziert werden – direkt oder indirekt. Ohne das bisherige Steuersystem umzubauen, wird das aber kaum gelingen. Die Höhe sowohl des BGE als auch der GGA wird von gesellschaftlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen bestimmt werden. Beim BGE besteht die Gefahr, dass es aufgrund der Kräfteverhältnisse so niedrig ausfallen wird, dass es doch mit einem Zwang zur Lohnarbeit verbunden bleibt. Die Höhe des „Entgelts“ der GGA ist nicht fixiert, da die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um eine Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik die Bezugspunkte sind. Angestrebt wird ein Geldbetrag, von dem man einigermaßen gut leben kann: ein „living wage“.

Die Idee der GGA sieht vor, dass nicht nur das individuelle Einkommen in dem kommunalen Raum, in dem man lebt, ausgezahlt wird, sondern auch die Möglichkeiten eröffnet werden, andere gesellschaftlich notwendige bzw. sinnvolle (und in diesem Sinne produktive) Tätigkeiten zu ergreifen. Die dafür erforderlichen finanziellen Mittel sollen in einem Kommunalen Ressourcenfonds (KoReF) gebündelt werden. Demokratisch gestaltet und verwaltet durch die sozialen Kräfte des jeweiligen Ortes oder Stadtteils werden hier neben dem persönlichen Geldbetrag mögliche Kooperationen im kulturellen, gesundheitlichen und sozialen Bereich gestiftet, sofern sie nicht selbst entwickelt werden. Die beantragende Person definiert das Verhältnis der vier Tätigkeitsbereiche zueinander selbst und schließt mit dem KoReF einen Vertrag darüber ab.

Da die GGA erst in gesellschaftlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen durchgesetzt werden kann, ist jeder Schritt dorthin wichtig. Die Abschaffung der Sanktionen im Bürgergeld, der Mietenstopp, die Kommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft, all die kleinen und großen Auseinandersetzungen, die in die Richtung einer Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik gehen, sind wichtige Etappen in diesem grundlegenden gesellschaftlichen Umbau. 

Eine wichtige Perspektive auf einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts wäre damit formuliert, denn die Grundidee der GGA ist in jeder Gesellschaft realisierbar, da die vier gesellschaftlich produktiven Tätigkeiten nicht nur die Basis in einer hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaft sind, sondern auch in allen anderen, insbesondere in solchen, in denen kollektive Arbeitsformen und Lebensweisen schon oder noch vorherrschen. Um das eingangs gebrauchte Bild des Korridors wieder aufzunehmen, ließe sich sagen, dass das BGE die sozialpolitische Renovierung des Flures wäre, die GGA hingegen der Neubau des gesamten Hauses – in der Form einer Infrastruktur-Politik des Sozialen.

 

Die GGA als Element einer Infrastruktur-Politik des Sozialen

 

Einige der im Vergleich von BGE und GGA gemachten Andeutungen sollen im Folgenden unter dem Aspekt einer Infrastruktur-Politik des Sozialen und für ein besseres Verständnis der GGA vertieft werden. Soziale Sicherungen müssen einen kollektiven Charakter haben. So fragt Robert Castel (2011: 336ff.), wie eine systematische Äquivalenz für die auf (Privat--)Eigentum beruhende Absicherung der Kapital-Besitzer*innen für die Klassen und Individuen beschaffen sein muss, die als Eigentum nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen können. Er nennt den jeweils individuellen Abzug vom Lohn zur Bildung kollektiver Fonds „Sozialeigentum“ und meint damit die durch soziale und politische Klassenkämpfe erreichten Formen der Absicherungen durch die Sozialversicherungen oder staatliche Garantieleistungen bzw. Rechtsansprüchen aus Steuern. Die Fundierung dieses „Sozialeigentums“ in einem „Sozialvermögen“, aus dem soziale Garantien finanziert werden, ist die wichtigste Konsequenz für die praktische Umsetzung einer Infrastruktur-Politik des Sozialen.

„Arbeit ist die Aneignung der inneren und äußeren Natur“ (Marx). Arbeit ist damit in jeder menschlichen Tätigkeit enthalten, von der Beschaffung von Ernährung über Wohnen, Erziehen, Pflegen bis zur Herstellung von Produktionsmitteln, die eine gesellschaftliche Produktivität ermöglichen, die der „Gattung Mensch“ zu einem „guten Leben“ verhelfen kann. Ob das gelingt oder ob die Menschheit daran scheitert, hängt wesentlich von den Produktionsverhältnissen ab. Alle diese Formen von Arbeit zusammen haben die Produktivität der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht. Es gilt, sie vom kapitalistischen „Wertgesetz“ zu befreien. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich ein alternativer Zugang zu „sozialen Garantien“. Diese werden so weit wie möglich als kollektive Sicherheiten konzipiert, in denen die individuelle Konsumtion eine untergeordnete Rolle spielt, die aber die individuellen Handlungsspielräume – und damit die Freiheitsräume – erweitern und sichern. Dieser Ansatz versteht Sozialpolitik als Infrastruktur-Politik und die auf diese Weise hergestellte Infrastruktur als Sozialvermögen im Sozialeigentum von stetig auszuweitenden „Berechtigten“. (AG links-netz 2005, ergänzt durch Elemente einer „Politik des Sozialen“, wie sie die Widersprüche-Redaktion entwickelt hat; vgl. den Überblick von Kunstreich 1999: 135-155).

 

&Z&„Statt einer selektiven und gruppenspezifischen Sozialpolitik wäre die Entwicklung einer gesellschaftlichen Infrastruktur voranzutreiben, die ein vernünftiges gesellschaftliches Leben für alle möglich macht. Dies bedeutet die Mobilisierung und Bereitstellung institutioneller und materieller Ressourcen, die für die anerkannten sozialen Aktivitäten nötig sind und die von den Einzelnen nicht selbst hergestellt werden können oder sollen. Zu diesen gesellschaftlichen Aktivitäten gehört in erster Linie das Betreiben des eigenen Lebens […] und die umfassende Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft. Herkömmlich wird Infrastruktur einseitig als Voraussetzung der Produktion […] verstanden und meint daher rechtliche Regelungen, materielle Produktionsvoraussetzungen wie das Verkehrsnetz oder auch das Kanonenboot, das zur Erschließung von Märkten ausgeschickt wird. Diesen Begriff gilt es grundsätzlich zu erweitern.“ (AG links-netz 2005: 37/39, Hervorhebung: TK)&Z&

 

Die dafür ausgebaute soziale Infrastruktur wird unentgeltlich zur Verfügung gestellt und ist damit das Herzstück aller sozialen Garantien: 

 

&Z&„Dies reicht von Bildung und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen und Verkehr. […] Gleichzeitig wäre diese Infrastruktur so weit als möglich demokratisch und dezentral zu organisieren, sodass sie bedarfsnah und von den Beteiligten unmittelbar beeinflusst/kontrollierbar gestaltet werden kann. Die Menschen sollen nicht als abhängige Klienten des Sozialstaates und seiner Experten behandelt werden, sondern selber – zum Beispiel im Rahmen von Verfügungsfonds – darüber entscheiden, welche Einrichtungen und Dienstleistungen sie brauchen. […] Die Grundsicherung hätte die Bedürfnisse abzudecken, die nur warenförmig, d. h. nicht über die ausgebaute soziale Infrastruktur befriedigt werden können. Insofern besteht zwischen „Infrastruktur“ und „Grundsicherung“ ein enger Zusammenhang. Je ausgebauter das Angebot an öffentlichen Gütern, desto geringer kann die Grundsicherung ausfallen“ (Hirsch 2005: 40, Hervorhebung: TK).&Z&

 

&Ü3&Soziale Infrastruktur-Politik wird zu einer eigenen ökonomischen Form&Ü3&

 

Die staatlich regulierte soziale Infrastruktur könnte nicht über die bekannten Steuern allein finanziert werden; es braucht vielmehr eine Kapital-Transfersteuer, durch die privat angeeignete Vermögensanteile in ein staatlich verwaltetes, aber demokratisch kontrolliertes Sozialvermögen überführt werden. Diese Konzeption hat im Wesentlichen Horst Müller in seinen umfangreichen Erörterungen über die „Praxis im 21. Jahrhundert“ (2021) entwickelt.

 

&Z&„Die Kapitalismuskritik hat bisher vor allem auf den entfremdeten, d. h. prekären, imperialen, katastrophischen Charakter der modernen Produktionsweise hingewiesen. Jetzt macht sich zunehmend ein anderer, kardinaler Konstruktionsfehler der herrschenden Verwertungsökonomie bemerkbar. Die Crux der Kapitalwirtschaft besteht darin, dass als wertschaffende Arbeit letztlich nur rangiert, was sich der kapitalwirtschaftlichen Form beugt und so in die Reproduktionskreise der kapitalistischen Warenproduktion einfügen lässt, während alle andere gesellschaftlich notwendige, nützliche und sinnvolle Tätigkeit als mehr oder weniger Ballast, Übel oder Anhängsel behandelt wird. Die mögliche neue Wirtschaftsweise einer Sozialwirtschaft beruht demgegenüber auf einer durch wirtschaftsgesellschaftliche Organe vermittelten, paritätischen Inwertsetzung und Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste aus dieser prekären Stellung und auf einer damit einhergehenden Umstimmung des gesamten Reproduktionszusammenhangs.“ (Müller 2005: 254).&Z&

 

Daraus folgt ein alternatives Reproduktionsschema, das Horst Müller „Sozialwirtschaft“ bzw. „Sozialstaatswirtschaft“ nennt. „‘Sozialwirtschaft‘ wird hier verstanden als systemisch-historische Alternative zur ‚Kapitalwirtschaft‘ in Verbindung mit der These, dass beide ökonomischen Formbildungen in Prozess gesetzt sind. Ein totalisierender Begriff von ‚Kapitalismus‘ lenkt davon ab“ (Müller 2005: 254, Anm. 1). Müller belegt, dass die Bereiche Bildung und Erziehung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität und was noch zum „Betreiben des eigenen Lebens“ (s.o.) gehört, keinen Abzug vom Profit in der Kapitalakkumulation darstellen, sondern – umgekehrt – dass diese gesellschaftliche und ökonomische Vorleistungen sind, die als notwendige Investitionen der „Kapitalwirtschaft“ quasi als Kredit vorgeschossen werden. Wenn dieser „Kredit“ in Form einer Kapital-Transfersteuer an diese Bereiche zurückgezahlt wird, verändert sich auch die Funktion des Staates als Regulator derartiger Prozesse. Die Rücknahme staatlicher Funktionen in die Gesellschaft kann nicht durch „Marktsimulationen“ des „Monopolkunden Staat“ (Privatisierungen und Neue Steuerungsmodelle) gelingen, sondern nur als Prozess der Demokratisierung der sozialen Infrastruktur als Basis des Sozialvermögens. Eine wichtige Organisationsform in Entwicklung, Gestaltung und Verwaltung des Sozialeigentums wird die Genossenschaft sein bzw. vergleichbare kooperative Betriebsformen, die die Akkumulationsdynamik des Kapitals neutralisieren und die die betriebswirtschaftliche Form des Sozialeigentums sind. Wohnungsbaugenossenschaften und Konsumgenossenschaften können dafür als (ausbaufähige) Modelle dienen.

Bildung und Erziehung, aber auch das Gesundheitswesen, würden – entsprechend dem Konzept der egalitären Ko-Produktion – sowohl von den Nutzerinnen und Nutzern als auch von den dort arbeitenden Professionellen gemeinsam betrieben werden. Aus der rückfließenden Kapital-Transfersteuer werden sich „Kommunale Ressourcen Fonds“ (KoReF) bilden können, durch die sichergestellt werden kann, dass die Vorleistungsfunktionen für die „Kapitalwirtschaft“ tatsächlich erfüllt werden können. 

Ähnliche Vorstellungen entwickelte Eduard Heimann schon Ende der zwanziger Jahre, wenn er die zunehmende gesellschaftliche Regulation des Kapitals als ein Zurückdrängen der Kapitaldominanz interpretierte. Dieses sah er als Kernaufgabe der Sozialpolitik an, die er damit zugleich als eine kontinuierliche Form der „Sozialisierung“ interpretierte. Lothar Böhnisch hat diese „dialektische wechselseitige Angewiesenheit“ von kapitalistischen Strukturen und sozialer Infrastruktur in einer entsprechenden Re-Lektüre von Heimann in vielen Facetten auf die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen übertragen (2020). Diese Idee könnte zu einer Konkretisierung dessen führen, was Rosa Luxemburg „revolutionäre Realpolitik“ genannt hat und Joachim Hirsch „radikalen Reformismus“. Die Garantierte Grundarbeitszeit könnte auf diese Weise der Kern einer umfassenden Infrastruktur-Politik des Sozialen werden.

 

&Ü1&Literatur&Ü1&

 

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Böhnisch, L. 2021: Die Dialektik der Angewiesenheit. Das sozialpolitische Werk von Eduard Heimann neu lesen. Bielefeld

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- 1987: Pluraler Marxismus, Bd. 2. Berlin

- 1988: Gramsci und die Politik des Kulturellen. In: Das Argument 167: 32-48.

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- 2021: Das Konzept der PRAXIS im 21. Jahrhundert. Karl Marx und die Praxisdenker, das Praxiskonzept in der Übergangsperiode und die latent existierende Systemalternative. 2. vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage. BoD, Norderstedt

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Redaktion Widersprüche 1984: Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich! In: Widersprüche 11: 121-135

- 1985: „Mindesteinkommen“ als soziale Garantien. in: Widersprüche 15: 91-100

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Weber, J. 2021: Freiheit und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel

 

Timm Kunstreich

E-Mail: timmkunstreich@t-online.de


 


[1] Der Text fußt auf vielen Diskussionen, die innerhalb der Widersprüche-Redaktion seit Beginn der 1980er Jahre geführt worden sind. Ich versuche eine Zusammenfassung und Zuspitzung aus meiner Perspektive. Für Widerspruch und konstruktive Kritik sowie für wichtige Ergänzungen danke ich Wolfgang Völker.

[2] Zum ersten Mal formuliert in unserem Thesenpapier: Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich (Widersprüche Redaktion 1984: 121-135). Wo eine Reflexion angebracht war, habe ich aktualisiert. 

[3] In der Diskussion der Widersprüche-Redaktion sprachen wir zunächst von „ProduzentInnen-Sozialpolitik“. Der Begriff der „egalitären Ko-Produktion“ ist eine Erweiterung; er beruht auf einem erweiterten Arbeitsbegriff und hebt die Hierarchie zwischen ExpertInnen und NutzerInnen/AdressatInnen auf.

[4] Vgl. dazu ausführlich Blaschke/Otto/Schepers 2010; Franzmann 2010; Hirsch et al. 2013; Völker 2013; Kronauer 2019; Lessenich 2020; Reitter 2021.