Der Tod von Flüchtlingen ist Ausdruck der EU-Abwehrpolitik
Die Europäische Union hat am Internationalen Tag der Menschenrechte ihre Bauanleitung beschlossen, mit der sie in den nächsten fünf Jahren die Politikfelder Justiz und Inneres gestalten will. Das sogenannte Stockholmer Programm formuliert sehr konkret die Flüchtlingsabwehr, die Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX und die Einbindung von Transitstaaten als Türsteher Europas. Völlig unbestimmt bleibt es bei Fragen des Menschenrechtsschutzes an den Außengrenzen. Wie das „Europa des Asyls" oder der „gemeinsame Schutzraum für Flüchtlinge" überhaupt noch lebend erreicht werden kann, wird mit keiner Silbe erwähnt.
Verschiedene antirassistische Gruppen und Menschenrechtsorganisationen haben bereits im Vorfeld mit verschiedenen Aktionen in Brüssel die EU mit der traurigen Realität an den Außengrenzen konfrontiert. Ihr Fazit: Völkerrechtswidrige Zurückweisungen, willkürliche Inhaftierungen und der Tod von Flüchtlingen sind traurige Realität und Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas. Ihre Befürchtung: Das Stockholmer Programm knüpft nahtlos an diese Politik an.
Traurige Realität
Die Menschenrechte und internationale Flüchtlingsschutzstandards werden täglich an den EU-Außengrenzen eklatant verletzt. Schutzsuchende werden in Transitländer wie Libyen, die Türkei, Mauretanien und die Ukraine zurücktransportiert, egal wie es dort um die Menschenrechte bestellt ist. Die Todesrate bei den Einreiseversuchen an der Seegrenze nach Europa ist unvermindert hoch. Über 500 Bootsflüchtlinge sind seit Beginn 2009 allein im Kanal von Sizilien ums Leben gekommen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten führen über alles Statistik. Bezeichnenderweise sind sie nicht bereit, die Opferzahlen der Festung Europa zu dokumentieren, geschweige denn eine humane Antwort zu finden, um dieses Massensterben zu beenden. Häufig schauen Mitgliedsstaaten einfach nur zu, wie Bootsflüchtlinge verzweifelt um ihr nacktes Überleben kämpfen. Sie streiten sich derweil über Zuständigkeitsfragen bei der Seenotrettung. Schiffscrews, die Flüchtlinge aus dem Wasser fischen, müssen befürchten, mit skandalösen Verfahren wegen Beihilfe zur „illegalen Einreise" überzogen zu werden. Die fatale Botschaft dieser Gerichtsverfahren: Schiffsbesatzungen schaut weg, fahrt weiter und legt euch nicht mit der Festung Europa an. Entlang der europäischen Küsten und Landgrenzen entstehen immer mehr Haftanstalten für die neuankommenden Flüchtlinge. Potentiellen Schutzsuchenden auf der anderen Seite des Meeres soll vermittelt werden, dass an den europäischen Küsten nur die Inhaftierung, der Rücktransport oder der nasse Tod auf sie wartet. Selbst Asylsuchende, die es auf das EU-Territorium schaffen, sind zunehmend in der sogenannten Dublin-Falle gefangen. Der geographische Zufall und die Frage, welcher Fluchtweg überhaupt noch offen ist, bestimmen in der Regel, welches EU-Land für das Asylverfahren zuständig ist. In Deutschland und in anderen Staaten im Norden Europas kämpfen tausende Flüchtlinge aus dem Irak, Afghanistan, Somalia und Eritrea gegen ihre Rücküberstellung, das heißt Abschiebung, nach Griechenland. Viele von ihnen werden deshalb erneut in Deutschland und anderswo inhaftiert.
Widerstand gegen ein Kriegsschiff
Zwei langwierige Gerichtsverfahren gingen im sizilianischen Agrigento im Oktober und November 2009 zu Ende. Zwei Prozesse, die nie hätten stattfinden dürfen. Angeklagt war die Crew der Cap Anamur, die 37 Bootsflüchtlinge im Juni 2004 vor dem sicheren Tod rettete. Im zweiten Verfahren wurde sieben tunesischen Fischern der Prozess gemacht, die 44 Bootsflüchtlinge am 8. August 2007 aus Seenot gerettet haben. Der Kapitän der Cap Anamur, Stefan Schmidt, und Elias Bierdel wurden am 7. Oktober 2009 nach einem fast dreijährigen Prozess und die sieben Fischer am 17.11.2009 vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise freigesprochen. Aber die beiden tunesischen Kapitäne der „Morthada" und der „Mohamed El Hedi" wurden wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt und gegen ein Kriegsschiff zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Der damals diensthabende Kommandant der italienischen Küstenwache vertrat im Prozess die Auffassung, die MigrantInnen seien nicht in Lebensgefahr gewesen. Deshalb habe es sich nicht um eine Rettungsaktion gehandelt. Es sei die Pflicht der Küstenwache gewesen, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern. Die Manöver, mit denen die Kapitäne einer Kollision mit den Marineschiffen auswichen, wurden ihnen nun zur Last gelegt. Fakt ist: Den Flüchtlingen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Allein drei von ihnen mussten umgehend nach ihrer Ankunft auf Lampedusa mit dem Rettungshubschrauber nach Sizilien ausgeflogen werden. Die beiden verurteilten Kapitäne gehen in die Berufung. Aber auch die freigesprochen Fischer haben bereits Ihre berufliche Existenz verloren: Ihre Schiffe wurden konfisziert, ihre Fischereilizenzen nicht erneuert. Humanitäre Hilfe ist keine Straftat. Das gilt für tunesische Fischer ebenso wie für Kapitän Stefan Schmidt und Elias Bierdel, deren Prozesse und Freisprüche zum Tribunal gegen die Kriminalisierung der Hilfe auf Hoher See wurden. Unsere Solidarität muss jetzt vor allem diesen sieben tunesischen Lebensrettern gelten, deren Existenz vernichtet wurde.
Botschaft: Wegschauen und Weiterfahren
Bereits von den quälend langen Verfahren ging eine verheerende Signalwirkung aus. Bootsflüchtlinge berichten immer häufiger, dass Schiffe an ihren seeuntüchtigen Booten vorbeigefahren sind, ohne zu helfen. Ende Juli 2009 verließen 82 Bootsflüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und Nigeria mit einem Schlauchboot Libyen - unter ihnen 25 Frauen, zwei von ihnen schwanger. Nachdem sie die Orientierung verloren hatten und ihnen der Treibstoff ausging, trieben sie drei Wochen lang hilflos im Seegebiet zwischen Libyen, Malta und Italien. Am 20. August rettete ein italienisches Boot die fünf Überlebenden und brachte sie nach Sizilien: 77 Menschen waren während dieser Odyssee gestorben. Viele Schiffe hätten das wochenlang dümpelnde Boot passiert, ohne zu helfen. Die fünf überlebenden Bootsflüchtlinge berichteten nach ihrer Ankunft auf der italienischen Insel Lampedusa, dass Angehörige der maltesischen Marine sie zwar auf hoher See gesichtet, ihnen aber nicht geholfen haben. Lediglich Lebensmittel und Schwimmwesten seien ihnen zugeworfen wurden. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, forderte am 10. Dezember 2009 eine Untersuchung der Tragödie. Es müsse geklärt werden, warum niemand den Flüchtlingen geholfen habe. Hammarberg hat die Regierungen Italiens und Maltas bereits im August um Informationen gebeten, aber keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Das maltesische Innenministerium1 reagierte noch am gleichen Tag und beteuerte, dass es illegal wäre, wenn Malta Bootsflüchtlinge in internationalen Gewässern gegen ihren ausdrücklichen Willen retten würde. Vorausgesetzt, sie seien nicht in Todesgefahr.Italien: „Modell für Europa"
Die italienische Küstenwache bringt seit Anfang Mai 2009 Flüchtlingsschiffe bereits in internationalen Gewässern auf und drängt sie nach Libyen zurück. Nach Einschätzung von Chris Hein vom italienischen Flüchtlingsrat sind bis Dezember 2009 etwa 1.400 Menschen zurückverfrachtet worden. Diesen Bootsflüchtlingen wurde jegliche Hilfe und jeder Schutz verweigert. Sie wurden stattdessen wie Stückgut in die Haftlager einer Diktatur zurückgeschickt. Die Aktionen der italienischen Küstenwache verletzen internationales Flüchtlingsrecht und die Menschenrechte, aber ein nennenswerter Aufschrei in Europa oder gar Sanktionen blieben aus. Der rechtspopulistische italienische Innenminister Roberto Maroni jubelte und sprach von einem „historischen Tag" im Kampf gegen „illegale Einwanderung" und von einem „Modell für Europa". Schiffe der libyschen Küstenwache fangen mittlerweile sogar außerhalb ihres Hoheitsbereiches Flüchtlingsboote ab. Am 23. November 2009 gerieten etwa 80 Flüchtlinge 50 Meilen vor der italienischen Insel Lampedusa in Seenot. Italienische Stellen hatten die libysche Küstenwache verständigt, obwohl das Boot sich bereits in einem Seegebiet befunden hatte, in dem das EU-Mitgliedsland Malta für die Seenotrettung zuständig ist. Sie wurden nach Libyen zurückgebracht und dort unmittelbar nach Ankunft inhaftiert.Deutschland: Arbeitsteiliger Völkerrechtsbruch
Mitte Juni 2009 wurden 74 Bootsflüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, 110 Meilen südlich von Malta auf hoher See von der italienischen Küstenwache aufgebracht und dann einem libyschen Patrouillenboot übergeben. Beteiligt war auch eine deutsche Hubschraubereinheit. Die deutsche Regierung beteuert, die Aktion der italienischen Küstenwache sei keine Maßnahme im Rahmen der Frontex-Operation Nautilus IV gewesen. Die deutsche Hubschrauberbesatzung hatte die Informationen über die Ortung eines Flüchtlingsboots „zuständigkeitshalber" an die Malteser weitergegeben. Diese wiederum gaben die Informationen an die italienischen Kollegen weiter und die verständigten die „libyschen Kollegen". Für die zurückverfrachteten Flüchtlinge ist die Frage des arbeitsteiligen Völkerrechtsbruches - ob im Rahmen von FRONTEX oder außerhalb - unerheblich, sie kämpfen um ihr bloßes Überleben in den libyschen Haftlagern.FRONTEX: Die verfolgte Unschuld
Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX feiert die weitgehende Blockierung zweier wichtiger Fluchtrouten über das Meer im Jahr 2009 - von Libyen nach Italien bzw. Malta und von der westafrikanische Küste auf die Kanarischen Inseln - als Erfolg der EU-Abwehrmaßnahmen und der effizienten Einbindung west- und nordafrikanischer Staaten bei der Fluchtverhinderung. An der Westafrika-Route zu den Kanaren sei es erstmals gelungen, mehr Bootsflüchtlinge - etwa 2.600 - an der Abfahrt zu hindern, als auf den Kanarischen Inseln ankamen. 2.280 Flüchtlinge erreichten das Urlauberparadies in den ersten neun Monaten 2009 lebend. In 2008 seien es noch 8.000 Ankünfte gewesen. Nur zwei Flüchtlingsboote konnten von Senegal aus in den ersten drei Quartalen 2009 starten.2 Schaut sich ein Fernsehteam die „Erfolge" und vor allem ihr Zustande Kommen genauer an, reagiert die FRONTEX-Zentrale in Warschau als verfolgte Unschuld. Knapp 6.000 Bootsflüchtlinge wurden 2008 von der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX und den spanischen Behörden auf hoher See oder bereits in den Territorialgewässern westafrikanischer Staaten abgefangen und umgehend zurück geschickt. So steht es im FRONTEX-Jahresbericht 2008. Genau diese Praxis werfen europäische Menschenrechtsorganisationen der Agentur vor. Als das ARD-Magazin „Report Mainz" darüber berichtete, folgte prompt das Dementi des FRONTEX-Sprechers Michal Parzyszek: „Wir schicken keine Menschen auf hoher See zurück."3 Bizarr wird es, wenn der frühere Bundesinnenminister Schäuble, der genauso wie sein Vorgänger Schily die Patenschaft für FRONTEX für sich reklamiert, zu den völkerrechtswidrigen Zurückweisungen auf Hoher See feststellt: „Wer in Not ist und Flüchtling ist, hat einen Anspruch auf Aufnahme, und wer auf hoher See ist, wird nicht zurückgeschickt, sondern es gelten die Regeln der Genfer Konvention." Zurückweisungen auf See seien mit der geltenden Rechtslage unvereinbar. „Das ist gegen alle Regeln", so Schäuble. Ein Vertreter des Bundesinnenministeriums relativierte am 3.12.2009 vor dem Menschenrechtsauschuss des Deutschen Bundestages diese klaren Feststellungen Schäubles. Auf hoher See handle kein Staat auf eigenem Hoheitsgebiet. Die extraterritoriale Anwendung, zum Beispiel des Zurückweisungsverbotes der Genfer Flüchtlingskonvention, sei eine offene Rechtsfrage.
„Europa lässt euch nicht im Stich"
Die ambivalente Haltung der EU-Kommission zu Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen drückt sich in der Person des noch amtierenden EU-Kommissars Jaques Barrot aus. Die EU-Kommission setzt sich für eine Humanisierung der Asylsituation im Innern der EU ein, betreibt aber zeitgleich eine Politik der Einbindung der Transitstaaten, wie Libyen und die Türkei, um Fluchtwege nach Europa zu blockieren. Barrot besucht bei seinen Reisen in die EU-Frontstaaten, wie Griechenland und Malta, immer auch Lager, wo Flüchtlinge unter erbärmlichen Umständen inhaftiert sind. Meist kommt er betroffen zurück. In Malta rief er im März 2009 den Flüchtlingen, die ihm die monatelange Haft und die rassistischen Anfeindungen auf Malta schilderten, zu: „Europa lässt euch nicht im Stich." Und irgendwie meinte er das sicher auch ernst. Zuvor hatte er im Landeanflug auf die Insel formuliert, wie er sich die Hilfe für künftige Bootsflüchtlinge vorstellt: Er forderte mehr Kooperation der nordafrikanischen Staaten, vor allem von Libyen, damit die Bootsflüchtlinge erst gar nicht in die EU kommen. Nach einem ähnlichen Muster verliefen die Besuche an einem anderen „Hotspot" (FRONTEX-Jargon), der Außengrenze Griechenland/Türkei, ab. Auch hier zeigte sich Barrot erschrocken über die erbärmlichen Haftbedingungen auf den griechischen Inseln und die Tatsache, dass selbst Minderjährige dort inhaftiert waren. Dann reiste er weiter in das Nachbarland Türkei und formulierte am 11. September 2009 folgende Ziele: Es soll zügig ein Arbeitsabkommen zwischen dem Beitrittsland und FRONTEX und ein Rückübernahmeabkommen mit der EU abgeschlossen werden, um Griechenland, das von „Migranten überschwemmt" werde, zu entlasten.Karl Kopp
Fußnoten:
1 Times of Malta vom 10.12.09
2 Working with Senegal, Deutsche Welle vom 28.10.08)
3 Verstoß gegen Flüchtlingskonvention? Schwere Vorwürfe gegen EU-Grenzschutzagentur, Tagesschau vom 5.10.09, www.tagesschau.de/ausland/bootsfluechtlinge100.html
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 345, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, Januar 2010, www.graswurzel.net