Populismus als normalisierte Politik-Form

Ein Versuch, Aufmerksamkeit dafür herzustellen

In repräsentativen Formen der Demokratie können Bürger gesellschaftliche Teilnahme systematisch nur als Teil eines übergeordneten Ganzen realisieren: als ein anerkannter Teil der Nation sind es die Wahlberechtigten; Markt und Wirtschaftsstandort bestimmen die Nachfrage nach Arbeitskraft; Sozialstaat und „Solidargemeinschaft“ unterscheiden berechtigte und nicht berechtigte Bürgerinnen und Bürger. Zu den wichtigsten Bedingungen von Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlich produzierten Reichtum gehören Staatsbürgerschaft und Nützlichkeit als Arbeitskraft. Der Sozialstaat setzt als Bedingung für Teilhabe an Ressourcen sowohl „Einzahlungen“ wie Nützlichkeit und Diszipliniertheit. Schon diese Bedingungen für gesellschaftliche Teilnahme erinnern an Identitätspolitik, ein zentrales Merkmal von Populismus. Wenn man sich weitere „populistische“ Strategien vor Augen führt (die übliche Krisen-Rhetorik, Feindbildproduktion und Ausschließungsbereitschaft) wird deutlich, dass diese Strategien und Manöver schon länger ein institutionalisierter, d.h. struktureller Teil repräsentativer Demokratien sind. Heinz Steinert[1] (1999/2005) sprach daher von Populismus als Politik-Form. Nach der Ablösung von Interessenparteien durch Volksparteien und deren Konkurrenz um eine „großen Zahl“ von Köpfen wurde es die vorherrschende Politik-Form. Von „strukturellem Populismus“ kann man sprechen, weil das Prinzip „Organisation nach Köpfen, nicht die Organisation nach Interessen“ als Verfahren der Auswahl von Repräsentanten institutionalisiert wurde; zweitens weil es auch in anderen Bereichen (wie Kulturindustrie) um eine große Zahl von „Köpfen“ geht; und drittens weil von sozialen Institutionen oder auch Theorien populistische Manöver übernommen werden (wie Feindbildproduktion, Diskreditierung von Konkurrenten als Gefahr für ein Großes & Ganzes, Organisierung negativer Koalitionen).

In der inzwischen kaum überschaubaren sozialwissenschaftlichen und kulturindustriellen Buch- und Textproduktion haben Perspektive und Begriff nur einen Nischenplatz. [2] Um Gründe für die derzeitige Hochkonjunktur von Kampagnen-Populismus zu erfahren, will ich zunächst erläutern, was dafür spricht, Populismus als herrschende Politik-Form zu analysieren, ich werde auf „strukturelle“ Grundlagen von Populismus im Modell repräsentativer Demokratie hinweisen. Anschließend interpretiere ich Erklärungen des ab 2015 beobachtbaren „Kampagnen-Populismus“, die 2017 vor und während der Bundestagswahlen in der journalistischen Kritik von Populismus angeboten wurde.

 

Populismus als Politik-Form

 

Über einige Merkmale populistischer Politik-Manöver scheint Einigkeit vorzuliegen. Dazu gehören: Identitätspolitik, die Propagierung von Krisenszenarien, die Bestimmung von Feinden, schließlich eine Gefolgschaft, die sich sowohl mobilisieren (und fanatisieren) wie still halten lässt. Alle Merkmale und Praktiken treffen auf die Politik zu, die von Volks-Parteien spätestens mit dem Übergang von fordistischer zu neoliberaler Produktionsweise praktiziert wurden.

 

Identitätspolitik statt Interessenpolitik

 

Wer sich auf welche „Identität“ berufen kann, lässt sich einerseits leicht feststellen: durch den Blick auf die eigene „identity card“. Da unter das Etikett „Nationalität“ jedoch Leute mit widerstreitenden Interessenlagen subsummiert werden, lässt sich Zugehörigkeit nur negativ konkretisieren — als Gegensatz von „Wir und Sie“. Die negative Koalition (und binäre Aufspaltung) hat den Vorteil, dass widerstreitende Interessen des „Wir“ überdeckt und Konflikte still gestellt werden können. Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Einheit (Nation, Volk) ist jedoch stets an weitere Identifizierungen gebunden: an Identifikation mit einer „Wertegemeinschaft“, „unserer Kultur“, „unserem Staat“, „unserer Marktwirtschaft“. Nur diejenigen, die sich mit einem „Großen & Ganzen“ identisch gemacht haben, können sich auf „Identität“ und Status eines „berechtigten Mitglieds“ berufen.

 

Populistische Strategien brauchen und bestimmen „Feinde“

 

Die Propagierung von Feinden und Bedrohungen, die sowohl von „innen wie von außen“ wie auch von „unten“ und „oben“ kommen, ist spezifisch für populistische Strategien und eng verbunden mit der Legitimation von Ausschlusspolitik. Die Angst vor ökonomischer Auszehrung, Missbrauch und Verkonsumierung des Wohlfahrtsstaats, Angst vor Kriminalität, Angst vor „Selbstabschaffung“ wegen „Übervölkerung“ durch Migranten, Angst vor Islamisierung usw. waren und bleiben austauschbar.

 

Politik für das „Große & Ganze“ und Legitimation von sozialer Ausschließung braucht „Krisen“

 

Für Selbst- und Politik-Darstellungen als in „unser aller Interesse“ liegend sind dramatische „Krisen-Situationen“ nützlich. Damit kann, z.B. in Kriegs- oder Austeritätszeiten oder um der florierenden Wirtschaft willen, Opferbereitschaft gefordert werden. Auch die Duldung von „hartem“ Durchgreifen gegen innere Feinde, „Belastungsexistenzen“ und zerstörerische Bedrohungen von außen gehören zum Repertoire. Kampagnenförmige Manöver vollziehen sich (wie Moral-Paniken) abwechselnd als Propagierung von Bedrohungsszenarien, Feinddefinitionen und Schlüssellösungen: Unser Problem wäre lösbar, die notwendige Härte gegen die „Richtigen“ und Nutzung von Ausschlussinstitutionen durch die politischen Klasse vorausgesetzt.

 

Strategische Nutzung von sozialem Unbehagen: Politik mit sozialer Angst

 

In gegenwärtigen Erklärungen der Mobilisierbarkeit für populistische Zwecke war z.B. weniger vom Ressentiment die Rede wie von „Angst“: Angst vor Flüchtlingen und Fremden, Abstiegsangst. Die Produktion sozialer Angst durch interessierte und dramatisierende Krisen-Propaganda „von oben“ zielt (wie die Instrumentalisierung des Ressentiments) auf eine Verschiebung der Austragung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Konflikte. Die größte Aufmerksamkeit galt 2010 der Propagandaschrift von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“; ein Paradebeispiel für die Produktion sozialer Angst „von oben“.

Soziale Angst ist kein Wort, das sich auf ein (im Blochschen Sinn) begrifflich noch nicht näher bestimmtes Unbehagen von Menschen in gesellschaftlichen Krisensituationen bezieht. Soziale Angst wird als Etikett gebraucht.[3] Zu erklären wäre wie, mit welchen kulturellen Mitteln, mit welchen Herrschaftstechniken und welchen von Institutionen verwalteten Etiketten und Theorien, die all das reproduzieren, ein noch unbestimmtes Unbehagen in die Form von sozialer Angst vor einer „eskalierenden Ordnungskrise“ und eines bevorstehenden Armageddon für die Lebensweise verwandelt wird, die innere und äußere „Feinde“ verursachen.

 

Exkurs: „Angst machen und Angst haben“[4]

 

Die Studie von Stuart Hall et al. „Policing the Crisis“ (1978) kann man bis heute als Analyse der „Urszene“ für Populismus als herrschende Politik-Form lesen. Untersucht wurde in den 1970ern (noch vor der „offiziellen“ Phase des Thatcherism 1979) die Dramatisierung von „Mugging“ (der Handtaschenraub) zu „Gewalt auf der Straße“, diese als Zeichen für eine „unsere“ gesellschaftliche Ordnung bedrohende Krise durch „Mugger“. Das Etikett „Mugger“ teilt mit, wer alles den englischen, normalen, auf Rechtschaffenheit, Arbeit und Disziplin beruhenden „way of life“ in Chaos und Anarchie zu stürzen drohte: der Mugger ist jung, Immigrant, arbeitsscheu, disziplinlos und das Produkt zerfallener Familienbande. All diese Prozesse und Rekrutierungen, so Hall et al., „ereignen“ sich nicht einfach. Sie erfordern das Zutun von sozialen Akteuren und sozialen Institutionen. Entscheidend sind nicht Populisten, sondern die Akteure von Institutionen (staatlich, kulturindustriell). Sie verfügen per Beruf über die Kategorien und Etiketten sowie über die organisierten und legitimierten Mittel, „Gesellschaftsfeinde“ oder „Gefährder“ und „Belastungen“ zu bestimmen. Es braucht Institutionen, die legitimiert Grenzen ziehen und ausschließen können. Am einfachsten geschieht dies immer noch durch die Bestimmung von Konflikten und Widerständigkeiten als „Kriminalität“ und durch den Ruf nach mehr Strafrecht, mehr Strafdrohung, mehr Polizei und den Vollzug härterer Strafen. Asylrecht und „Überlast“ durch eine „Flüchtlingswelle“ sind schon lange alternative Möglichkeiten. Zusammengefasst lautet das Ergebnis der Analyse von „Mugging“: Dramatisierung und Eskalation gesellschaftlicher Reaktionen lassen sich nicht allein mit dem Ressentiment „von unten“ erklären. Für eine „erfolgreiche“ Krisenbeschwörung und Identitätspolitik braucht es einen „Dramatisierungsverbund“ von sozialen Institutionen, ihren Staatsapparaten und kulturindustrialisierter Wissensproduktion.

 

Konstruktion des „populistischen Subjekts“

 

Angesagt für das populistische Subjekt ist entweder „Opferbereitschaft“ oder aber die Bereitschaft, sich kurzfristig mobilisieren und wieder beruhigen zu lassen. Als „Gefolgschaft“ soll sich das „populistische Subjekt“ freiwillig von Ansprüchen auf Mitbestimmung freimachen und die Entscheidungen einer politischen Führung übertragen. Gebraucht wird vom Populisten nur die Wahlstimme, um eigene Interessen als „Führung“ durchzusetzen. (Früher nannte man dieses Verhältnis „Ermächtigung“.) Mehr als die Wahlstimme braucht aber auch der Berufspolitiker nicht.

Das bedeutet nichts Geringeres, als dass repräsentative Demokratien sich grundsätzlich durch ein Demokratiedefizit auszeichnen. Zum einen gehören „Repräsentanten“ (der Honoratioren-Politiker, der Volks-Vertreter, die Berufspolitikerin, die politische Klasse) qua Position nicht mehr zum „Volk“. Repräsentanten stehen den Repräsentierten gegenüber – formell und inhaltlich. Wird Politik als Beruf, durch Repräsentanten einer Volks-Partei und vor allem durch große Verwaltungen betrieben, so schwinden im Ergebnis Kompetenz, Mittel und Notwendigkeit, konfligierende Interessen der Repräsentierten durch die Repräsentanten in Erfahrung zu bringen und einen vernünftigen Interessenkompromiss zu erarbeiten. In der Politik muss gleichwohl der Anspruch aufrechterhalten werden, basale Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung umzusetzen und diese mit einem „allgemeinen Wohl“ zu vermitteln. Diese Diskrepanz bildet die Urszene für populistische Politik: Es kann nicht mehr darum gehen (etwa als Arbeiterpartei oder wenigstens als „Arbeitnehmerpartei“ wie die SPD des Godesberger Programms) Interessen zu vertreten und Politik als Organisierung von pragmatischen Interessenkompromissen zu verstehen. Vielmehr geht es um eine Politik, die Interessengegensätze und Konflikte zu überspielen hat. Dies erfordert die Darstellung von Politik als eine, die im Interesse eines Großen & Ganzen betrieben werde, in dem jedoch alle partikularen Interessen aufgehoben wären. Dafür werden populistische Strategien gebraucht.

Rückblickend auf die Politiken der Durchsetzung der Arbeitsmoral des „Arbeitskraft-Unternehmers“ wird das Populistische der Strategien deutlich, derer sich „Thatcherism“ und „Reaganomics“, aber auch der bundesrepublikanische Komplex von Politik der Inneren Sicherheit und gespaltener Sozialpolitik bedienten. Die in der neoliberalen Phase explizit als Konkurrenten der Etablierten auftretenden rechts-populistischen Parteien und Akteure (wie Marine Le Pen in Frankreich, Haider bzw. Strache in Österreich, Blocher in der Schweiz, nun Trump in den USA, AfD-Politik in der Bundesrepublik) können als nachfolgende Schrittmacher neoliberaler Politik und modernisierter autoritärer Politiken einer Neuen Rechten begriffen werden. Für eine Beheimatung von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit stehen sie zur Verfügung.

Könnte der kampagnenförmige Populismus dadurch erklärt werden, dass der Übergang zu Identitätspolitik und zum autoritären „Sicherheitsstaat“ schon in der Endphase des Fordismus stattgefunden hat; dass diese Politikform also beim neoliberalen Umbau schon verfügbar war und gegenwärtig die Bedingungen für das Funktionieren des repräsentativen Modells von Demokratie durch die neoliberale Vorliebe für „die Märkte“ und die Ungleichheitspolitik soweit schwinden, dass politische Partizipation nur noch für kleine, privilegierte Gruppen vorhanden ist?

 

Kampagnen-Populismus: Erklärende Motiv-Diagnostiken

 

In der ebenfalls an „großen Zahlen“ orientierten journalistischen Kritik werden solche Fragen nicht gestellt. In Tageszeitungen liberaler Art findet man Fragen wie: „Weshalb beteiligen sich Leute an Pegida-Aufmärschen?“, „Warum diese Wut?“, „Warum dieser Hass?“; „Wer wählt warum AfD?“. Was teilen die Antworten auf die so gestellten Fragen mit? Um das in Erfahrung zu bringen, habe ich Kommentare, Reportagen und Hintergrundartikel von Tageszeitungen, die ich in thematischen Hängeregistern (hier „Populismus“) sammle, für das Jahr 2017 nochmals durchgelesen.[5] Die Texte enthalten: „Motiv-Diagnostiken“, eine Galerie von „Typen“, die prädestiniert wären, sich zum populistischen Subjekt machen zu lassen, Etiketten für das, was dem populistischen Subjekt fehlt und was es wiederhergestellt wissen will, schließlich einige Vorschläge von Schlüssellösungen bzw. moralische Appelle an Politik. Die folgende Liste von Etiketten ist Texten entnommen, die sich von populistischen Strategien distanzieren, oft allerdings nur von deren „übertriebenen“ Formen.

 

Etiketten I: Eine Liste von Gefühlen, „die wir ernst nehmen müssen“…

 

Angst vor Kriminalität, Angst vor Flüchtlingen und Fremden, Abstiegsangst, Statusangst, berechtigte Zukunftsangst (bei gut ausgebildeten Menschen), Angst vor „zu schneller“ und „zu rücksichtsloser“ Modernisierung oder Globalisierung, Angst vor Veränderung des Status quo; latentes Unbehagen gegenüber der neuen Zeit;

Gefühle von Heimatverlust, Wohlstandsverlust,

Abschreiben der Wohlstandsversprechen des Kapitalismus,

Blinde Wut, Hass, blindwütige Enttäuschung,

Vertrauensverlust der Politik,

diffuser Grant auf den liberalen Staat.

 

Etiketten II – —Typen: Die besonders zum „populistischen Subjekt“ Prädestinierten

 

„Verlierer“, („die seit einiger Zeit nicht mehr die richtigen Leute wählen“),

„Abgehängte“, „White Trash“, „die Unterschicht“,

„die Mittelschicht“, „Vergessene“, „Aufstrebende“, „Unzufriedenheitsmilieus“,

„Der unflexible Mensch“ (mit „überforderter Identität“),

„Die Ausrastenden“ (in „Ostdeutschland“, „nicht selten von der AfD angeleitet“),

„murrende Massen“, „Provokateure, die sich als Opfer inszenieren“.

„Der ostdeutsche Mann“,

„die maskulin dominierte Zurückbleibergesellschaft“ (in „Ostdeutschland“),

 

Etiketten III: Was dem populistischen Subjekt fehlt oder was es (wieder) will

 

Kontrolle über das eigene Land,

Respekt und Anerkennung,

„integriert erst einmal uns“,

„Sagen können, was man will“,

„Alles so bleibt wie es ist.“

Eine offene Zukunft,

Eine nicht populistische Protestpartei,

Eine Partei und Intellektuelle, die sich um Enttäuschte „kümmern“.

 

Etiketten IV: Defizite des populistischen Subjekts

 

Es fehlen Einsichten: „Die Wiedervereinigung war ein großes Glück und eine große Chance, aber keine Chance hat nur Gewinner.“ (SZ 209: 11.9.2017) Es fehlt „Autoimmunisierung gegen Enttäuschung“ (Gemeint ist damit die Fähigkeit z.B. der Friedensbewegung im bundesdeutschen Parlamentarismus „ihre politischen Erwartungen und Erfolgsvorstellungen herunterzuschrauben – und geduldig dicke Bretter zu bohren, zumal nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983.“ (SZ 237: 14./15. 10.2017).

 

&Ü3&Etiketten V: Was „wir“ brauchen, um uns mit „Rechtspopulismus“ auseinander zu setzen oder: „Wie also bleibt man wehrhaft ohne durch den eigenen Aufschrei seine Gegner zu überhöhen“? (SZ 208: 9./10.9.2017)&Ü3&

 

Vertrauen in die eigenen Werte,

Nicht hysterisch das Ende der Zivilisation an die Wand malen,

Aufstiegsversprechen des Kapitalismus (wieder) möglich machen,

Wahrnehmen, dass es uns vergleichsweise gut geht und dass der Neoliberalismus viele der Schutzlosigkeit preisgegeben hat,

Unter den AfD-Wähler*innen die Ängstlichen, die Protestwähler gegen die Flüchtlingspolitik, die Frustrierten und Rechten aller Couleur unterscheiden und nicht alle als Nazis beschimpfen;

„An der demokratisch-kapitalistischen Identität, die aus dynamischen Anerkennungsprozessen hervorgeht, kann nur teilhaben, wer sich mit eigenem Risiko aktiv beteiligt. (….) Gefragt ist aktive Hilfe zur Selbsthilfe.“ (SZ 235: 12.10.2017)

 

Alle Erklärungen arbeiten mit „Etiketten“. D.h. mit Abstraktionen, die Handlungen und Personen für einen bestimmten Zweck auf ein Merkmal reduzieren („Angst“ oder „Wut“ bzw. „Verlierer“ oder „Unzufriedenheitsmilieus“). Reduzierende Kategorisierungen und verdinglichende Typisierungen sind keine Beschreibungen von Handlungsgründen, sondern Zuschreibungen. Erstens handelt es sich um die Personalisierung von Gründen eines kollektiven Aktes. Motive und Gründe werden in das populistische Subjekt verlegt, dessen Angst, Wut oder Hass durch populistisch agierende Parteien oder Bewegungen strategisch genutzt bis fanatisiert werden kann. Zweitens sind die erklärenden Motiv-Diagnostiken Zuschreibungen, weil Populismus als eine Bewegung der „Verlierer“ oder „Unflexiblen“ bestimmt wird; oder aber, wie bei Statusangst oder Abstiegsangst der Mittelschicht, die Klassenlagen verschwinden; drittens schließlich sehen Etikettierungen („Typen“) von der Ambiguität von Handlungen ab, „Typen“ homogenisieren – dies nicht zuletzt um „Schlüssellösungen“ empfehlen zu können. Diese konzentrieren sich nicht nur auf die subjektive Seite, sie beschränken sich auf „symbolic politics“: Vertrauen wieder herstellen, „ernst nehmen“, „anerkennen“, „kümmern“, „aktive Hilfe zur Selbsthilfe“. Populismus als Politik-Form stand nicht zur Debatte. Für zwei Gruppen von Antworten (und Etikettierungen) will ich einen Interpretationsversuch machen.

 

Der Umgang mit Unbehagen am impliziten Arbeitsvertrag des Neoliberalismus

 

Die Personalisierung der Erklärungen von Populismus verdrängt nicht ganz das Unbehagen am durchgesetzten neoliberalen „impliziten Arbeitsvertrag“. Thematisiert finden wir „Unbehagen“ durch die Liste der Angst- und Verlustgefühle. Besprochen werden mit Angst-Etiketten und diversen Typen „Fehlentwicklungen“ eines globalisierten Kapitalismus oder nicht so intendierte Konsequenzen eines „triumphierenden“ Neoliberalismus für Teile der Bevölkerung, die den Anforderungen von Globalisierung nicht entsprechen können (wie der „unflexible Mensch“).

Die Kapitalismuskritik, die ich in Texten gefunden habe, ist wesentlich „sanfter“ als die (Wahlkampf-)Rede von neoliberalen Kapitalisten als „Schwärme von Heuschrecken“. Mit „Verlierern“ wird weniger degradierend und weniger spalterisch umgegangen als in Zeiten, wo „gefährlichen Klassen“ und „gewaltbereite Modernisierungsverlierer“ beschworen wurden. Nach der Bundestagswahl war Reflexiveres zu lesen: „Gerede von den Abgehängten, die zur Gefahr für Fortschritt und Freiheit werden, ist menschenverachtend. Dieses Gerede zeugt von einem monströsen Triumph des Neoliberalismus“ (SZ 104: 6./7.5.2017). „Übertreibungen“, egal wovon oder von wem, gelten als populistisch. Angst wird jedoch weiter als Etikett gebraucht, weil der Grund für Befürchtungen oder auch für diffuses „Unbehagen“, der implizite und explizite Gesellschaftsvertrag der neoliberalen Produktionsweise als nicht veränderbar, sondern, im Gegenteil, als so notwendig dargestellt wird. Verändern, an sich arbeiten und sich anpassen müssen die Leute. Als populistisch gelten Übertreibung, Verschiebung und Projektion der Bedrohung auf Flüchtlinge (wie die Drohung mit „Überfremdung“ und „Selbstabschaffung“). Jede Beschreibung hat wie die Sekundärtugend die rechte Mitte für den Zweck zu finden, für den sie förderlich sein soll.

Während des Wahlkampfs und nach der bundesdeutschen Wahl am 24.9.17 hat sich die Aufmerksamkeit von Angst auf Verlust-Gefühle (Wohlstand, Heimat, Politikvertrauen) und auf fanatisierte Gefühle (blinde Wut, Hass) verschoben. Bei den „Typen“ treten die politisch „Unzufriedenen“ („murrende Massen“) und „der Aufstand der Aufstrebenden“ auf. Letztere wollen an ihrer nicht ganz so schlechten Situation nichts verschlechtert haben, „es soll so bleiben wie es ist“. „Psychogramme“ der „Gruppe der Ausrastenden“ und der AfD-Wähler in den östlichen Bundesländern übernehmen dagegen die Aufgabe, das Negativ zum Ideal des engagierten Bürgers zu definieren, der die Willensbildung des Volkes selbst in die Hand nimmt. Sein Negativ hört sich so an: „brüllen, pfeifen, Tomatenwürfe, tätliche Übergriffe, Hasstiraden“, Schimpf-Tiraden, Tür zuschmeißen (SZ 209: 11.9.2017).

Für die schief gelaufenen Wahlen muss der enttäuschte und frustrierte und abgehängte ostdeutsche Mann herhalten. Korrelationen der Wahlforschung ergeben das sehr schnell.

 

Unbehagen an (neo-)liberaler Demokratie

 

Etiketten, die dem populistischen Subjekt Defizite, Wünsche und Bedürfnisse zuschreiben, verweisen auf einen umkämpften „politischen Vertrag“. Geht man nach den angebotenen Erklärungen, fehlt dem populistischen Subjekt: Kontrolle über das eigene Land, Respekt und Anerkennung, Kümmerer, die seine Ängste ernst nehmen, privilegierte Integration, Umstände, die es erlauben zu sagen was man will, eine nicht populistische Protestpartei, eine Autoimmunisierung gegen Enttäuschung.

Nach meiner Interpretation der Etiketten liegt den Darstellungen eine Definition von „Populismus als Abweichung“ von Normen zugrunde. Demokratie ist gegeben durch ein System von Institutionen: mit der Kodifizierung von Grund- und Menschenrechten, Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Wahlrecht, Meinungsfreiheit. Wenn sich alle an die Normen halten, braucht es keine Demokratisierung. Wenn überhaupt, werden populistische Strategien der „demokratischen Parteien“ als unangemessener Wahlkampf kritisiert.

Es mag an meinem Alter (Jahrgang 1948) liegen, aber ich kann mich seit meiner Teenager- und Gymnasium-Zeit (ab Anfang der 1960er Jahre also) an keine Phase erinnern, in der nicht öffentlich (zeitweise in großen Nischen) die un- und anti-demokratischen Zustände und Ereignisse verhandelt wurden, die in repräsentativen Demokratien möglich sind. Die Titel der Bücher aus meiner Studienzeit (1966-1972) in den hinteren Reihen des Bücherregals dokumentieren das ebenso wie Bücher aus der Zeit des Deutschen Herbst 1977 oder solche, die an „Transformation der Demokratie“, „Protest und Reaktion“, „Sicherheitsstaat“ oder Law-and-Order-Kampagnen erinnern. Das alles wurde noch in Zeiten von Fordismus diskutiert, der sich ziemlich gut mit einen „autoritären Staat“ vertragen hat. Selbst wenn die kurzen Ausnahmemomente, in denen APO, Protestbewegungen und Bürgerinitiativen sich gegen undemokratische bis autoritäre Entwicklungen organisiert haben, als verbesserte Chance von Bürgern beurteilt werden, phasenweise „gehört zu werden“, wird man davon ausgehen müssen, dass gesellschaftliche Bedingungen für eine allgemeine und gleiche Beteiligung an Einrichtungen der repräsentativen Demokratie nie besonders ausgeprägt waren. Politische Partizipation setzte schon immer ziemlich viel zusätzliche Arbeit und eine Menge Erfindungsgeist voraus, sollte der „institutionelle Umschwung“ vermieden werden.

Die mediale Darstellung dessen, „was wir brauchen, um uns mit ‚Rechtspopulismus‘“ auseinander zu setzen“ würde ich als Wunsch nach Herrschaft durch einen „starken Patriarchen“ interpretieren, der cool, gelassen, technisch geschickt, nicht nur symbolisch durch Anerkennung, sondern auch in Bezug auf „Rente, Pflege, Familie“ dysfunktionaler Ungleichheit entgegenwirkt. Dafür kann er die übliche Anpassung und politische Ruhe erwarten. Die Situation, in der unvermittelt der Zustand der Duldung von „ungerechter“ und „unaufmerksamer“ bis „unfähiger“ Herrschaft in feindseligen, kollektiven Protest umschlagen, der sich sowohl gegen „Schwache“ und aggressiv gegen das „politisches Establishment“ wendet, lässt sich durch die übliche Kombipackung von populistischen Strategien und Klientelpolitik wieder klein arbeiten. Zwischen der fordistischen und der neoliberalen Phase haben sich die Etiketten geändert, mit denen das populistische Subjekt konstruiert wird, nicht aber die Grundzüge von populistische Politik, mit denen auf das Demokratiedefizit in repräsentativen Demokratien reagiert wird.

 

Insofern in Ost und West nichts Neues.

 

[1] Heinz Steinert Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung, http://www.links-netz.de/K_texte/K_steinert_populismus.html , zuerst veröffentlicht in: Internationale Gesellschaft und Politik 4/1999: 402-413.

[2] Bezogen auf Analysen von Populismus als Politik-Form und Interpretationen der populistischen Strategien von Volks-Parteien und Parteien der Neuen Rechten erlaube ich mir nur auf Literatur zu verweisen, die seit dem grundlegenden Beitrag von Heinz Steinert (2005) im Archiv von links-netz zur Verfügung steht; zwischen 2017 und 2005 habe ich insbesondere Beiträge von Reinhard Kreissl, Joachim Hirsch, Christine Resch, John Kannakulam, Thomas Gehrig und Heinz Steinert als „Denkhilfen“ nutzen können. Statt einer Einzelauflistung verweise ich auf das Archiv – auch als Anreiz nachzulesen: http://www.links-netz.de/archiv.html. Die eigene Auseinandersetzung mit Populismus, insbesondere mit dem Populistisch-Werden von Theorien finden sich in dem Einstiege-Band Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster 2014 (überarbeitete Auflage der Ausgabe von 1998).

[3] Vgl. insbesondere zur Etikettierungsperspektive und der Rezeption von Ernst Bloch das Buch von Marcus Balzereit Kritik der Angst, Wiesbaden 2007.

[4] Die Zusammenfassung habe ich dem Aufsatz von Marcus Balzereit und Helga Cremer-Schäfer Angst machen und Angst haben, in: Kommission Sozialpädagogik (Hg.), Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogische Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext, Weinheim/Basel 2017: 53-64 entnommen.

[5] Beobachtet habe ich nur einen „liberalen Teil“ von Tageszeitungen, Schwerpunkt war die Süddeutsche Zeitung. Meine etwas antiquierte Methode beginnt mit dem Sammeln von Zeitungsartikeln zu verschiedenen Stichworten über einen längeren Zeitraum hinweg. Nach längerem Liegenlassen lese ich sie unter bestimmten Fragestellungen neu und schaue nach (veränderten) Mustern des „Redens über …“. Wieder gelesen habe ich für diesen Beitrag mein Hängeregister zum Stichwort „Populismus“ aus dem Jahr 2017. (Artikel, die sich ausschließlich mit „Trump“ oder populistischen Bewegungen und Parteien in anderen europäischen Ländern beschäftigen, habe ich lediglich als „Hintergrund“ benutzt, aber nicht nach „Etiketten“ ausgewertet.) Ich will die vorliegende Auswertung nicht groß als empirische Untersuchung ausgeben, wohl aber als Beobachtung von Erklärungen des Populismus in einem bestimmten Zeitraum. Die Texte enthalten ein Bild davon, wie „Rechts-Populismus“ im Modus journalistischer Kritik für ein „liberales“ Publikum dargestellt wird. Welcher Tageszeitung ich die folgenden „Etiketten I-V“ entnommen habe, wird nicht im Einzelnen nachgewiesen, bei Zitaten wird die Quelle angegeben. Die Reihenfolge der Etiketten verweist darauf, welche Etiketten in den Vordergrund treten und welche im Laufe des Jahres weniger häufig verwendet werden.