Erinnerung als Waffe der Dekolonisierung

Kunst und Student*innen-Bewegung im heutigen Südafrika

in (08.12.2016)

Don Matteras vor fast 30 Jahren, in den letzten Stadien des Kampfes gegen die Apartheid publizierte Denkschrift Memory is the Weapon (2009 [1987]) verweist schon durch die Überschrift auf den Zusammenhang zwischen Erinnerungs-Diskursen und dem für jene historische Periode charakteristischen politischen Engagement. Ähnlich Milan Kunderas berühmtem Diktum „der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Erinnerns gegen das Vergessen“ (Kundera 1996: 4) hebt der Text des südafrikanischen Dissidenten, Autors, Journalisten und Aktivisten die politische Funktion des Erinnerns hervor – seine Fähigkeit, die kollektive Identität zu bewahren angesichts der Versuche eines Regimes, die Geschichte ganzer Gemeinschaften auszulöschen.

Keywords: student movements, art, poetry, collective memory, decolonisation.

Schlagwörter: Student*innen-Bewegungen, Kunst, Poesie, kollektives Gedächtnis, Dekolonisierung

Don Matteras vor fast 30 Jahren, in den letzten Stadien des Kampfes gegen die Apartheid publizierte Denkschrift Memory is the Weapon (2009 [1987]) verweist schon durch die Überschrift auf den Zusammenhang zwischen Erinnerungs-Diskursen und dem für jene historische Periode charakteristischen politischen Engagement. Ähnlich Milan Kunderas berühmtem Diktum „der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Erinnerns gegen das Vergessen“ (Kundera 1996: 4) hebt der Text des südafrikanischen Dissidenten, Autors, Journalisten und Aktivisten die politische Funktion des Erinnerns hervor – seine Fähigkeit, die kollektive Identität zu bewahren angesichts der Versuche eines Regimes, die Geschichte ganzer Gemeinschaften auszulöschen. Die Macht des Erinnerns innerhalb dieses Diskurses wird gewährleistet, weil in seinem Mittelpunkt die alltäglichen Lebenspraktiken einer einen bestimmten Raum miteinander teilenden Gemeinschaft stehen. In Matteras Buch ist dies Sophiatown, eine legendäre multirassische Vorstadt von Johannesburg, in der der Autor bis zu ihrer Zerstörung und der Zwangsumsiedlung ihrer Bewohner durch die Apartheid-Regierung in den frühen 1960ern seine Jugend verbrachte. Ein spezifisches Charakteristikum dieser Erzählung ist – wie in anderen in den 1980er Jahren erschienenen autobiographischen Texten von südafrikanischen Autor*innen auch – die Vorstellung, Erinnern könne „die Wahrheit“ über die Vergangenheit vermitteln. Dem liegt die Annahme zugrunde, Identität könne und müsse dem von oben auferlegten Vergessen zum Trotz wiedergewonnen und bewahrt werden. Matteras Erinnerungsbuch war jedoch in seiner humoristischen und oftmals nostalgischen Schilderung lebendiger Details des Alltagslebens fraglos Teil des Prozesses der Mythologisierung der Erfahrungen von Multikulturalität in Orten wie Sophiatown, District Six in Cape Town oder Cato Manor in Durban in Büchern und Bühnenstücken[1], von denen einige eine wichtige Rolle in den Kämpfen um Landrückgabe und die Wiedererrichtung von Gemeinden spielten.

Als das Apartheid-Regime in den frühen 1990ern seinem Ende entgegenging, wurden Weisen der militanten Wahrheitsverkündung, wie sie sich in einem Großteil des Protest-Schrifttums der 1970er und 1980er Jahre manifestiert hatten, stark in Frage gestellt. Ein institutionelles Verbot bewirkte der prominente Intellektuelle, Anti-Apartheids-Aktivist und (nach 1994) Richter am Verfassungsgericht Albie Sachs mit seinem Artikel „Preparing ourselvses for freedom“. Er wurde zum ersten Mal in einem internen ANC-Seminar 1989 vorgetragen, 1990 publiziert und in den folgenden Jahren vielfach diskutiert.[2] Sachs stellte die Relevanz der Protestkultur-Tradition in der veränderten politischen Landschaft in Frage und forderte, ANC-Mitgliedern sollte „verboten werden, zu sagen, die Kultur sei ein Instrument des Kampfes“ (Sachs 1998: 239). Seine Argumentation, die darauf abzielte, die Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks zu fördern, wurde in nahezu jedem Versuch, die neue Periode der südafrikanischen Kulturgeschichte zu charakterisieren, beschworen. Oft genug wurde sie jedoch als Aufforderung an Schriftsteller*innen und Künstler*innen verwendet, explizit politische Inhalte und Formen aufzugeben. Diese Wende in der künstlerischen Produktion hin zu eher „gewöhnlichen“ und spezifischen[3] Erfahrungen einerseits, zu eher allgemeinen und globalen Themen andererseits, ging Hand in Hand mit der allgegenwärtigen konsensorientierten Kultur der Post-Apartheid-Periode und der korrespondierenden Entpolitisierung insbesondere der Jugendkultur.[4] Zwar wurden in diesem neuen kulturellen Klima viele neue Themen, Gattungen und Ausdrucksweisen erschlossen, doch erfährt sowohl die ältere als auch die jüngere Generation der Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Kulturkritiker*innen heutzutage das in der südafrikanischen Kultur inzwischen institutionalisierte Gebot, das Erbe der Protestkultur zu vergessen, als schweren Verlust.[5]

Dieser Artikel spürt dieser Verlusterfahrung in den Praktiken der jüngeren Generation nach, einer Erfahrung, die Politik wieder zu einem Bestandteil ihrer schöpferischen Arbeit macht und zu einer generellen Repolitisierung der Öffentlichkeit anspornt. Im Einzelnen wird er sich mit den sprachlichen und visuellen Praktiken befassen, die von der neuen Student*innen-Bewegung entwickelt wurden und ihren öffentlichen Ausdruck in den „Must-Fall-Kampagnen“ fanden („#Rhodes Must Fall“ [RMF] 2015, „#Fees Must Fall“ 2016) – den ersten landesweiten Protesten seit dem Ende der Apartheid. Die Berichterstattung in den internationalen Medien über die Kampagnen zur Entfernung der Rhodes-Statue aus dem Campus der University of Cape Town und gegen die Erhöhung der Studiengebühren konzentrierte sich auf den studentischen Protest zu diesen spezifischen Themen und feierte den schließlichen Erfolg ihres Aktivismus. In den meisten Fällen eröffnete sie jedoch keine tiefere Einsicht in die philosophischen Anstrengungen und kulturellen Prozesse, die zu dieser Mobilisierung geführt hatten; und ebenso wenig diskutierte sie die Herausforderungen, vor denen die Bewegung weiterhin steht. Eines der Ziele dieses Artikels ist es deshalb, die aktivistischen Praktiken der südafrikanischen Student*innen in einen Zusammenhang zu stellen, der über die Hypervisibilität, die ihre Kampagnen in den internationalen Medien erhalten haben, hinausgeht. Diese Untersuchung wird zeigen, dass es für eine erschöpfende Würdigung der gegenwärtigen Student*innen-Bewegung als eines das herrschende Wissenssystem in Frage stellenden Projekts erforderlich ist, die Politik des Erinnerns an den Kampf gegen die Apartheid im Rahmen der Diskurse zu untersuchen, die dem gegenwärtigen politischen System in Südafrika kritisch gegenüber stehen, die sich vor allem mit den öffentlichen künstlerischen Aktivitäten (public culture) innerhalb der Bewegung befassen, die zentral waren für die Artikulation ihrer Kritik und die schließliche Transformation des öffentlichen Raumes.

2014, anlässlich des zwanzigsten Jahrestags der ersten demokratischen Wahlen in Südafrika, wurden Bestandsaufnahmen der Erfolge und Misserfolge der neuen Demokratie zum Dauerthema der öffentlichen Diskussion. Die Bilanz war jedoch für die Politik der gegenwärtigen Regierung und ihrer Vorgänger ebenso wenig positiv wie für die Strategien des ANC als Regierungspartei. Die Unzufriedenheit mit dem politischen Machtmonopol des ANC und seinem fehlenden Engagement für das Projekt der Transformation der ökonomischen Strukturen äußerte sich in stärker werdenden sozialen Bewegungen einschließlich Auseinandersetzungen um öffentliche Dienstleistungen und Kämpfe für ordentlichen Wohnraum.[6] Die Geschehnisse von Marikana 2012, als ein Bergarbeiter*innen-Streik durch die Polizei brutal niedergeschlagen und mehr als dreißig Bergleute getötet wurden, haben in besonderem Maß zu öffentlicher Kritik an der Regierung und Protestaktionen beigetragen.

In Frage gestellt wurden jedoch nicht nur die Methoden und Strategien der Regierung und ihrer Organe, sondern die gesamte Ideologie samt den kulturellen Narrativen, die diese stützen. Am Ende wurde das ganze Projekt der Versöhnung, auf dem die Erzählung vom „neuen“ Südafrika in den 1990er Jahren aufbaute, in Frage gestellt. Todeserklärungen für die „Regenbogennation“ überschwemmten die Medien und wurden zu Gemeinplätzen, aber das tieferliegende Wesen der gegenwärtigen Krise wird nur von den Kritiker*innen beschrieben, die sich mit den diskursiven Grundlagen des Regimes auseinandersetzen. Ein Beispiel ist ein neuerer Kommentar von Richard Pithouse (2016):

„Heute besteht in unserer Gesellschaft das klare Gefühl, dass die Zeit des Regenbogens, die man als einen Moment der uns alle von einer brutalen Geschichte befreienden Gnade dargestellt hatte, vorbei ist. Die Schrecken des offenen Krieges wurden unter dem Zeichen des Regenbogens abgewendet, aber die den Unterdrückern gewährte Gnade wurde den Unterdrückten nicht zuteil.“

Der Autor stützt sich auf die Kritiken von W.E.B. Du Bois und James Baldwin am antirassistischen Diskurs in den USA, um das Scheitern der Versöhnungs-Ideologie und der Berufung auf Rechte beim Aufbau einer gleichen oder wenigstens erträglichen Gesellschaft zu erklären. Damit verortet er die Krise des Regenbogen-Nationalismus in einem postkolonialen Rahmen. Diese Verortung des Arguments macht den langen Weg zur Dekolonisierung und den Kraftaufwand sichtbar, die nötig sind, damit unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte auf den Trümmern des niedergehenden Wissensregimes ein neues aufbauen können.

Was das Erinnern angeht, kann diese Anstrengung als die Forderung verstanden werden, das neu zu bewerten, was einmal als maßgeblich für konterhegemoniale Diskurse galt und was in dem neuen Glaubenssystem für irrelevant erklärt worden war. In diesem Sinn ist der Bezug von Pithouse auf die antikolonialen Diskurse in USA zum Zweck der Erhellung der gegenwärtigen Situation selbst Beispiel für derartige Erinnerungspraktiken. In diesem Kontext ist die Must-Fall-Bewegung Teil einer breiteren und wachsenden gesellschaftlichen Tendenz in Richtung auf die Demontage der kolonialen Strukturen im Denken und Sein des Postapartheid-Regimes. Im Folgenden werde ich untersuchen, wie innerhalb dieser Bewegung eine kritische Infragestellung der Methoden, mit denen die Erinnerung an den Kampf gegen die Apartheid durch den dominierenden ANC-Diskurs kanonisiert wurden, zur „Waffe“ wird – ein Mittel, eine vergessene Vergangenheit zu aktivieren, um eine von der Gegenwart verschiedene Zukunft zu ersinnen. In der Tat haben Kommentatoren in den sozialen Medien die Erinnerung an zeichensetzende historische Ereignisse in jenem Kampf beschworen, wenn sie das Marikana-Massaker mit Sharpeville[7] (Hlongwane 2013) und die gegenwärtigen Student*innen-Proteste mit den Aufständen von Soweto 1976 (Omar 2015) oder – im transnationalen Kontext – mit den Student*innen-Revolten von 1968 vergleichen (Becker 2016).

Der Artikel wird derartigen Erinnerungspraktiken in Kunstwerken und Diskursen über Kunst nachgehen und diese als Wegweiser zum Verständnis der Rolle des Erinnerns in aktuellen Projekten der epistemologischen Dekolonisierung nutzen. Er wird den Zusammenhang zwischen den Ideen zur gesellschaftlichen Transformation und den aufkommenden künstlerischen Praktiken untersuchen und dazu einige Werke von mit der Bewegung und ihren Programmen verbundenen Künstler*innen und Dichter*innen analysieren. Hinter dieser Lektüre steht die Vermutung, dass diese künstlerischen Repräsentationen Formen des Erinnerns aktivieren und konkretisieren, welche darauf abzielen, die südafrikanischen Bildungsinstitutionen und die gesamte öffentliche Sphäre zu entkolonisieren. Schließlich wird der Artikel den Zusammenhang von Kunst und Gedenken in den Diskursen und Repräsentationen der Must-Fall-Bewegung betrachten: Er wird nach der Rolle fragen, die Praktiken der Repolitisierung in visuellen, sprachlichen und darstellerischen Produktionen spielen. Es geht also um die Wiederbelebung der politischen Problemstellungen, die für die Periode des Kampfes gegen die Apartheid charakteristisch waren.

Wenn sie neue politische Vorstellungswelten schaffen, greifen die mit der Bewegung verbundenen künstlerischen Praktiken herausragende Traditionen der „Kampf‑“Literatur und Kunst auf. So erinnern die hier analysierten Beispiele aus der Dichtkunst an die Diskurse der „Soweto-Dichter*innen“ aus den 1970er Jahren, deren Arbeit für eine Abkehr von der älteren „romantisch-symbolistischen Poesie“ stand: Sie erhob „die Ablehnung der literarischen und kulturellen Traditionen des Westens nahezu zum moralischen und stilistischen Imperativ“ (Chapman 1983: 121) und leitete damit ein neues epistemologisches Projekt ein. Es ist bemerkenswert, dass die Poesie auch nach 1994 eines der primären Medien des politischen Ausdrucks blieb – mit Lesogo Rampolokeng und Keorapetse Kgotsitsile als den zentralen Figuren, die diese Tradition in die Postapartheids-Periode fortführten. In den 2000er Jahren gesellte sich zu diesen eine jüngere Generation – Kgafela oa Magogodi, Lebogang Mashile und in den letzten Jahren Afurakan Mohare, Kabelo „KB“ Ringane, Toni Stuart und andere Dichter*innen und Artist*innen des Spoken Word.[8] Dichter*innen dieser Generation haben zwar eine Reihe von Projekten wie Word N Sound Live Literature Company und Spoken Word initiiert und einer Vielzahl von jüngeren Stimmen der Öffentlichkeit vorgestellt, haben ihre Energien aber bis vor kurzem noch nicht in einem spezifischen soziopolitischen Projekt gebündelt. Ein wegweisender Vorstoß in dieser Richtung wurde mit der Publikation des Bandes Marikana – A Moment in Time (d’Abdon 2013) unternommen, der Reflektionen über die historische Bedeutung dieser Tragödie aus Prosa, Poesie und Kunst zusammenführte. Auch wenn dieser Band in erster Linie Beiträge von Dichter*innen und Künstler*innen präsentiert, deren Schaffensperiode die Apartheids‑ und Postapartheids-Periode überspannt (z.B. Pitika Ntuli, Ari Sitas, Njabulo Ndebele), nimmt er doch auch die Stimmen jüngerer Dichter*innen und Kommentator*innen mit auf. Indem hier die Perspektiven dieser verschiedenen Generationen miteinander in Beziehung gesetzt wurden, kam ein wichtiges Projekt in Gang, insbesondere was die Revision des kulturellen Gedächtnisses im Hinblick auf den Widerstand angeht. Darüber hinaus beziehen viele der Beiträge, die den „Marikana-Moment“ historisch analysieren, Motive des Erinnerns mit ein. Daher betrachte ich diese Sammlung als wichtigen Vorläufer der hier untersuchten Kunst und Dichtung, die im Zusammenhang mit „Must Fall“ steht. Was diese von jener unterscheidet, ist die herausragende Stellung von Erinnerungsdiskursen in den Werken der jüngeren Künstler*innen, deren Arbeit keinen direkten Rückgriff auf ihre älteren Kolleg*innen aufweist.

Obgleich die untersuchten künstlerischen und literarischen Praktiken ein Konzept von Erinnern als Instrument des aktivistischen Engagements aufnehmen – sogar als Waffe im Kampf – werde ich argumentieren, dass sich die in diesen Arbeiten vorkommenden spezifischen Erinnerungspraktiken von denen der späten Apartheids-Periode unterscheiden. Während diese, wie oben beschrieben, auf die Vorstellung vom Erinnern als Mittel zur Konservierung einer „wahren“ Identität zurückgreifen, basieren die Praktiken der mit der Bewegung verbundenen jungen Intellektuellen von heute auf einer sehr viel weniger essentialistischen Vorstellung von Erinnerung. Für sie wird Erinnern zu einem epistemologischen Projekt, das die kolonialen Grundlegungen von – akademischem, künstlerischem, gesellschaftlichem – Wissen in Frage stellt durch Erforschung all dessen, was durch das dominierende Wahrheitsregime „vergessen“ und verschleiert wurde, ohne deshalb zu beanspruchen, dass eine essentielle Gültigkeit vergangenen Wissens für die Gegenwart wiedergewonnen werden könne.

In dieser Hinsicht wird der in Matteras Werk zum Ausdruck kommende antikoloniale Impetus in den mit der Must-Fall-Bewegung verbundenen Bildern und Texten durch dekoloniale Erinnerungspraktiken ersetzt. „Dekolonial“ verweist in dieser Lesart ebenso wie in den Diskursen der Bewegung auf Praktiken der Loslösung von der kolonialen Matrix der Macht und auf Versuche der Etablierung soziokultureller Verhältnisse einer anderen Art, so wie dies Frantz Fanon in seiner tiefschürfenden Analyse des fortdauernden Kolonialismus und der Fallstricke der Entkolonisierung und später Annibal Quijano (2000) und Walter Mignolo (2011), die Erfinder des Begriffs, theoretisch entwickelt haben.[9] Diese Kritiken an der Persistenz des eurozentrischen Wissensregimes in formell entkolonisierten Gesellschaften wurden von radikalen südafrikanischen Kritiker*innen und Aktivist*innen als für die Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Postapartheids-Regimes[10] relevant aufgegriffen. Ich möchte zeigen, dass die Erinnerung an ältere Widerstandsbewegungen zu einem Instrument der „Dekolonisierung des Geistes“[11] wird, weil es nicht so sehr wie in älteren Diskursen um einfache Wiederholung und Bewahrung, sondern um Revision und Reartikulation geht.

Der künstlerische Ausdruck bietet durch seine Fähigkeit, Bilder zu produzieren und abstrakte Ideen durch Erzählen von Geschichten konkret zu machen, eine unerlässliche lebendige Grundlage, um sich vorzustellen, was ältere kulturelle Ideen und Praktiken gewesen sind, welche Visionen von der Zukunft sie enthielten, und wie diese in der Gegenwart neu aufgegriffen werden können, um marginalisierte Subjektivitäten zu repräsentieren. Es ist diese Dimension der Kunst – sich eine Zukunft vorzustellen und sie gleichzeitig durch Bilder zu materialisieren – die in Südafrikas kreativem Aktivismus von heute herausragende Bedeutung gewinnt. Wie Thuli Gamedze (2015a), Studentin an der University of Cape Town, Künstlerin und eine der prominenten Stimmen der Must-Fall-Bewegung, zeigt, ist künstlerische Praxis zentral für den Prozess der Dekolonisation im Allgemeinen und die Mobilisierung der südafrikanische Student*innen im Besonderen. Es greift das symbolische Regime der Kolonialität direkt an, indem es seine visuellen Manifestationen wie die Rhodes-Statue in Frage stellt und neue Ikonen schafft, um sie zu ersetzen. Nicht nur visuelle, sondern auch schriftliche und mündliche literarische Praktiken spielen eine derartige Rolle bei der Infragestellung der etablierten Repräsentationssysteme. Die folgenden Abschnitte werden dieses Verständnis der Funktion der Kunst bekräftigen durch eingehende Untersuchung mehrerer jüngere Beispiele für dekoloniale künstlerische Praktiken: Beginnend mit Gamedzes Essays und einer ihrer visuellen Installationen werde ich fortfahren mit der Analyse einer Auswahl von Gedichten von Mitgliedern der Rhodes-Must-Fall-Bewegung, die 2015 in dem Magazin „Johannesburg Salon“ veröffentlicht wurde. Die Lektüre wird sich vor allem der Frage nach den Erinnerungspraktiken in diesen Werken widmen und über deren dekolonisierendes Potenzial nachdenken.

Dekolonisierung als künstlerische Praxis

Während sich die meisten Medienberichte über die Must-Fall-Bewegung auf deren politische Forderungen konzentrierten wird man, wenn man die Berichten der Beteiligten selbst liest, zu einer Wahrnehmung der Bewegung als eines intellektuellen und künstlerischen Projektes gelangen. Einer der Aspekte, der dieser künstlerischen Praxis politische Brisanz verleiht, ist, so meine ich, die Nutzung des Erinnerns für subversive Aktion. Wir können diese Erinnerungspraxis mit anderen Worten als ein artistische und künstlerische Imagination und Aktion miteinander Verbindendes betrachten.

Textfeld: Abb. 1
 
Ein impliziter, wenngleich nicht weiter reflektierter, Hinweis auf diese Funktion des Erinnerns findet sich in Thuli Gamedzes oben erwähntem Essay, in dessen Zentrum der Gedanke steht, dass Dekolonisation – von Bildungseinrichtungen und der Gesellschaft insgesamt – bewirkt werden kann durch eine künstlerische Praxis, die sich vom bestehenden Kanon unterscheidet. Eine befreiende Bewegung dieser Art kann zustande kommen, wenn die neue Praxis demarginalisiert und in eine neue Disziplin überführt wird – „eine Disziplin des kreativen und riskanten Denkens, eine Disziplin der Mobilisierung und des Aktivismus, die aufbaut auf dem Bedürfnis, neue Bilder zu sehen und neue Symbole zu schaffen“ (Gamedze 2015a). Zur Illustration eines solchen Prozesses reflektiert Gamedze in einem späteren Essay (2016) auf die Funktion von Denkmälern, insbesondere in postkolonialen Gesellschaften, und auf die Methoden, mit denen deren Macht unterminiert werden kann. Ein Beispiel hierfür ist für sie die Wellblechhütte (shack, Abb. 1) die durch Aktivist*innen der Bewegung auf dem Campus der University of Cape Town im Februar 2016, direkt nach dem Fall der Rhodes-Statue, gebaut wurde. Dieses alternative Denkmal verdeutlicht die Situation schwarzer Student*innen, von denen viele keinen ordentlichen Wohnraum finden. Gamedze sieht in diesem, von seinen Gestaltern als „Shackville“ bezeichneten Projekt ein Beispiel für einen radikal neuen Typ von Denkmal. Im Gegensatz zu traditionellen Denkmälern wie der Rhodes-Statue, die dazu dienen sollten, eine Ideologie und eine Macht zu sichern, provozieren diese alternativen Produktionen und wirken als Katalysatoren für neue Sichtweisen und Aktionen. In dieser Perspektive macht Shackville die Wohnraumkrise an einer Elite-Universität sichtbar, welche als Spiegelbild der umfassenderen Ungleichheitskrise in der südafrikanischen Gesellschaft angesehen werden kann, deren Grundlagen durch die alte Denkmalskultur geschützt werden.[12]

Obwohl in Gamedzes Artikel das Thema Erinnerung nicht explizit angesprochen wird, scheint es doch für ihre Argumentation wesentlich zu sein. Das Symbol, das die Fortdauer der Kolonialität garantiert, und die Aktion, die sie in die Krise stürzt, setzen Erinnerungsformen voraus, die sich grundlegend voneinander unterscheiden: Das alte Denkmal erinnert an das, was erreicht wurde und stabilisiert es. Das neue „Aktions-Denkmal“ dagegen erinnert in einer vorwärtsschauenden Weise: es lässt Angedenken an die Vergangenheit zu Kritik der gegenwärtigen Ungerechtigkeit werden und „erschafft, was nicht existiert“ (Gamedze 2016). In Begriffen, die Jan Assmann (2008) benutzt, um zwischen verschiedenen Erinnerungspraktiken zu unterscheiden, kann man die Rhodes-Statue als eine Form des kulturellen Gedächtnisses sehen, die autoritatives und spezialisiertes Wissen in formalisierter Weise konserviert. Die Installation von Shackville dagegen repräsentiert eine Instanz des kommunikativen Gedächtnisses, die durch partizipatorisches Handeln, informelles Engagement und gestaltgewordenes Gedenken zustande gebracht wird. Als dekoloniale Kunstpraxis beschwört sie das Andenken an das Erleiden struktureller Ungerechtigkeit. Als gegenwärtige und in den privilegierten Raum der Universität versetzte Erfahrung übermittelt sie gleichzeitig Bilder vom Leben in den Townships, die sich über Jahrzehnte hinweg nicht verändert haben und auf koloniale Enteignung verweisen. In anderen Worten repräsentieren solche „Aktions-Monumente“ die von Walter Mignolo und Roland Vázquez (2013) so genannte „koloniale Wunde“, auf welche dekoloniale Kunstpraktiken (ÄstheSis im Gegensatz zur normativen ÄstheTik[13]) die Aufmerksamkeit lenken. In der Sprache dieser Kritiker können wir die Shackville-Ästhetik als dekoloniale Erinnerungspraktik interpretieren, die

„gleichzeitig die Offenlegung der Wunde und die Möglichkeit der Heilung in sich enthält. Sie macht die Wunde sichtbar, fühlbar, gibt dem Schmerz eine Stimme. Und gleichzeitig schreitet die dekoloniale ÄstheSis (mit Shackville als Beispiel) weiter zur Heilung, zur Anerkennung, zur Würdigung jener ästhetischen Praktiken, die aus dem Kanon der modernen ÄstheTik ausgeschlossen wurden.“[14]

Textfeld: Abb. 2
 
Gamedzes eigene künstlerische Arbeiten – insbesondere ihre durch die studentischen Proteste angeregte Installation The Revolution will not be Televised (2015b, Abb. 2 und Abb. 3, S. 444) – kanalisieren gleichartige körperliche Erfahrungen von physischer und emotionaler Ergriffenheit und Beanspruchung der eigenen Handlungsmacht. Die Installation besteht aus mehreren Computer‑ und Fernsehschirmen, die auf groben, scharfkantigen Ziegelsteinen platziert sind, zwischen anderen Baumaterialteilen und Kabeln stehen, und gepixelte Bilder zeigen. Der Text liest sich ebenfalls als Serie von unterbrochenen Botschaften aus einem defekten Computer.

Original

Übersetzung

_white noise. static.

_rhodesmustfall but we need your approval
 

_clockwork media

_the glass ceiling is spiky

_infinite feedback. failure to receive signal. loadshedding. „darkness!“ „solitude!“

_how to (and why??) enjoy first Thursdays

_can only laugh at the static videostills. they are so clean

_the way black artists are represented in south africa tho

_can only frame a work. lost in the language. militancy diluted in discourse

_who is ronald barthes and did he know any black people? author is dead. eeemagine!
 

_can only mimic structure

_can still write

_weißer lärm, rauschen

_rhodesmussfallen, aber wir brauchen eure zustimmung

_uhrwerk medien

_die gläserne decke voll spitzer dornen

_unendlicher feedback. kein signal empfangen. stromrationierung. „dunkelheit!“ „einsamkeit!“

_wie (und warum??) erste donnerstage genießen

_kann nur lachen über die verrauschten standvideos, sie sind so sauber

_die art und weise wie schwarze künstler*innen in südafrika dargestellt werden, wenn schon

_kann eine Arbeit nur rahmen. verloren in der sprache. militanz im diskurs verwässert

_wer ist roland barthes und kannte er irgendwelche schwarzen leute? der autor ist tot, stell dir vor! („eeemagine!“)

_kann struktur nur nachäffen

_kann noch schreiben

_i have an imagination./i prayed the other day. for inspiring dreams

_i can’t get rid of the idea of god is a man

_wow

_ich habe eine eingebung./ich betete neulich. um anregende träume

_ich werde die idee nicht los, dass gott ein mann ist

_wow

Textfeld: Abb. 3
 
Durch den Stakkato-Rhythmus und die fragmentierte Bildersprache verweist das Gedicht schon in seiner Form auf das Fehlen von Kontinuität und eines festen Grundes, auf die sich schwarze Künstler*innen zurückziehen könnten – außer auf die koloniale Tradition. Dies wird als Problem der Repräsentation bloßgelegt: Der alles durchdringende „weiße Lärm“ erlaubt keinen Ausdruck schwarzer Subjektivität jenseits der Logik des Nachäffens der Sprache von Kolonialismus und Kapitalismus. Diese dominante Sprache wird jedoch durchbrochen durch den Gebrauch von umgangssprachlichen Phrasen und Imitationen eines „schwarzen“ Akzents („eeemagine!“ als Antwort auf Roland Barthes’ Postulat vom Tod des Autors). Die Suche der werdenden Dichterin nach einer eigenen Stimme und anerkannter Handlungsfähigkeit geschieht in diesem Gedicht mittels Reflektion auf die kollektive Situation, die die Nutzung der eigenen Fantasie verhindert. Diese Erfahrung der „kolonialen Wunde“ wird verstärkt durch die physikalische Bildersprache überall im Text, einschließlich des Blicks auf die dornenbesetzte gläserne Decke, der statischen Qualität des Lärms und der Bildschirme, der Sauberkeit und Sterilität der „weißen“ Bilder. So wird hier die Erinnerung an eine sich von der Vergangenheit in die Gegenwart ausdehnende koloniale Situation durch Sinneseindrücke beschworen, die sichtbar und spürbar machen, wie dieses Wissenssystem Individuen beeinflusst und unterwirft. Diese Materialität der Bilder macht es gleichzeitig möglich, zu erdenken, wie diesem System widerstanden werden kann, nämlich durch in gleicher Weise materialisierte Akte des Sprechens und Handelns.

Die Aufgabe der neuen Generation: Vorstellen durch Erinnern

Die Rolle der Erinnerung, wenn es darum geht, den kolonialen Charakter der Archive deutlich zu machen, denen sich die postkolonialen Subjekte stellen müssen, geht klar aus Gamedzes Vorwort zur Sonderausgabe der Zeitschrift The Johannesburg Salon[15] hervor, die Ende 2015 erschien und eine Auswahl von Gedichten, Essays, Feldnotizen und Photographien von Beteiligten an RMF enthält.[16] Die Künstlerin bezieht sich auf die elitären Konnotationen, die sich mit dem Titel der Zeitschrift verbinden und rechtfertigt die Nutzung dieses Mediums für kritische Interventionen mit folgenden Argumenten:

„Wir schreiben in ‘The Salon’, weil der Status quo, nach dem Schwarze nicht als Menschen anerkannt sind, der Status quo ist, um den es uns geht. Wir sind in diesem Sinne ‘Avantgarde’ aufgrund der nuancierten, detaillierten und komplexen Art und Weise, in der wir Schwarz-Sein verstehen. Diese Art und Weise will das Blickfeld dieses vorgeschriebenen, exklusiven und abgehobenen ‘Menschseins’ neu bestimmen und erweitern.“

Das bedeutet, dass man die Konstruktion des bestehenden Wissens zurückverfolgen muss, erinnern muss, wie es zustande kam. Andererseits betont die Bezugnahme auf die Avantgarde (ebenfalls ein Akt des kulturellen Gedächtnisses) den nach vorn gerichteten Charakter der künstlerischen Betätigung. Diese Form des Erinnerns prägt die meisten Beiträge in dem Band.

Mbali Matandelas[17] Gedicht-Zyklus Letting Go of the Blues steht für eine ähnliche Praxis des gleichzeitigen Nach-vorn‑ und Zurückschauens: Die Erinnerung an die Gegenwart, die die Gegenwart verändert, wird unverzichtbar, um sich eine andere Zukunft vorzustellen. Der extensive Einsatz der Metapher der Verletzung (der als Fallbeispiel für die „koloniale Wunde“ oder in der Sprache Fanons das psychische Trauma der Kolonisierten, das ihnen durch Jahrhunderte einer Praxis der Entmenschlichung zugefügt wurde) in dem Gedicht illustriert ebenfalls die fortbestehenden Folgen des Kolonialismus und vor allem seine epistemologische Dimension. Im ersten Gedicht bezieht sich die Bezeichnung „blue-blooded minds“ (Leute mit blauem Blut im Kopf) auf assimilierte schwarze Eliten (im heutigen Südafrika die neue Bourgeoisie), die sich die Denkweise derer zu eigen gemacht haben, die ihren Ahnen Leid zugefügt und sie versklavt haben. Das Gedicht ruft daher die schwarzen Intellektuellen auf, sich bewusst zu sein, dass die Ideen der „suprematistischen Vorstellungswelt“ „Euren Köpfen eingeflößt wurden, indem das Blut Eurer Ahnen vergossen wurde“. „Euren Kopf zu befreien, um Eurem Volk Lebenskraft zu geben“ wird daher zu einer Zielsetzung, die sowohl Selbstbefragung wie kollektive Emanzipation erfordert. Die Metapher der Verletzung wird im folgenden Teil des Zyklus entwickelt, der den Blick über die intellektuelle Arbeit hinaus auf die manuelle ausweitet. Hier werden beide zusammengeführt mit der Hinwendung zum „(verletzten schwarzen) Handarbeiter“ und mit dem Hinweis auf die Forderung der RMF, die Lage der unterbezahlten Arbeiter*innen in den Universitäten zu verbessern. Diese intersektionale Sicht (die in nachfolgenden Gedichten auch Gender einbezieht) ermöglicht es, eine inklusive Vorstellung von Widerstand zu entwickeln. Sie entsteht aus der Erinnerung an die „schöpferische Kraft“ der kolonialen Arbeiter*innen. Weiter können die Subjekte so in den Besitz der „Weisheit des afrikanischen Aufbaus“ gelangen, um „die Fesseln der Unterdrückung aufzubrechen“ und schließlich „die Verletzungen“ an ihren Händen „zu heilen“. Der Einsatz von physischen Metaphern, um über geistige Unterwerfung und Befreiung zu sprechen, ähnelt der sinnlichen Vorstellungswelt im Text von Gamedze; die Verletzung wird hier zum bildlichen Ausdruck für die anhaltende Gewalt aus der Vergangenheit.

Gedichte von Mmamalema Molepo, der an der UCT Philosophie sowie Politik‑ und Verwaltungswissenschaft studiert, sind Beispiele für einen spannenden Einsatz von Bilderwelten in Bezug auf Erinnerungspraxen. In „Freedom: The Stillborn Grown Child“ („Freiheit: Die erwachsene Totgeburt“) bilanziert der Autor die zwanzig Jahre seit dem Ende der Apartheid, wobei die Erfahrung des Aufwachsens seiner Generation und die Lernprozesse im Mittelpunkt stehen, mit den Chancen und Restriktionen des neuen Regimes zurechtzukommen. Die in sich widersprüchliche Beschreibung der Kinder Südafrikas nach der Apartheid als „erwachsene Totgeburten“ impliziert eine Kritik an der gebräuchlichen Bezeichnung dieser Generation als „born free“ („Freigeborene“). Diese Metapher wird im gesamten Verlauf des Gedichts entfaltet. Es geht vor allem darum, an die Art und Weise zu erinnern, wie vor zwei Jahrzehnten die Zukunft vorgestellt wurde und wie diese Träume desavouiert wurden. Die Idee der Freiheit wird hier in einem Kind verkörpert, das nicht nur Freude erfährt, sondern auch Verantwortung, welche diejenigen, die das Kind „gescholten und gezüchtigt“ haben, nicht mehr erinnern. Das Kind, im Verlauf einer Revolution in seiner Mutter Körper geboren („eine Revolution ereignet sich zwischen ihren Schenkeln“), vollzieht die Befreiung und macht ihren Körper „ganz“ (nach der traditionellen Ikonographie kann die Mutter als Sinnbild des Landes verstanden werden). Der Vater jedoch „hat schon seine Sachen gepackt und ist bereit, mit dem ersten erreichbaren Überlandbus abzuhauen“ – was sich als Metapher für die Angehörigen der älteren Generation verstehen lässt, die die Freiheit erreicht haben, aber nicht in der Lage waren, sie in der Gesamtgesellschaft zu verwirklichen. Indem er von der Freiheit fordert, „die Massen zu nutzen“, drängt der Autor seine Generation, sich gegen das Versäumnis der vorherigen Generation zu wenden, die ihre Verpflichtung, Gleichheit zu schaffen, vergessen hat. Das ist möglich, indem man einen stärker humanistischen Ansatz pflegt, die Menschen „zu lehren, aufeinander zuzugehen und einander zu unterstützen, denn nur dann können sie jemals sagen, sie seien frei“.

Noch schwerere Vorwürfe gegen die ältere Generation – die jetzigen Machthaber*innen – erhebt das andere Gedicht von Molepo, „Monsters“. Hier kommt ein imaginäres Elternteil derart monströser Führungsfiguren (und damit ein Großelternteil der jüngeren Generation) zu Wort. Unter Einsatz der Form eines kollektiven „Wir“ richtet das Gedicht den Blick auf die Wurzeln der Brutalität dieser „Jungens“, die während des Befreiungskampfes erwachsen geworden sind. Dann folgt die Einsicht, dass der Grund dieser Brutalität in der Erziehung liegt, die die Kritisierten erfahren haben:

„Wir haben Monster aus Jungen gemacht, die Präsidenten und Führungspersonen hätten werden können, wir haben sie mit Gewehren statt mit Büchern bewaffnet, sie mit Hass vollgestopft und ihre Liebe ausgespuckt, sie mit Religion zugeschüttet und der Spiritualität beraubt.“

Wie im Verlauf dieses Klageliedes noch deutlicher wird, wurde diese Generation durch die Idee eines „gelobten Landes“ verdorben, das man ohne harte Arbeit erreichen könne, allein dadurch, dass man an die Macht kam. Diese Gier nach Macht ohne Fähigkeit, mit der neu erworbenen Freiheit umzugehen, führt wie auch schon im vorhergehenden Gedicht zu Kreisläufen von Tod, Enteignung und Desillusionierung:

„Wir haben vor ihnen Trommeln geschlagen, die Freiheitslieder sangen, nur um sie in Reih und Glied marschieren zu lassen, mit Kreuzen vor der Brust, im Gleichschritt vorwärts, bereit, alles zu zerstören, was ihnen im Weg steht, und nur, damit sie in dunklen Särgen zurückkommen, das Herz steht ihnen still, wir haben ihnen die Menschlichkeit geraubt, wir haben ihnen das Leben geraubt.“

Die beiden Gedichte Molepos, besonders aber das zweite, erkennen die Verdienste der Generation an, die den Kampf gegen Apartheid geführt hat (das Großelternteil, das in „Monsters“ zu Wort kommt) und die Freiheit oder wenigstens deren Möglichkeit gebracht hat. Zugleich verurteilen sie die Einstellung der darauf folgenden Generation, die auf der Welle der Befreiung an die Macht gelangte, allein um sich in Autokraten zu verwandeln. Letztlich beleuchten diese Gedichte die Kluft zwischen den Idealen und Zielen der älteren Generation, die von ihren Kindern kompromittiert wurden. Deshalb wird das Erinnern als Notwendigkeit für die neue Generation dargestellt, die sich, wie die Texte es nahelegen, kritisch mit dem heutigen Diskurs auseinandersetzen müssen, der Individualismus, Gier und autoritäre Macht begünstigt. Folgen wir der Vorstellungswelt der Gedichte, so führt der Weg über die Vergegenwärtigung der Ideale, die den Kampf gegen Apartheid beseelt haben; aber sich ihrer zu vergewissern, bedeutet nicht die Rückkehr zu einem antikolonialen Diskurs, wie er vor Jahrzehnten praktiziert wurde. Es geht vielmehr um eine dekoloniale Neubewertung jener älteren Vorstellungen von Befreiung vor dem Hintergrund der postkolonialen Desillusionierung. Das Motiv des „was möglich gewesen wäre“, der Erinnerung an eine imaginäre Zukunft, wie dies in „Monsters“ deutlich zum Ausdruck kommt („eine Kindheit, die hätte gewesen sein können“, „die Jungen, die zu Präsidenten und Führungspersönlichkeiten hätten werden können“) scheint den Horizont zu umschreiben, in dem die neue Generation nach den Mitteln sucht, um das zu erreichen, was ihre Eltern verfehlt haben.

Das Motiv der desavouierten Zukunftsbilder durchzieht den ganzen Band. Es reicht von den oben besprochenen metaphorischen Ausdrucksformen zu direkteren und militanteren Aussagen wie in dem Gedicht von Ameera Conrad[18] mit dem Titel „Über Erschöpfung wegen eines Mangels an Verständnis“. Im Stil der Protest-Poesie fordert der Text die Leser*innen/Hörer*innen auf, die Gefühle tiefer Frustration angesichts der Postapartheid-Rhetorik der Versöhnung zu teilen:

„Ich bin es leid
wenn sie erzählen, wir müssen das hinter uns lassen, wir müssen vergessen,
wir müssen die Vergangenheit hinter uns lassen, Apartheid ist vorbei.“

Mit der Entlarvung des aufgezwungenen Diskurses des Vergessens ist das Gedicht bestrebt, Kontinuitäten zwischen vergangenen und gegenwärtigen Ungerechtigkeiten nachzuzeichnen und so eine neue Erinnerungsgemeinschaft zu schaffen. Indem es herausarbeitet, wie der gegenwärtig herrschende Diskurs die Einzelpersonen auf die Rolle von Konsument*innen herabsetzt, appelliert es an das politische Bewusstsein aller Südafrikaner*innen. Dieses Bewusstsein und der Aufruf, Handlungsfähigkeit zu entwickeln, beruht ebenfalls auf den Erinnerungen an den Widerstand gegen Apartheid und die weiter zurückliegenden Vergangenheit von Versklavung und Kolonisierung. In der letzten Strophe werden diese Erinnerungen aufgerufen, um eine Ethik der Gemeinschaftlichkeit neu zu beleben:

„Lass mich aufrecht stehen für mich selbst
und für die, die vor mir gestanden haben. Lass mich marschieren für mich selbst

Und für die, die vor mir marschiert sind. Lass mich rufen AMANDLA[19]
und meine Faust erheben
und lass mich weinen
nach hunderten von Jahren
lass mich weinen.“

Brian Kamanzis[20] Gedichte nehmen Conrads Widerstand gegen die Politik des Vergessens auf und gehen darüber hinaus, um die Diskursstrategien zu untersuchen, die die fortdauernde Ungerechtigkeit verschleiern und die Menschen veranlassen, die Ziele des Widerstands gegen die koloniale Hegemonie zu vergessen. In „Where to Now?“ („Wohin jetzt?“) beschreibt er die augenblickliche Lage als „einen Anschein der Illusion der Freiheit in Formen, die heutzutage bestehen. Das war gestern sicher nicht so.“ Der Autor reagiert darauf mit beharrlicher Erinnerung, welche die Linien der Trennung – der Apartheid[21] mit anderen Mitteln – kenntlich macht („Doch ich verbeiße mich in den Kampf gegen das Gefühl, dass das Getriebe der Trennung uns weiter voneinander wegstößt“). Doch selbst wenn man ein kritisches Bewusstsein entwickelt, erlauben die Zwänge der kolonialen und kapitalistischen Vergangenheit doch nicht einen Schritt nach außen:

„Wenn ich radikale Entscheidungen treffe, kann meine Familie mich nicht unterstützen. Ich habe mich verschuldet, für meine Universitätsausbildung, bin Eigentum des Schattens der Weißen Ökonomie.

Es wird keine Lieder geben, die mich schützen könnten, wenn ich meine Entscheidung treffe.

Kein Protest wird sein, wenn meinen Eltern klar wird, dass ihr Kind den Wunsch hat, der Unsicherheit nachzujagen.“

Damit sind einige der wichtigsten Probleme benannt, mit denen sich schwarze Studierende und junge Universitätsabsolvent*innen heutzutage herumzuschlagen haben. Die Frage „Wohin jetzt?“ wird am Ende des Gedichts wiederholt und in keiner Weise beantwortet. Aber sie veranlasst diejenigen, welche die kritische Einstellung des Autors teilen, über den „zerbrochenen Regenbogen“[22] hinaus zu blicken und neue Zukunftsziele zu entwickeln. Vielleicht bieten künstlerische Darstellungen die fruchtbarste Grundlage, um solche Vorstellungen zu entwickeln, zumal momentan die Überlegungen der Aktivist*innen häufig bei der Infragestellung des Bestehenden haltzumachen scheinen und keine durchdachten Alternativen hervorbringen.[23]

Reflektiert Kamazi die Krise der jüngeren Generation, die Wahl, die sie zwischen Konformismus und Ungehorsam zu treffen hat, so steht Conrads Gedicht „The Fall“ („Der Fall“) für eine optimistischere Sicht. Hier beruht die Zukunftsvision unmittelbar nach dem Fall der Rhodes-Statue[24] auf einer tiefen zeitlichen Perspektive unter Verweis auf die Schwarzen gemeinsame Vergangenheit der Sklaverei:

„Auch wenn wir noch mehr werden aushalten müssen
haben wir doch begonnen, aus den Löchern zu steigen
in denen wir vor Hunderten von Jahren begraben wurden.
Wir haben unsere Füße von ihren schweren Ketten befreit
und sind endlich dabei, uns aufzurichten.“

Der Metapher des Falls wird die Aufwärtsbewegung der Menschen entgegengesetzt, die sich befreien:

„Hinauf
hin zur Schönheit des Schwarzseins.
Hinauf
Hin zu den zerbrochenen Fragmenten der Vergangenheit.
Hinauf
hin zu einer gewaltigen, sich immer weiter ausdehnenden Zukunft.“

Diese Aufwärtsbewegung zu einer lichteren Zukunft erscheint einmal mehr verknüpft mit kollektiver Erinnerung als einem Akt, in dem Fragmente einer gemeinsamen Vergangenheit, welche unterschiedliche unterdrückte Gemeinschaften haben vergessen müssen, neu zusammengesetzt werden. In dieser Form der Ansprache verschütteter Geschichten der Unterwerfung und der Vorstellung von neuen Gemeinsamkeiten wird Erinnerung in der Tat zu einer Waffe der Dekolonialisierung.

Schlussfolgerungen

Die Beobachtung gegenwärtiger Protestbewegungen, vor allem derjenigen, die von Studierenden angeführt werden und sich mit Fragen der Ungleichheit an den Universitäten und in der Gesamtgesellschaft auseinandersetzen, macht die Rolle offenkundig, die Kunst dabei spielt, die nach wie vor bestehenden ebenso wie die neuen Formen des Kolonialismus und Kapitalismus in der Postkolonie sichtbar zu machen. Künstlerische Projekte sind zum integralen Bestandteil des Widerstands gegen die Kolonisierung des Geistes geworden und betonen so die Verschränkung politischer, intellektueller und ästhetischer Praktiken innerhalb dieser Bewegungen.[25] Darstellungen wie die hier behandelten geben nicht allein abstrakten Ideen besonders hohe Sichtbarkeit, sie bieten emanzipatorischen Projekten auch schöpferische und packende Ausdrucksmöglichkeiten, um das symbolische Regime der Kolonialität anzugreifen. Die visuellen, textlichen und performativen Praktiken, die in diesem Artikel analysiert wurden, führen diesen Angriff, indem sie Erinnerungen der Kolonisierung, der Sklaverei, der Ausbeutung billiger Arbeitskraft und der Rassentrennung aufrufen und so die kolonialen Wurzeln der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse aufdecken. Diese Lektüre hat auf die Bedeutung des Erinnerns für Mobilisierung durch Kunst in den gegenwärtigen Protesten von Studierenden in Südafrika aufmerksam gemacht und damit Überlegungen über die Funktionen des Gedächtnisses in diesen Projekten vor dem Hintergrund früher Formen der Nutzung von Erinnern in der südafrikanischen Antiapartheid-Ästhetik angestellt.

Ähnlich wie diese älteren Beispiele streben die gegenwärtigen Erinnerungspraktiken eine neue kollektive Erzählung an – in diesem Fall eine alternative Erinnerung an die Transition der 1990er Jahre, welche die Art und Weise kritisiert, in der die Politik der Versöhnung sich in ein neues Instrument der Hegemonie verwandelt hat. Diese bewusstseinsbildende Funktion des Erinnerns baut eine kollektive Identität einer politisierten Jugend auf, und zusammen lassen sich diese mit dem Diskurs des Erinnerns in der gegen Apartheid gerichteten Literatur und Kunst vergleichen, wie sie in Matteras Erzählung zum Ausdruck kommt. Die Erinnerungspraktiken innerhalb der neuen künstlerischen Arbeiten sind jedoch an eine dekoloniale Ethik und Politik gebunden und, wie ich hoffe gezeigt zu haben, Ausdruck eines postmodernen (oder sogar post-postmodernen) Bewusstseins. Während das Auffinden von Fragmenten der Vergangenheit in den früheren Projekten eine vorgängige Identität wiederbeleben sollte, behandeln die gegenwärtigen Arbeiten der südafrikanischen politischen Kunst und Poesie keine der Narrative und Identitätsbildungen der Vergangenheit als garantiert. Vielmehr betonen sie die Schwierigkeiten, eine eigene Stimmung inmitten dessen zu finden, worauf Gamedzes Installation sich als „weißen Lärm“ bezieht. In ähnlicher Weise denkt Brian Kamanzi über die faktische Unmöglichkeit nach, das System der weißen Repräsentationen zu verlassen. In diesen Texten und Performationen funktioniert die Erinnerung an die Kolonisierung als Mittel, die gegenwärtigen Schwierigkeiten der Identitätsbildung und der Gewinnung von Handlungsfähigkeit besser zu verstehen; damit verweist sie auf die Anstrengungen, die notwendig sind, um neue kollektive Identitäten auf den Trümmern der alten herauszuarbeiten. Selbst das Kenntlichmachen der „kolonialen Wunde“ etwa in den Gedichten von Mbali Matandela bedeutet doch, das Heilung nur dadurch erreicht werden kann, dass wir lernen, die Erinnerung an Unterdrückung, wie sie von unterschiedlichen Kollektiven entwickelt wurde, miteinander in Beziehung zu setzen. Hier können Formen der Solidarität dadurch erreicht werden, dass Erinnerungsinhalte von Gemeinschaften einander überschneiden, die sich auf Schwarze, die Arbeiterklasse und aufgrund von Gender Marginalisierte beziehen. Aus diesen Beispielen folgt, dass Erinnern keinerlei Garantie des Überlebens oder eines problemlosen Abschließens bereithält. Es macht nur Fragmente sichtbar, die dann zusammen mit den Erinnerungsfragmenten anderer als Puzzleteile benutzt werden können, welche Vorstellungen einer Zukunft vor Augen führen.[26]

Erinnerung funktioniert in diesen Beispielen aus Kunst und Poesie dennoch nicht allein als dekonstruktive, sondern auch als konstruktive „Waffe“. Wie verschiedene der analysierten Werke deutlich machen, lässt sich die Vergangenheit in ihren vergangenen Kontexten aufrufen und entsprechend den Bedürfnissen gegenwärtiger Zielsetzungen neu artikulieren. Das gilt für die Gedichte von Mmamalema Molepo, die sich mit den Vorstellungen von Freiheit aus der Zeit des Kampfes [gegen Apartheid, d.Ü.] und der Art und Weise auseinandersetzen, wie diese Ideen während der Postapartheid-Periode desavouiert wurden. Die generationsspezifischen Wendungen ermöglichen es dem Autor, die Geschichte zu erzählen, wie die Ideen der Befreiung hervorgebracht und dann verraten wurden, was schließlich zu der Einsicht führt, dass die Erinnerung an die eigenen früheren Zielsetzungen helfen kann, die vergangenen Einstellungen und Handlungen neu zu bewerten. In militanterer Form stellen die Gedichte von Ameera Conrad den Tod der Apartheid in Frage und zeigen, dass sie noch immer da ist, weisen aber auch Wege, wie sie bekämpft werden kann, indem die Sprache der gegen Apartheid gerichteten Erzählungen neu belebt wird.

Insgesamt besorgen die in diesen Texten, Aufführungen und Bildern enthaltenen Erinnerungspraktiken die Arbeit, die Geschichte Südafrikas nach der Apartheid innerhalb der Globalgeschichte des Kolonialismus zu verorten. Als gemeinsame Wendung zur Erinnerung rufen sie die Ästhetik des antikolonialen Ausdrucks auf und erfüllen sie mit stärker gegenwartsbezogenen dekolonialen Fragen über die Möglichkeiten, die Vergangenheit zu kennen. Das sind nur einige Beispiele einer neuen Ästhetik in der südafrikanischen Kunst, und man darf erwarten, dass weitere folgen werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Gerhard Hauck & Reinhart Kößler

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Anschrift der Autorin:
Ksenia Robbe
k.robbe@hum.leidenuniv.nl

 

Peripherie, Nr. 144, 36. Jg. 2016, Verlag Barbara Budrich, Leverkusen



[1]       Bekannte Beispiele sind neben Matteras anderem Erinnerungsbuch Gone with the Twilight. A Story of Sophiatown (1987) [rez. In Peripherie 35, 1989, d.Ü.] Richard Rive’s Roman Buckingham Palace. District Six (1986), die Erzählbände von Hettie Adams and Hermione Suttner: William Street. District Six (1988), Linda Fortune: The House in the Tyne Street. Childhood Memories of District Six (1996), Yousuf Joe Rassool: District Six. Lest We Forget (2014), Kurzgeschichten wie Ronnie Goverder’s At the Edge and Other Cato Manor Stories (1997), Theaterstücke wie Michael Williams’ District Six and Other Plays (2007)) und das Musical District Six (1987), welches enorme Popularität gewann und eines der wichtigsten Mittel war, um in den späten 1980er Jahren die Geschichte der Zwangsumsiedlungen in die öffentliche Diskussion zu bringen.

[2]       Einige der zustimmenden wie kritischen Reaktionen auf Sachs wurden in dem Sammelband Spring is Rebellious. Arguments about Cultural Freedom (1990) veröffentlicht.

[3]       Diese Wende wurde eingeleitet durch Njabulo Ndebeles berühmten Essay „The Rediscovery of the Ordinary“ von 1984 (1994 [1984]), worin er die Ästhetik des Spektakels in der südafrikanischen „Protestliteratur“ kritisierte; stattdessen forderte er Schriftsteller*innen auf, ihre Augen auf die Details des gewöhnlichen Lebens zu richten.

[4]       Deborah Posel (2013) hat die Entpolitisierung der jüngeren Generation in Südafrika zurückgeführt auf die Praktiken des demonstrativen Konsums unter den Führern der ANC Youth League seit dem Ende der Apartheid sowie auf ihre populistische Rassenpolitik, welche die Vormachtstellung des Weißseins neu installiert.

[5]       Die Kultur des Vergessens, die noch gestützt wird durch das offizielle, im Zusammenhang mit der Wahrheits‑ und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) entwickelte Narrativ der Versöhnung (Reconciliation), wurde in einer Vielzahl von einflussreichen Publikationen mit den Stimmen von Kritikern und Künstlern kritisiert, z.B. Refiguring the Archive. Hamilton u.a. 2002; Farred & Barnard 2004. Zu den die Post-Appartheid-Gedächtnis-Narrative in Frage stellenden kritischen Stimmen der jüngeren Generation gehören Mngxitama u.a. 2008 sowie Wa Azania 2014.

[6]       Die shackdweller-Bewegung [Bewohner von Bretterbuden, d.Ü.] Abahlali base Mjondolo war im Kampf um angemessenen Wohnraum und das Recht, in den Städten zu leben, ein prominentes Beispiel für öffentlichen Aktivismus.

[7]       Das Sharpeville-Massaker ereignete sich am 21. März 1960, als die Polizei das Feuer auf eine friedliche Demonstration gegen Passgesetze eröffnete und 69 Menschen tötete. Der Tag gilt als Beginn des massenhaften Widerstands gegen die Apartheid und wird seit 1994 in Südafrika als Menschenrechtstag begangen.

[8]       Für einige Profile aus dieser jüngeren Dichtergeneration vgl. http://www.goethe.de/ins/za/prj/spw/plc/job/enindex.htm und https://wordnsound.wordpress.com/, letzter Aufruf: 17.10.2016.

[9]       Fanons Kritik der Entkolonisierung und die „dekoloniale Option“, die in jüngerer Zeit Mignolo und andere entwickelt haben, sind eng mit einander verbunden, weil sie das Thema des Wissens ins Zentrum rücken. In der Definition der dekolonialen Kritiker*innen „bedeutet Dekolonialität die Dekolonialisierung von Wissen und Sein durch epistemische und affektive Loslösung von der imperialen/kolonialen Organisation der Gesellschaft“ (Mignolo & Tlostanova 2009: 132).

[10]      An Fanon anknüpfende Ansätze zur Erklärung der postkolonialer Situation Südafrikas und seiner sozialen Bewegungen wurden am überzeugendsten von Nigel Gibson (2011) weiterentwickelt in seiner Analyse der und Zusammenarbeit mit der Bewegung der shackdweller Abahlali base Mjondolo sowie von Achille Mbembe (2015a & b) in seiner Kritik am mythologisierten Weißsein im öffentlichen Bewusstsein Südafrikas. Hinweise auf Fanons Philosophie finden sich auch häufig im Schrifttum der RMF-Aktivist*innen (vgl. z.B. die RMF-Presseerklärung von April 2013 http://jwtc.org.za/the_salon/volume_9/rmf_statements.htm, letzter Aufruf: 17.10.2016.

[11]      Diese Formulierung im Titel von Ngugi wa Thiong’os (1986) grundlegendem Buch wurde sowohl in theoretische Diskussionen in post‑ und dekolonialen Arbeiten aufgenommen als auch durch aktivistische Bewegungen wie RMF popularisiert.

[12]      Neben der Errichtung der Wellblechhüttebaracke schloss die Intervention die Verbrennung mehrerer, die Wände der Universität zierender Gemälde ein – eine sehr kontroverse Aktion, auch weil es Berichte gibt, nach denen mindestens eines der verbrannten Werke ein Anti-Apartheid-Gemälde war. Vgl. http://www.groundup.org.za/article/rhodes-must-fall-protesters-destroy-uct-artworks/. Stärker als andere Aktivitäten der Must-Fall-Bewegung reflektiert dies die totale Polarisierung, die die öffentliche Diskussion um die Ereignisse charakterisiert und die der Journalist Sisonke Msimang treffend analysiert: „Entweder Du bist hundertprozentig auf Seiten der Student*innen und verteidigst ihr Recht, Kunstwerke und Gebäude anzuzünden, weil Menschenleben wichtiger sind; und ‘wen interessieren diese toten Weißen und diese Schrottkunst überhaupt?’ Oder Du hasst die Student*innen und weist ihre Anliegen ab, weil sie unbeherrschte und gefährliche Zerstörer von Eigentum sind.“ http://africasacountry.com/2016/02/the-burning/

[13]      Die Autoren definieren die subversive Differenz, die durch den dekolonialen Begriff eingeführt wird, wie folgt: „Moderne ÄstheTik hat eine zentrale Rolle gespielt bei der Erstellung eines Kanons, einer Normativität, die die Herabwürdigung und Zurückweisung anderer ästhetischer Praktiken ermöglichte, genauer gesagt, anderer Formen der ÄstheSis, der Sinneserfahrung und Wahrnehmung. Dekoloniale ÄstheSis ist eine Option, die eine radikale Kritik an der modernen, postmodernen und alternativ-modernen ÄstheTik liefert und gleichzeitig dazu beiträgt, dekoloniale Subjektivitäten am Zusammenfluss populärer Praktiken von Re‑Existenz, künstlerischen Installationen, schauspielerischen und musikalischen Darbietungen, Literatur und Poesie, Bildhauerei und anderen visuellen Künsten sichtbar zu machen.“

[14]      Eine andere Sicht auf die Diskurse und Repräsentationen des „Verwundetseins“ in der Must-Fall-Bewegung hat Achille Mbembe vorgeschlagen, der sie als narzisstische Handlungen interpretiert, die durch ihre Betonung des Affektes und ihre Opferrhetorik eine entpolitisierende Wirkung ausübten.

[15]      The Johannesburg Salon ist eine online-Zeitschrift, die mit dem Johannesburg-Workshop in Theory and Criticism verbunden ist, einer Initiative südafrikanischer Wissenschaftler*innen und Kritiker*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Theorieansätze mit globaler Relevanz aus südlicher Perspektive zu entwickeln. Im Zentrum des gesamten Projektes stehen die Probleme der Dekolonisierung der Wissensproduktion in der Postkolonie ins Zentrum.

[16]      Alle Verweise auf die Texte, die in diesem Abschnitt analysiert werden, beziehen sich auf die online-Veröffentlichung der Zeitschrift http://jwtc.org.za/the_salon/volume_9.htm, letzter Aufruf: 1.5.2016. Die einzelnen Beiträge lassen sich über die Liste mit den Autor*innen-Namen auf der linken Seite des Menüs aufrufen.

[17]      Mbali Matandela studiert Gender und Transformation an der UCT; s. ihren Beitrag zu Gender-Fragen innerhalb der RMF und zur Beteiligung von Frauen und LGBTQIA-Menschen http://mg.co.za/article/2015-03-30-rhodes-must-fall-how-black-women-claimed-their-place, letzter Aufruf: 14.10.2016.

[18]      Ameera Conrad schloss 2015 ihr Studium an der Schauspielschule von UCT ab und hat mehrere Stücke geschrieben und inszeniert.

[19]      „Macht“ auf isiZulu und isiXhosa, eine der am weitesten verbreiteten Parolen des Kampfes gegen Apartheid, d.Ü.

[20]      Brian Kamanzi lebt in Kapstadt und ist Spoken Word-Dichter sowie Mitarbeiter des Abernathy Magazine. Er engagiert sich für Gender und gesellschaftliche Gleichheit und Pan-Afrikanismus.

[21]      Apartheid bezeichnet auf Afrikaans „getrennte Entwicklung“ im Sinne der „Entwicklung“ durch Rasse und Ethnie definierter Gruppen; d.Ü.

[22]      Verweist auf die beim Übergang zur Mehrheitsherrschaft 1994 propagierte Parole der „Regenbogennation“; d.Ü.

[23]      S. Mbembes (2015b) Kritik an der Bewegung, die sich mit den Möglichkeiten und Schwächen ihrer affektiven Politik auseinandersetzt.

[24]      Statue von Cecil Rhodes vor dem Hauptgebäude der UCT, deren Sturz einen Kristallisationspunkt der Studierenden-Bewegung 2015 darstellte; d.Ü.

[25]      Beispiele neuerer sozialer Proteste außerhalb Südafrikas, bei denen künstlerische Projekte als „Waffen“ der Bewusstseinsbildung eingesetzt wurden, sind etwa die Mobilisierung von Studierenden am College of Art in Neu-Dehli, Indien, die sich gegen die Unterfinanzierung und die Unterdrückung von Innovationen richteten (http://artasiapacific.com/News/
StudentProtestAtTheCollegeOfArtInNewDelhi; 15.10.2016), sowie die Aktion einer/s anonymen brasilianischen Künstler*in, bei der berühmten Statuen in Rio de Janeiro während der Massenproteste gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung die Augen verbunden wurden (http://www.bbc.com/news/world-latin-america-35796529, letzter Aufruf: 15.10.2016.

[26]      Der Rückbezug der eigenen Erinnerung auf die Erinnerung anderer, der im Projekt der Konstituierung neuer Kollektivitäten enthalten ist, stellt einen Bezug dieser Lektüre her zu Mbembes (2015a) Forderung nach einer radikalen Offenheit für das Andere in der gegenwärtigen südafrikanischen Kultur und zu Sarah Nuttalls (2009) aufschlussreicher Lektüre der Verwobenheit als essenzieller Transkulturalität von Erfahrung in Südafrika.