Alexis Tsipras hat Recht:

Nicht nur Griechenlands Schulden sind unbezahlbar

Die Schulden in der Welt sind gigantisch. Das ist kein Wunder, denn auch die Geldvermögen steigen in Höhen, die die normale Sterbliche niemals und der normale Sterbliche selten erreichen wird. Das zeigen die Statistiken über Wachstum und Verteilung des Reichtums in der Welt, über Geldvermögen oder Kapitalbesitz. Die Banken und Beratungsfirmen beziffern ihre Klientel der „high-net-worth Individuals“ (HNWI) im Jahr 2013 auf ungefähr 13 Millionen Superreiche. So viele Menschen hatten mindestens 30 Millionen US$ liquides Geldvermögen oder ein verfügbares Nettoeinkommen von 20 Millionen US$ pro Jahr. Kein Wunder, dass Banken und Beratungsunternehmen hinter dieser lukrativen Kundschaft her sind, um mit Anlageberatung profitable Geschäfte machen zu können. Deshalb weiß die Öffentlichkeit von diesen Großvermögen - nicht weil die HNWIs besonders auskunftsfreudig wären. Die Schweizer Großbank UBS verspricht schon beim Aufruf über die Google-Suchmaschine, „mit uns Ihr Vermögen (zu) schützen und (zu) vermehren“.

Mit dem Wachstum des Reichtums halten die Schulden Schritt, denn sie sind seine Kehrseite. Wenn die Geldvermögen unermesslich sind, sind die Schulden unbezahlbar. In Deutschland sind allein 2014 mehr als 1.000 Milliarden Euro als Kredite vergeben worden, zum Kauf eines Autos, zum Bau eines Hauses oder für andere Konsumausgaben, und natürlich Kredite für Investitionen der Unternehmen, die aber nicht in dieser Billionensumme enthalten sind. 2010 gab es in Deutschland 6,5 Millionen Schuldner. Davon geraten jährlich an die 100.000, etwa eineinhalb Prozent in die Insolvenz. Sie haben dann im Kleinen und zumeist außerhalb des öffentlichen Interesses gegen Bank und Gerichtsvollzieher so zu kämpfen wie in großem Stil die Regierung eines Landes wie Griechenland gegen die Gläubiger und die Gerichtsvollzieher von IWF, EZB und Europäischer Kommission, die sich nicht mehr Troika nennen dürfen, aber deren Werk fortsetzen.

Schulden und Geldvermögen

Die Insolvenz ist keine Schande, denn dann wären auch die Geldvermögen, besonders die großen und ultragroßen der HNWIs, schändlich. Ohne Schulden gäbe es in einer Geldwirtschaft nämlich keine Geldvermögen und umgekehrt. Geld ist nicht nur ein Hunderter im Portemonnaie oder auf dem Bankkonto, sondern ein ökonomisches Verhältnis, eine soziale Beziehung mit einem Verkäufer und einer Käuferin (es kann natürlich auch eine Verkäuferin und ein Käufer sein) an den beiden Polen der Beziehung, wenn es um das Geld als Zirkulationsmittel geht, und mit einem Gläubiger (der Gläubigerin) am einen und dem Schuldner (der Schuldnerin) am anderen Ende der Beziehung, wenn das Geld als Zahlungsmittel, als Kredit fungiert. Das ist schon der buchhalterische Grund dafür, dass Schulden nicht abgebaut werden können, ohne Vermögen zu kürzen - ob in geregelter Weise durch eine Steuer, eine Abgabe, eine partielle oder totale Enteignung oder durch eine Katastrophe, ein großes Unglück oder einen Krieg. Keine dieser Arten der Bewältigung einer Schuldenkrise mögen Geldvermögensbesitzer, obwohl sich alle Welt regelmäßig über zu hohe Schulden von Schuldnern beschwert und auf deren geordneter Bedienung besteht. Sie wissen, dass Forderungen aus vergebenen Krediten abgeschrieben werden müssen, wenn Schulden nicht richtig bedient werden. Auch Regierungen und die Parteien an der Regierungsmacht wollen das Schuldenmachen bremsen, aber Vermögen nicht antasten, und damit dies in alle Zukunft so bleibt, schreiben sie in internationalen Abkommen wie TTIP fest, dass jede Einschränkung der Profitmacherei ein Eingriff in Rechte sei, die aus ihrem Vermögen resultieren und daher einer Enteignung gleichkomme. Eine private (nicht eine öffentliche, demokratisch legitimierte) Schiedsgerichtsbarkeit soll dann über die Entschädigung der Vermögensbesitzer entscheiden. Das heißt, die Schuldverpflichtung bleibt erhalten, sie bekommt nur einen anderen Namen: Entschädigung. Die Folge: Wenn die Vermögen entschädigungsbewehrt gegen Enteignung oder als Enteignung gewertete Maßnahmen geschützt werden, sind auch die Schulden und mit ihnen der Schuldendienst zu Gunsten der Geldvermögensbesitzer - darunter auch die HNWIs - gesichert. Vermögen also sind sakrosankt, Schulden werden gebremst. Das ist ein Rezept, auf das einer erst kommen muss.

So lange die Einkommensströme der Schuldner groß genug sind, um ihre Lebensnotwendigkeiten, also den tagtäglichen Verbrauch und allfällige Investitionen (bezahlt aus dem im Falle souveräner Schuldner so genannten „Primärbudget“) abzudecken und der Rest (bezahlt aus dem so genannten „Sekundärbudget“) für den Schuldendienst ausreicht, gibt es keine Probleme. Die Schuldner gelten als gute Schuldner, wenn aus den Überschüssen der realen Wirtschaft die monetären Forderungen der Geldvermögensbesitzer abgezweigt werden können. Probleme gibt es sofort, wenn das Einkommen von Schuldnern schrumpft und der Schuldendienst nicht mehr aufgebracht werden kann.

Das ist im Großen so und auch im Kleinen, im Fall der Verschuldung eines souveränen Landes ebenso wie im Fall der Verschuldung eines einzelnen Haushaltes. Es gibt viele Gründe dafür, dass der Schuldendienst den Geldvermögensbesitzern nicht reicht. In aller Regel ist dies nicht die Schuld des Schuldners oder der Schuldnerin, obwohl die etymologische Nähe von Schuld und Schulden diese Interpretation – zumindest im deutschen Sprachraum – begünstigt und daher auch das Denken beeinflusst und Beißreflexe von Gläubigern und ihrer medialen Kläffer gegen Schuldner mit Schuldzuweisungen auslöst. Das kann man in der Eurokrise beim Umgang der deutschen politischen Klasse mit dem verschuldeten Griechenland und der dortigen Linksregierung im Fernsehen besichtigen.

Aber es kann auch ein zweifelsfrei unverschuldetes Unglück geschehen. Ein bekanntes literarisches Beispiel stammt von William Shakespeare. Antonio, Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, verschuldet sich bei dem Geldverleiher Shylock, um seinem Freund Bassanio die Werbung um die schöne Portia zu finanzieren. Als Sicherheit verpfändet er ein Pfund Fleisch aus seinem Körper. Nun gehen seine Schiffe mit kostbarer Ladung verloren. Ihm fehlen die Einnahmen, aus denen der Kredit zurückgezahlt werden sollte. Also wird das Pfand fällig. Shakespeare ist nachsichtig mit dem Schuldner Antonio. Er lässt die schöne Portia den Antonio retten mit dem Verweis auf die Klausel, er habe ja nur das Fleisch verpfändet, nicht aber das Blut. Einen unblutigen Schnitt aber gibt es nicht, und daher muss dieser unterbleiben. Der Gläubiger Shylock geht leer aus und muss den Verlust selbst tragen.

Aber das Unglück des Verlustes der Fähigkeit zum Schuldendienst bricht heute aus ganz anderen Gründen als in Shakespeares Komödie über Schuldner herein. Im alltäglichen Leben kann es geschehen, dass mit zunehmender Arbeitslosigkeit die Haushaltseinkommen sinken und der Schuldendienst nicht mehr fortgesetzt werden kann. Dieses oder Ähnliches ist den 100.000 insolventen Schuldnern, die es in Deutschland jedes Jahr gibt, geschehen. Nun werden Einschränkungen des Lebenszuschnitts von Schuldnern und Umschuldungen fällig, die auch die Geldforderungen von Gläubigern mindern können, sofern sie nicht versichert sind. Nicht erst die Arbeitslosigkeit hat für Schuldner schmerzliche Folgen, auch wenn kein Pfund Fleisch aus dem Leib geschnitten wird. Auch Lohnsenkungen und die Verwandlung „normaler“ in prekäre Jobs wirken in diese Richtung. Die Höhe des Schuldendienstes ist auch durch die „Konditionalität“, also von der Höhe der Zinsen, von den Tilgungsraten, von der Größe der Restschulden und von der Laufzeit eines Kredits bestimmt.

„r“ größer als „g“

Die aktiven Anlagefonds und großen Banken treiben im Interesse der Kapitalanleger und gegen die Interessen der Schuldner die Renditen nach oben. Denn die Anleger wollen vor allem ihre Geldvermögen kurzfristig mehren. Das ist ihnen gelungen, denn sie konnten ihr HNWI-Vermögen vom Jahr 2000 bis 2012 trotz der schweren Krise um fast 60% steigern – mit Unterstützung der politischen Akteure, der Regierungen und internationalen Organisationen. Die Geldvermögen können höchst mobil auf liberalisierten Finanzmärkten im Nanosekundentakt von Finanzplatz zu Finanzplatz bewegt werden und so Höchstrenditen einfahren. Das machen sie noch nicht einmal selbst. Für den Turbohandel mit allen möglichen Wertpapieren haben sie spezialisierte und hoch-professionelle Beratungsfirmen, Finanzmakler, Banken wie USB, Deutsche Bank oder die für ihre kriminellen Schiebereien auffällig gewordene HSBC unter Vertrag, die dafür sorgen, dass die Rendite und daher die Ansprüche der Geldvermögensbesitzer an die Einkommen der Schuldner nach oben weisen.

Das ist eine Situation, die inzwischen durch den Piketty-Hype eine gewisse Aufmerksamkeit gefunden hat: Das Wachstum der Realrendite von Finanzanlagen, also der Kapitaleinkommen, ist größer als die reale wirtschaftliche Wachstumsrate: r > g. Piketty (2014) analysiert eine soziale und ökonomische Konstellation, die sich durch diese Ungleichung als einen Treiber der explosiv zunehmenden Ungleichheit in der heutigen Welt pointiert darstellen lässt. Dies ist kein Wunder, denn die Ansprüche der Geldvermögensbesitzer an den „Kuchen des Sozialprodukts“ wachsen schneller als der Kuchen selbst. Das ist in jedem Land so, aber wegen der Globalisierung liberalisierter Finanzmärkte wird auch weltweit die Ungleichheit immer größer.

Nicht nur die Ungleichheit, auch die Ungleichgewichte - z.B. in den Leistungsbilanzen innerhalb des Euro-Raums oder in den „Target 2-Salden“ des Zahlungsverkehrs zwischen den Euro-Staaten und ihren Zentralbanken, die „finanziellen Instabilitäten“ - nehmen zu. Die Salden ergeben sich aus den Zahlungsbewegungen zwischen den Zentralbanken, bei denen die Geschäftsbanken der jeweiligen Länder Konten halten. Guthaben erhöhen die Target2-Forderungen, Schulden mindern sie oder werden zu monetären Verpflichtungen. Niemand wird sich wundern, dass im Target2-Europa Deutschland (neben Luxemburg, den Niederrlanden und Finnland das Land mit dem höchsten Positivsaldo ist und die südeuropäischen Schuldnerländer die höchsten Defizite aufweisen. Diese Ungleichgewichte sind für die Krisenanfälligkeit des von den Finanzmärkten dominierten Kapitalismus verantwortlich. Das ist schon lange ein Thema der monetär-keynesianischen Analysen (z.B. Minsky 1986; Heine/Herr 1999), der empirischen Untersuchungen der Zins- und Einkommensentwicklung (z.B. Felix 2002; Enquete Kommission 2002) oder von Interpretationen der Krisentendenzen des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (Altvater 2004). In allen diesen Ansätzen steht wie bei Piketty die Divergenz der Entwicklung von monetären Ansprüchen und realer Leistungsfähigkeit von Schuldnern im Vordergrund. Es ist offensichtlich, dass die Divergenz nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden kann. Schuldner müssen Renditeforderungen bedienen, die stets über ihren Einnahmen liegen. Sie müssen die Zahlungen des Schuldendienstes irgendwann einstellen oder ihre Vermögenssubstanz angreifen. Das kann aber nur eine gewisse Zeitlang gutgehen, weil es Schuldnern bei länger dauerndem Substanzverlust immer schlechter geht.

Schuldenkrisen und die (De)Regulierung der Finanzmärkte

Gut sind Schulden nur so lange, wie sie langfristig bedient werden können, weil die Renditen der Kapitalanlagen nicht entkoppelt von der realen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit über die realen Einkommenszuwächse (die wirtschaftliche Wachstumsrate) spekuliert worden sind. Die „reale Wirtschaft“ ist der Stabilitätsanker einer dynamischen Gesellschaft, die verselbständigten, „entbetteten“ Finanzmärkte sind es nicht. Diese Erkenntnis stammt aus den Erfahrungen der Großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Sie fand in den USA Eingang in den Glass-Steagall Banking Act von 1933. Damit wurde ein Trennbankensystem geschaffen, d.h. die Banken sollten entweder das traditionelle Kredit- und Einlagengeschäft betreiben oder sich für das Wertpapiergeschäft des Investment-Banking entscheiden. Sie sollten die reale Wirtschaft nicht in Mitleidenschaft ziehen, wenn sie sich verspekulieren. Die Kreditvergabe sollte also zum Schutz der Klientel aus der realen Wirtschaft mit ihren begrenzten Überschüssen nicht mit Renditeforderungen (Pikettys r) belastet und überlastet werden, die durch die Finanzspekulation über die reale Wachstumsrate (g) hinaus getrieben worden sind. Das war ein Gesetz zur Bändigung des Übermuts der Spekulanten. Man hatte ja deren Zusammenbruch mit seinen fürchterlichen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft und letztlich auch für den Bankensektor selbst erlebt.

Doch die Lehre von 1933 geriet in Zeiten der Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung seit Beginn der 1970er Jahre mehr und mehr in Vergessenheit. Die Hindernisse für das profitable Investment-banking wurden aus dem Weg geräumt. Das begann schon in den 1970er Jahren mit dem Übergang zu flexiblen, vom Markt und nicht mehr von wirtschaftspolitischen Instanzen geregelten Wechselkursen und dem Verzicht der Zentralbanken auf die Festlegung der Leitzinsen. Eine unmittelbare Folge war die Schuldenkrise der Dritten Welt in den 1980er Jahren: Es war auf mehr und mehr liberalisierten Finanzmärkten möglich, zu günstigen Konditionen Kredite aufzunehmen, also Schulden zu machen. Scheinbar risikolos konnten mit Außenschulden in US-Dollarwährung Investitionen und Importe von Ausrüstungen, von Konsumgütern, aber auch von Waffen und Luxuswaren der herrschenden Eliten finanziert werden – bis die Reagan-Regierung die US-Zinsen nach oben trieb, um die Talfahrt des US-Dollar zu bremsen und der Schuldendienst daraufhin so sehr stieg, dass ein Land nach dem anderen in die Pleite rutschte. Polen machte 1981 den Anfang und die politische Folge war der Jaruselsky-Putsch gegen die Solidarnosc-Bewegung, über den Reagan Krokodilstränen vergoss, über den die Wallstreet aber jubelte, weil Polen gezwungenermaßen zum „ordentlichen“ Schuldendienst zurückkehrte. Mexicos Bankrott folgte im August 1982, Brasilien war im November dran, dann Bolivien und andere Länder.

Die damalige Schuldenkrise wurde „gelöst“, indem erstens die Gläubigerbanken durch einen geringen Forderungsverzicht davon abgehalten wurden, sich als „Trittbrettfahrer“ („free rider“) auf Kosten anderer Gläubiger aus dem Schuldendebakel freizukaufen. Sie akzeptierten Umschuldungen (unter aktiver Beteiligung der US-Regierung mit ihren Baker- und Brady-Bonds, die Banken mussten ja verdienen können). Zweitens mussten die Schuldnerländer durch eine von den Bretton Woods-Institutionen überwachte Politik der Austerity (das war der berühmt gewordene und in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder angewandte „Konsens von Washington“ - vgl. die Zusammenfassung in: Enquete Kommission 2002: 74) wieder „schuldendienstfähig“ gemacht werden. Die Geldvermögen wurden zum größten Teil gerettet, für die Schuldner hingegen waren die 1980er Jahre ein verlorenes Jahrzehnt.

In Shakespeares Komödie verlangt Shylock seine Sicherheit, das Pfund Fleisch aus Antonios Körper. Die modernen Eintreiber der Schulden lassen sich von einer Portia die Schuldenlogik nicht ausreden und das Pfand trickreich abluchsen. Sie fordern das, was ihnen dieser Logik zufolge zusteht - im Großen wie im Kleinen. Im Kleinen stehen kommerzielle Schuldeneintreiber und Insolvenzabwickler bereit, die Zahlungen der Schuldner zu erpressen und das einst eigene Haus im Falle von Hypothekenschulden unter den Hammer zu bringen oder das Auto aus der eigenen Garage auf den Parkplatz der Bank zu rollen, wenn der Kredit nicht abbezahlt werden kann. Im Großen werden Ländern Austerity-Programme aufgedrückt, mit denen der Schuldendienst aus dem „Primärbudget“ der Staaten, also aus dem Sozialetat, den Investitionen, den Lohn- und Gehaltszahlungen herausgeschnitten wird oder indem „das Tafelsilber“, also öffentliche Güter, Unternehmen, Grundstücke, ganze Inseln etc. verhökert werden. So haben es die „Strukturanpassungsprogramme“ des IWF in den verschuldeten Ländern der „Dritten Welt“ vorgesehen. Das wurde als „Konsens von Washington“ zum politischen Standard in den Finanzkrisen seit den 1980er Jahren. Der IWF ist in der Eurokrise seit 2010 zum Mitglied der Troika vor allem wegen seiner Expertise bei der Umsetzung von Austerity-Maßnahmen in der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems gemacht worden.

Das Schuldenkarussell ging weiter, denn die geretteten Geldvermögen brauchten zu ihrer Verwertung unbedingt neue Schuldner. Diese fanden sie erneut in Lateinamerika und vor allem auf dem asiatischen Kontinent mit den „asiatischen Tigerländern“. Es geschah, was geschehen musste. Auch die neuen Schuldner gerieten in die Krise, zuerst Mexico 1994 in die „Tequila-Krise“, dann 1996 südostasiatische Länder von Thailand bis Indonesien, gefolgt 1998 von Russland, Brasilien 1999 und der Türkei und dann um die Jahrtausendwende von Argentinien. Das Land wurde von der schwersten Schuldenkrise überhaupt getroffen. Die zerstörerische Gewalt des Geldes zeigte sich am Cono Sur besonders eindringlich. Etwa die Hälfte des Sozialprodukts ging in dem Rauch der Finanzkrise auf. In Mexico betrug der Rückgang des Sozialprodukts „nur“ 18 Prozent, in Südostasien etwa 30 Prozent.

Die Art und Weise, wie argentinische Schulden gestrichen worden sind, hat eine Dauerkrise bis in die Gegenwart ausgelöst. Die Geldvermögen, also der buchhalterische Gegenpart der Schulden, sind in den Büchern von so genannten Geierfonds („buitres“) Geißeln, wenn auch nur ein entfernter New Yorker Richter mit Namen Griesa die Rechtmäßigkeit von Forderungen beschließt, die Argentinien zu erfüllen hat. Nicht nur muss die Bevölkerung bluten, wenn dem Schuldendienst Vorrang vor Sozialprogrammen oder vor Investitionen in die Zukunft eingeräumt wird; aufgrund der Regeln der Rating Agenturen wird Argentiniens Bonität herabgestuft, so dass neue Kredite so teuer werden, dass der Zugang zu den globalen Finanzmärkten de facto geschlossen ist.

Trotz dieser vor aller Welt sichtbaren Krisenhaftigkeit und Gemeingefährlichkeit des globalen Finanzsystems legten die USA unter der Clinton-Regierung 1999 die Sicherheitsgurte des Glass Steagall-Gesetzes ab. Alle Grenzziehungen zwischen Geschäfts- und Investment-Banken, zwischen dem Geld als Zirkulationsmittel einschließlich darauf bezogener Kreditvergabe und dem Geld als Zahlungsmittel und Wertpapier, mit dem luftig spekuliert werden konnte, wurden beseitigt. Diese Tendenz wurde noch nach dem September 2001 durch die Politik des leichten Geldes unter dem Zentralbankchef Alan Greenspan befördert. Alle Finanzinstitute waren eingeladen, das billige Geld aufzunehmen, es an neue Schuldner gegen Verbriefung zu verleihen und die so aus dem Nichts der Trümmer des World Trade Center („ex nihilo“) geschaffenen Wertpapiere meistbietend auf globalisierten und liberalisierten Finanzmärkten zu verkaufen. Für die Sicherheiten sorgten jetzt auch Rating-Agenturen, die für ihre vermögende Kundschaft gern die höchste Qualität von Wertpapieren bestätigten, in denen auch die Kredite an „subprime“-Schuldner verpackt waren. Das war für alle Beteiligten ein gutes Geschäft, das katastrophal als finanzieller „Ground Zero“ enden musste.

Doch eine Zeitlang ging das gut, bis sich die Schere zwischen den Ansprüchen aus Geldvermögen und der Leistungsfähigkeit der Schuldner erneut öffnete. Im Prinzip war diese Schere mit der Schuldenkrise der 1980er Jahre vergleichbar. Einiges jedoch hatte sich zwischenzeitlich fundamental geändert. Erstens machte sich, wenn auch auf verwickelten Wegen, der Fall der Profitraten, der Rückgang der Investitionen und daher auch der realen Wachstumsraten in der Weltwirtschaft geltend – wenn man von China und anderen Schwellenländern absieht. Die „trente glorieuses“ der Nachkriegszeit waren vorbei. Zweitens haben die Finanzinnovationen (neue Finanzinstrumente, neue Spekulationsvehikel, neue Akteure auf neuen Finanzplätzen) eine immer absurdere Steigerung von Renditeforderungen und -erwartungen zur Folge. Man erinnert sich noch gut an die Renditeversprechen von 25% auf das Eigenkapital, das der Deutsche Bank-Chef Ackermann großspurig abgab, kurz bevor die Lehman-Pleite die schwerste Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus einleitete. Die Ungleichung r > g klafft immer weiter auseinander, denn eine Rendite r von 25% ist durch keine Wachstumsrate g realistisch zu erreichen oder gar zu toppen. Der Crash ist vorprogrammiert.

Nun stellte es sich heraus, dass sich am Ende der Kreditbeziehung - anders als in den Jahrzehnten zuvor - nicht mehr ein Kredit nehmendes Unternehmen, manchmal auch eine Regierung, und am anderen Ende eine Bank oder ein Bankenkonsortium befinden, die vertraglich durch einen Kreditvertrag miteinander schuldrechtlich verbunden sind. In der neuen Zeit des finanzgetriebenen Kapitalismus wird der Kredit an ein Unternehmen mit billigem Zentralbankgeld finanziert und verbrieft. Das Wertpapier wird möglicherweise mit anderen Papieren gebündelt und in ein neues Papier verwandelt, und dies nicht nur einmal, sondern mehrere Male, so dass alle Transparenz der Finanzbeziehung verloren geht. Die intransparenten Papiere werden auf globalisierten Finanzmärkten gehandelt, so dass einst unterwertige Hypothekenkredite (subprime) wohl mit anderen Papieren zusammengepackt in den Tresoren der Hypobank in München, der HSH-Nord in Hamburg, der HSBC in Zürich oder der WestLB in Düsseldorf landen.

Die Krise der Schuldner überträgt sich nun in eine Krise der Gläubiger, weil diese einst werthaltige Anlagen abschreiben müssen. Die Dimensionen sind gewaltig. Sie haben ja damit gut verdient, dass sie gemäß dem Geschäftsmodell „originate and distribute“ Wertpapiere maßgeschneidert kreiert und dann weltweit verkauft haben. Je mehr davon, desto höher die Profite und die Boni der Alchimisten in den Chefetagen der Bankpaläste von Manhattan und Mainhattan. Werte mussten nicht mehr mühselig „im Schweiße des Angesichts“ erarbeitet werden. Sie konnten einfach „originiert“ oder kreiert werden. Ein Stück Papier reichte dazu aus und der Stempel einer Rating Agency. Wer sich arbeitend die Hände schmutzig machte, wurde von den neuen Geldeliten verachtet. Nach dem finanziellen Ground Zero aber sammeln sich die assets der smarten Finanzalchimisten in irgendwelchen Banktresoren als wertlose Schrottpapiere. Das aber bringt die Banken in die Bredouille, weil sie nicht mehr über die Sicherheiten für ihre Geschäftemacherei verfügen.

Da kein privater Geldvermögensbesitzer bereit ist, „gutes Geld schlechtem Geld hinterher zu werfen“, ist eine „Bilanzverkürzung“ fällig. Diese kann möglicherweise bis zur Einstellung des Bankgeschäfts radikal sein, es sei denn, ein „lender of last resort“ springt hilfreich ein und wendet den Bankrott ab. Die Krise wird nun auch zum Politikum. Die Bush-Regierung lässt Lehman hops gehen, die Freunde von Goldman Sachs werden gerettet. Auch das Persönliche ist politisch.

Schulden, Staaten, Politik

Helfer in Zeiten des Finanzmarktnotstandes sind die Staaten, die in Zeiten der Liberalisierung und Privatisierung von HNWIs zum Teufel gejagt wurden - auch ideologisch und in den Lehrplänen des Ökonomiestudiums. Doch in der Krise sind sie auf einmal als souveräne, öffentliche Akteure gefragt, die Bankenverluste zu schultern, weil funktionierende Banken doch für das „System“ und dessen Funktionieren „systemrelevant“ seien. Also werden Bankenrettungsfonds aufgelegt, die einspringen, wenn Not an der Bank ist. Die Schuldner werden nun als Staatsbürgerin und Staatsbürger zur Kasse gebeten. Hunderte von Milliarden Euro muss Griechenland an Schulden machen (und für deren Schuldendienst aufkommen), um diese Milliarden stante pede an französische und deutsche Banken, aber auch an griechische Banken zu transferieren, die sonst in finanzielle Schwierigkeiten geraten würden. Die Austerity kommt wieder und sie trifft die Bevölkerung hart, wie der „Knüppel aus dem Sack“. So wurde in den 1970er Jahren in Italien die Austerity übersetzt: „la stangata“. Heute ist der Begriff von Irland und Island bis Griechenland und sogar in Deutschland kein Fremdwort mehr, weil er einen schmerzlich bekannten Sachverhalt der Politik zur Krisenbewältigung umschreibt. Geldvermögensbesitzer, die die Psychologie des scheuen Rehs haben, dürfen nicht verscheucht werden. „Aus Sorge, dass hohe Schuldenberge internationale Investoren vergraulen, haben viele Staaten Sparmaßnahmen eingeführt und Steuern erhöht – sie setzten eher auf die Konsolidierung ihrer Staatshaushalte als auf den Kampf gegen die Rezession.“ So schreibt das „Handelsblatt“ verständnisvoll am 10.3.2014. Die andere Seite der „Konsolidierung“ ist die Zerstörung des Gesundheits- und Bildungssystems, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Zukunft der jungen Generation.

John Maynard Keynes (1932) hat am Beispiel der deutschen Reparationen 1932 die damalige „stangata“ als das „budgetary problem“, als das „Aufbringungsproblem“ analysiert. Wenn zu viel angesichts der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines Landes für den Schuldendienst aufgebracht und abgezweigt wird, schadet dies der wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch der Fähigkeit zum Schuldendienst. Gnadenlose Gläubiger schneiden sich also ins eigene Fleisch, zumal auch das „Transferproblem“ zu bewältigen ist. Ein verschuldetes Land muss einen Überschuss in der Leistungsbilanz erwirtschaften. Das gelingt nur mit Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber konkurrierenden Nationen steigern, also mit Hilfe einer Senkung der Lohnstückkosten, um Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. Da die Produktivität allenfalls langfristig gesteigert werden kann, werden kurzfristig Lohn-und Gehaltseinkommen gekürzt. Auch die Währung wird abgewertet. Das kann kontraproduktiv sein, wenn auf diese Weise Importe verteuert werden und dann die Kosten der Produktion mehr steigen als die wettbewerbsfähigeren Exporte zusätzlich einbringen. Austeritymaßnahmen, so mahnte Keynes, provozieren von den Handelspartnern Gegenmaßnahmen, die zur Folge haben können, dass am Schluss alle schlechter dastehen als zuvor.

Spätestens bei der Berücksichtigung der Folgen von Schuldenkrisen wird es klar, dass Geld und Kredit ökonomische, politische und soziale Beziehungen vermitteln, die schwer in Mitleidenschaft gezogen werden können und auch eine „Gemeinschaft“ wie die EU zerstören können. Dann spätestens zeigt es sich, dass die Schuldenkrise auch eine Krise der Gläubiger und eines gemeinsamen Währungsraums ist. Über „die Gewalt des Geldes“ sind Bücher geschrieben (z. B. von Aglietta und Orléan) und Filme etwa von Scorsese gedreht worden. Sie ist in den Beziehungen zwischen gnadenlosen Gläubigern und ohnmächtigen Schuldnern immer präsent, als personelle Gewalt wie die des Shylock, der das Pfand aus dem Körper schneiden möchte, und in Scorseses Mafia-Filmen, oder sie erscheint als strukturelle Gewalt eines die Lebensverhältnisse beengenden Schuldendienstes, als Schuldknechtschaft. Daher hat es immer Regeln gegeben, die eine Überschuldung und Überlastung verhindern, und wenn diese eingetreten waren, dazu beitragen sollten, diese zu überwinden. Die wichtigste prophylaktische Regel war zweifellos das Zinsverbot, das Eingang in die großen Religionen der Neuzeit vor dem Siegeszug des Kapitalismus gefunden hat. Es steht in der Bibel und Aristoteles hat es philosophisch begründet, es wurde zum apostolischen Zinsverbot der katholischen Kirche weiterentwickelt, das erst mit der Enzyklika Vix pervent des Papstes Benedict XIV im 18. Jahrhundert formell aufgehoben worden ist. Es gilt als islamisches Zinsverbot bis heute, auch wenn es trickreich umgangen wird.

Wenn aber die Divergenz zwischen Leistungsfähigkeit der Schuldner (die von g abhängt) und (heute meist verbrieften) Forderungen der Gläubiger (das r in der zitierten Ungleichung) so groß ist, dass durch Einkommenstransfers vom Schuldner zum Gläubiger diese nicht mehr auf ein tragbares Maß verringert werden kann, sind nur zwei Wege möglich. Der eine ist der Bankrott des Schuldners. Ein Pol der sozialen Beziehung, die durch das Geld vermittelt worden ist, verschwindet aus der Wirtschaftswelt und landet in der Pleitenhölle. Es ist aber nicht möglich, dass nur ein Pol der sozialen Beziehung verschwindet, die das Geld zwischen Gläubiger und Schuldner vermittelt. Auch der Gläubiger (wenn es eine Bank ist: die Gläubigerin) ist betroffen und muss Verluste verbuchen, zumal dann, wenn keine neuen, solventen Schuldner nach Krediten suchen. Keynes wusste dies, und deshalb plädierte er, wenn auch vorsichtig, für einen Interessenausgleich zwischen den Gläubigern und den Schuldnern. Denn Gläubiger sind mit ihren Geldvermögen ohne Schuldner nichts.

Heute wird vom politischen Führungspersonal der Austerity in der Eurozone behauptet, dass der griechische Zahlungsausfall ja verkraftbar sei. Nur zwei Prozent der Schulden im Euroraum würden faul und eine Ansteckung sei nicht zu befürchten. Wer das glaubt, wird nicht selig. Er ist dämlich.

Denn erstens wird ein Loch in die zu einem Rhizom verketteten und schwer zu entflechtenden Kreditbeziehungen gerissen, das weiter aufplatzen und „Systemrelevant“ werden kann. Es wäre daher besser, den Test nicht zu machen und das Schuldenproblem auf zivilisierte Weise zu bewältigen, durch eine Vereinbarung über eine Reduzierung der Schuldenlast, damit es erst gar nicht zu dem Zusammenbruch von Schuldnern kommt wie während der Schuldenkrisen der vergangenen Jahrzehnte in der „Dritten Welt“, in Asien, in der „new economy“ oder im Immobiliensektor der USA. Die zyklische Pleitenwoge am Ende eines Schuldenzyklus hat Europa erreicht. Nun hat dieser Kontinent, der mit seinem zivilisatorischen Erbe gern herumwuchert, eine Chance, der zerstörerischen Kraft des Geldes eine Alternative entgegenzusetzen: ein Insolvenzrecht für Staaten, eine geregelte Entschuldung, die ja die Voraussetzung dafür ist, dass neue Kreditbeziehungen entstehen können. So klug hätten die herrschenden Eliten Europas schon 2009, als die Eurokrise ausbrach, sein müssen.

Der Schuldenzyklus mit der Katastrophe der Schuldenkrise ist kapitalistische Normalität. Dies ist ein gutes Argument, um sich für die Überwindung des Kapitalismus stark zu machen. Bis dahin aber geht es vor allem um eine zivile Regulation von Schulden, die ja von der anderen Seite betrachtet begehrte und von vielen sogar verehrte Vermögen sind. Auch der Schuldendienst ist zu regeln, indem er an die Leistungsfähigkeit von Schuldnern gebunden wird. Forderungen der Geldvermögensbesitzer und ihrer Parteigänger in Regierungen, Parteien und internationalen Institutionen sind nicht sakrosankt, auch wenn Schäuble, Merkel und die militanten Konservativen von der CSU der griechischen Regierung in den Ohren liegen: „pacta servanda sunt“. Ja sicher, aber der Volksmund weiß auch und hat damit Recht: „Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen“, und einer nackten Frau erst recht nicht. Aus den inzwischen verfügbaren Dokumentationen weiß man auch, dass ein großer Teil der Schulden Griechenlands wie vormals in den Ländern der „Dritten Welt“ oder der Schwellenländer durch Korruption, Betrug und Misswirtschaft zu Gunsten von Kapitaleignern zustande gekommen und nach allen Kriterien illegitim sind. Sehr häufig, im griechischen Fall ist dies besonders überzeugend nachgewiesen, sind Unternehmen in illegale Machenschaften aus den Gläubigerländern verwickelt. Es ist dann besser, die Bilanz der Geldvermögensbesitzer zu verkürzen und eine untragbare Schuldenlast einvernehmlich abzuwerfen, als die Demokratie zu untergraben, den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu zerstören und in Europa neonationalistische Konflikte zu schüren. Alexis Tsipras hat Recht: Es geht im griechischen Fall um mehr als einige hundert Milliarden Euro Schulden.

Dieser Text wurde im März 2015 fertiggestellt.

Literatur

Altvater, Elmar 2004: Inflationäre Deflation oder die Dominanz der globalen Finanzmärkte, in: Prokla ‑ Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, No 134, März 2004

Enquete Kommission 2002: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft. Oplaten

Felix, David 2002: The Rise of Real Long-term Interest Rates since the 1970s. Comparative Trends, Causes and Consequences. Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“, Deutscher Bundestag

Heine, Michael/Herr, Hansjörg 1999: Volkswirtschaftslehre. Paradigmenorientierte Einführung in die Mikro- und Makroökonomie. München und Wien

Minsky, Hyman P. 1986: Stabilizing an Unstable Economy. New Haven/London

Piketty, Thomas 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundertt. München