Akkumulationsregime, Arbeitsformen, Produktions- und Lebensweisen
1. Die Regulationstheorie beschreibt ein Akkumulationsregime als „Modus
systematischer Verteilung und Reallokation des gesellschaftlichen Produkts, der
über einen längeren Zeitraum hinweg eine bestimmte Entsprechung von zwei
Transformationen herstellt: einerseits der Transformation der
Produktionsverhältnisse und andererseits der Transformation der Verhältnisse
der tatsächlichen Konsumtion" (Lipietz 1985, 120). Eine Regulationsweise
repräsentiert „einen Satz internalisierter Regeln und gesellschaftlicher
Prozeduren, die gesellschaftliche Elemente in individuelle Verhaltensmuster
inkorporiert" und auf diese Weise die „Vereinbarkeit von Verhaltensweisen im
Rahmen eines Akkumulationsregimes" sichert (Lipietz 1987, 15; 1985, 121).
Entschuldigung, wo sind hier die Subjekte? Sie werden, zusammen mit ihren
Kämpfen, in diesem Herangehen leicht ausgeblendet, was die Erfassung von
Widersprüchen erschwert. Daher sprechen wir mit Antonio Gramsci lieber von
einer spezifischen Produktions- und Lebensweise: ›Produktionsweise‹ fragt nach
der Entwicklung der Produktivkräfte und der daraus folgenden Regime,
Verhältnisse, Teilungs- und Verteilungsmuster der gesellschaftlichen Arbeit,
nach dem Verhältnis von Kapitalakkumulation, politischer Regulation und
Ideologiepolitik. Die neuen Formen der Produktion und der Arbeit hängen
allerdings „untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammen, zu leben, zu denken
und das Leben zu empfinden" (Gramsci, Gef. 9, 2086). Diese Lebensweise ist
Gegenstand zahlreicher staatlicher und zivilgesellschaftlicher Kampagnen
ideologischer Anrufung der Subjekte, ist umkämpft von oben und unten.
„Gepanzert mit Zwang" (Gef. 4, 783) wird in der Herausbildung einer neuen
Produktions- und Lebensweise die aktive und passive Zustimmung der
untergeordneten (subalternen) Gruppen mobilisiert, indem ihre Interessen,
Leidenschaften und Wünsche aufgenommen, ihre Ziele allerdings ver-rückt oder
verkehrt werden. Die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse selbst stellt diese
Hegemonie immer wieder in Frage, verhindert eine (subjektive) innere Kohärenz, erzeugt
den Widerstand, macht jeden Versuch unvollständig, ein Subjekt mit Mitteln
gesellschaftlicher Disziplinierung hervorzubringen... bis die Verdichtung der
Widersprüche zur Erosion des Konsenses, zur Krise der Produktions- und
Lebensweise, zur Krise der Subjektivitäten führt (ausführlich Candeias
2004/2009; 2007).
2. Die Restrukturierung des Verhältnisses von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen seit Ende der 1960er Jahre machte der fordistischen
Zurichtung zum ›dressierten Gorilla‹ ein Ende. Die damit verbundene
Produktionsweise bezeichnet etwa Wolfgang Fritz Haug als transnationalen
High-Tech-Kapitalismus (2001), um auf die neue Leitproduktivkraft des
Computers, die neuen globalen Konkurrenz- und Produktionsverhältnisse
hinzuweisen. Nicht mehr der Massenkonsum in den Zentren steht im Vordergrund,
die Ausgleichsmöglichkeiten von Gewerkschaften und Sozialstaat werden
zurückgedrängt. Die Aushöhlung des Sozialstaates und die neuen
Verwertungsstrategien werden umgesetzt mit einer Rhetorik der Aktivierung von
individuellen, emotionalen und kreativen wie materiellen Ressourcen. Nicht so
sehr die Einpassung der Einzelnen in gesellschaftlich vorgestanzte
Subjektivitätsformen, die Sexualität und Lust abschneiden, steht im
Vordergrund, sondern der Aufruf, „man selbst zu werden" (Alain Ehrenberg),
indem man sich selbst auf den Markt - der Waren und Arbeitskraft - wirft. Die
neuen Produktionsformen setzten stärker auf die Produktionsintelligenz, das
informelle Erfahrungswissen, die Kreativität und selbst die Emotionalität der
unmittelbaren ProduzentInnen. Der genaue Ablauf der Tätigkeiten wird nicht mehr
vorgegeben, sondern den Beschäftigten weitgehend selbst überlassen; Hauptsache,
das vorgegebene Ziel wird erreicht. Die Einbindung des Wissens der Beschäftigten
macht die Tätigkeiten generell interessanter und vielfältiger. Ihre Faszination
verführt zum längeren Arbeiten, dafür werden die Probleme mit nach Haus
genommen, wollen gelöst werden. Solche Praxen verändern das Zusammenleben, wenn
sie allgemein werden. Sie kommen, v.a. im so genannten ›hochqualifizierten‹
Bereich aber nicht nur dort, dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und
selbstverantwortlichen Arbeitsweisen entgegen (vgl. Hochschild 2002).
Eingezwängt in fremdbestimmte, betriebliche kontrollierte Grenzen beschränkt
sich die Autonomie allerdings auf einen engen Bereich des für die
Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens Förderlichen oder am Markt Verwertbaren.
Damit sind Beschäftigte gezwungen, Flexibilitäts- und Effizienzanschauungen,
unternehmerisches Denken in ihre eigenen Denk- und Handlungsmuster zu
internalisieren. Die weitgehende Flexibilisierung durch permanente Veränderung,
ungesicherte Beschäftigung und freiberufliche bzw. selbstständige Existenzen
produziert eine allgemeine Prekarisierung von Arbeit und Leben: frei, flexibel,
fertig von der Arbeit. Die neuen Anforderungen zeigen sich in
Managementratgebern und Unternehmenskulturen, in Arbeitsplatzbeschreibungen und
der Umstrukturierung von Arbeitsplätzen: flache Hierarchien, Vertrauensarbeit, Job-Familien,
atmende Fabrik und all die Zauberworte, die die Flexibilisierung der
Arbeitenden in Lohn und Arbeitszeit, Stress und Qualifizierung anpeilen.
Dem neoliberalen Kapitalismus ist es gelungen, kritische Aktivitäten zu
entwaffnen - gerade solche, die aus dem künstlerischen Milieu stammten, indem
sie diese von grundlegender Kapitalismuskritik ablösen (vgl.
Boltanski/Chiapello 2006). Die Kulturschaffenden werden geradezu als ›role
models‹ für die neuen Formen von selbstbestimmter und selbstverantwortlicher
Arbeit propagiert, und ihr spezifisches Arbeiten wird zum Erfolgsrezept für den
gesamten Arbeitsmarkt erklärt (vgl. Böhmler/Scheiffle 2005): Prekarität und
Innovation werden im ideologischen Bild des brotlosen Künstlers als notwendige
Zwillinge aufgerufen - von oben und unten. Solange der häufige Wechsel der
Position oder Stelle, auch zwischen Arbeitslosigkeit, Selbständigkeit,
Beschäftigung subjektiv als Chancen wahrgenommen werden, als im-Spiel-bleiben,
die Hoffnung erhalten wird, obwohl es sich in der Regel nur um „mehrdeutige
Seitwärtsbewegungen" (Sennett) handelt, wird daran festgehalten.
Auffallen und kreativ sein, aber im Rahmen des Geforderten bleiben: Es herrscht
geradezu ein konformistischer Druck, Non-KonformistIn zu sein (vgl. Barfuss 2003).
Die neue Lebensweise erfordert auch ein neues Selbstmanagement der Gefühle. Sie
müssen zum Handeln unter fremd gesetzten Zielen befähigen, sind Teil von
Selbstinstrumentalisierungen, die die geforderten Haltungen - aktiv, kreativ,
demütig - bereitstellen können. Es geht weniger darum, feststehende Ziele und
Verhaltensweisen zu oktroyieren, als vielmehr die Subjekte zu mobilisieren,
sich die von anderen definierten Probleme selbständig zu eigen zu machen bzw.
selbst aus den sachlichen Gegebenheiten abzuleiten, ihre Kreativität und
Individualität in diese Prozesse einzubringen und eigenständig
Verwertungsmöglichkeiten zu eröffnen (ausführlich: Kaindl 2008).
Das „psycho-physische
Gleichgewicht" (Gramsci, Gef. 9, 2087) wird durch eine intensivierte Kultur des
Marktes und Formen der Selbstverwirklichung durch Konsum einer wunderbaren
globalen Welt der Warenästhetik stabilisiert. Immer neue Bereiche werden warenförmig
und warenästhetisch organisiert: vom Alltagsleben über öffentliche Dienste,
Gesundheit und Bildung, Körper und Gene, die Psyche bis hin zur natürlichen
Umwelt. Wer dem Druck der Konkurrenz und der Anpassung in der Arbeitswelt nicht
standhalten kann, hat die Möglichkeit, sich über ein vielfältiges Angebot von
Therapien wieder ›fit‹ machen zu lassen - wenn er/sie es sich leisten kann.
Lohn und Freizeit werden zunehmend zugunsten der individuellen Leistungsfähigkeit,
Beschäftigungsfähigkeit, kurz: zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit
verausgabt.
3. Die ›Rückseite‹ der
Selbstverwirklichungsaufrufe ist die materielle Gewalt, die sie in den
Arbeitsverhältnissen und den Sozialstaatsreformen annehmen, und die
gesellschaftliche Ungleichheit, die hinter der Rhetorik der Entscheidung
verschwindet. Wer die neuen Subjektanforderungen zu realisieren versucht, sieht
sich einer strukturellen Endlosigkeit gegenüber - und damit Erschöpfung und
Erschöpfungsdepression. Denn die Rhetorik von Aktivierung und Entscheidung legt
nahe, dass mangelnder Erfolg nicht auf strukturelle gesellschaftliche Probleme,
sondern auf individuelles Ungenügen zurückzuführen ist. Werden die
personalisierenden Nahelegungen in die eigenen Sichtweisen übernommen, gehen
die Aktivierungsforderungen leicht in die Selbstbezichtigungen über, die für
Depressionen typisch sind (vgl. Steinrücke 2005)
Aber die neuen
Produktivkräfte erschöpfen sich: Von Kapitalseite erfolgt ein Rückbau von
Autonomiespielräumen, Verschärfung von Kontrolle, Intensivierung und
Prekarisierung der Arbeit sowie Überausbeutung. Auf Seite der Lohnabhängigen führt
dies zu breiter Demotivierung, sowohl durch die ›Selbstausbeutung‹ als auch
durch die engen Grenzen der betrieblichen Vorgaben und Despotismus (v.a. im
Niedriglohnsektor) oder mangelnde Perspektiven. Dies bedeutet vielfach
Verunsicherung, burn out, Erschöpfung, mangelnde Requalifizierung. Im Ergebnis liegt die
Arbeitsproduktivität in den letzten zehn Jahren - trotz New Economy Boom - in
Deutschland unter 2%, fluktuiert meist um 1%. Die Kapitalproduktivität
entwickelt sich noch schlechter: Seit der Krise 2000/2001 fiel sie bis aufs
Niveau von 1979. Die Potenziale der neuen Produktivkräfte lassen sich unter den
neoliberalen Produktionsverhältnissen nicht weiter realisieren.
Dies ist nur eine Seite
der Krise der Akkumulation: Die spekulative Blase, die 1997/98 zu den Krisen in
Asien, Lateinamerika und Russland führte, hatte als reale Grundlage noch die
Ausdehnung der Akkumulation in neue Verwertungsräume. Die dot.com-Blase
finanzierte die Entwicklung und Verbreitung und Verwertung der
Internet-Technologien, bevor die ›Übertreibungen‹ 2001 korrigiert wurden. Die
Immobilien- und Kreditblase, die sich 2007ff. entlud, hatte hingegen kaum noch
neue tragfähige Akkumulationsfelder eröffnet, sondern fast ausschließlich die
finanzielle Akkumulation vorangetrieben. Bei sinkender Wirtschaftsleistung können
nach Krisen das vorherige Niveau kaum erreicht werden (vgl. Cerra/Saxena 2007,
16). Der Mythos ökonomischer Erholung bringt es mit sich, dass steigende
Renditen nur noch durch fortwährende Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen,
des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale realisierbar
sind, während immer größere Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit, der öffentlichen
Infrastrukturen, der sozialen Dienste austrocknen.
Vom Neoliberalismus ist
weder ein neuer Akkumulationsschub, noch ein neuer gesellschaftlicher Konsens
zu erwarten. Doch seine Institutionen werden noch lange fort wirken (ähnlich
wie nach dem Ende des Fordismus). Darüber vertiefen sich Widersprüche,
unterschiedliche Fraktionen des Machtblocks treiben in verschiedene Richtungen.
Restaurative Kräfte, die den Staat zur Wiederherstellung der alten Ordnung
nutzen, seine Finanzen ausplündern wollen, greifen ineinander mit
reformerischen Initiativen, die deutlich über den status quo ante hinausgehen
(ausführlich Candeias 2009). So sehr die Krise bei den erschöpften Subjekten
Passivität und strukturkonservatives Denken befördert, herrscht doch ein
verbreitetes Unbehagen und Wissen darüber, dass es so nicht weitergehen wird
oder kann - es ist absehbar, wer für die Krise zahlen, für den Abbau der
Staatsschulden aufkommen, noch härter Arbeiten muss. Die Subjektivitäten können
in Bewegung geraten - das ›Regime‹ ist gestört.
Hier kann vielleicht
ein Ansatzpunkt liegen, um die neoliberalen Versprechen von Selbstbestimmung
subversiv und widerständig zu wenden und danach zu fragen, was denn soziale und
gesellschaftliche Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sein könnten.
Kämpfe könnten darum geführt werden, die Produktivitätsaufrufe dem Markt zu entwinden,
die Kooperationsaufrufe dem Wettbewerb und die Emotionen der
Selbst-Mobilisierung - darin könnten sich Perspektiven auf ein neues Verständnis
von Glück eröffnen, das nur Ergebnis von vielfältiger und kollektiver
Selbstaktivierung sein kann.
Dieser Text erscheint in BILDPUNKT. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien,
Frühling 2010 „Regimestörungen".
Literatur
Barfuss, Thomas (2003), Ironische Handlungsfähigkeit
zwischen Subversion und Anpassung, in: Das Argument 252, 45.Jg., 707-21.
Böhmler, Daniela, u. Peter Scheiffele (2005), Überlebenskunst in einer
Kultur der Selbstverwertung, in: F.Schultheis u. K.Schulz (Hg.), Gesellschaft
mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz, 422-45.
Boltanski, Luc u. Eve Chiapello (2006), Der neue Geist des
Kapitalismus, Konstanz.
ders. (2009), Die letzte Konjunktur. Organische Krise und ›postneoliberale‹ Tendenzen, in: ders., Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen Produktions- und Lebensweise, Argument, Berlin-Hamburg 2004, verb. Neuauflage 2009, 23-32.
Cerra, Valerie, u. Sweta Charman Saxena (2007), Growth dynamics: the myth of economic recovery, BIZ Working Papers Nr. 226, Basel.
Ehrenberg, Alain (2004), Das erschöpfte Selbst - Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M.
Gramsci, Antonio, (1991ff.), Gefängnishefte, 10 Bd., hgg. v. W.F.Haug u.a., Berlin/Hamburg.
Haug, Wolfgang Fritz (2001), Hight-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, Berlin/Hamburg.
Hochschild, Arlie Russel (2002), Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden.
Kaindl, Christina (2008), Emotionale Mobilmachung: Man muss lange üben, bis man für Geld was fühlt, in: L.Huck, C.Kaindl, V.Lux, Th.Pappritz, u. M.Zander (Hg.), „Abstrakt negiert ist halb kapiert" - Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft, Marburg, 65-86.
Lipietz, Alain (1985), Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise. Einige methodische Überlegungen zum Begriff der Regulation, in: Prokla 58, 15. Jg., 109-37.
ders. (1987), Mirage and Miracles. The Crisis of Global Fordism, London
Steinrücke, Margarete (2005), Soziales Elend als psychisches Elend, in: F.Schultheis u. K.Schulz (Hg.), Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz, 198-208.