Vergessen gemachte Utopien

Anarchistisches Schreiben im Spanien der 1920er- und 1930er-Jahre

Geht es nach Umberto Eco, ist ein aktives Vergessen eine Sache der Unmöglichkeit. Seine Überlegungen zur ars oblivionalis halten klar fest: Bewusste Techniken des Vergessens gibt es nicht; das Vergessen ist viel mehr ein Resultat „natürlicher Ereignisse“. Dennoch zeigt sich mit Blick auf so manche kulturelle Bewegung, die heute nur mehr wenigen bekannt ist, der Aspekt der Vorsätzlichkeit. Das Vergessen-machen ist schließlich eine politische Strategie und eine Manifestation der Macht über das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Wissen.

Auch der spanische Faschismus war darum bemüht, die Spuren des Widerstandes vergessen zu machen. Dazu zählten mitunter die Errungenschaften des Anarchismus, der eine befreite Gesellschaft jenseits staatlicher und kirchlicher Mächte anstrebte. Die Erfolge, die die anarchistische Bewegung bis Francos Machtübernahme feierte, waren vielfältig – dazu gehörte die Gründung von Reformschulen, anarchosyndikalistischen Vereinigungen und eigenen Presseorganen. Parallel dazu gab es eine Reihe unrealisierter Projekte, die nicht zuletzt in der Literatur ihren Niederschlag fanden. In vergessengelaubten Schriftstücken wurden Utopien der Freiheit entworfen, die kaum besser die Zukunftsvisionen des Anarchismus zum Ausdruck bringen könnten.

Besonderes Potenzial für visionäre Gesellschaftsentwürfe und utopisch-gestaltende Literatur bot die Romanserie La Novela Ideal. Diese wurde als Beilage der bekanntesten anarchistischen Zeitung Spaniens, der Revista Blanca, in den Jahren von 1925 bis 1938 verbreitet. Befördert durch ihre hohe Auflage wurden die kurzen Romane landesweit gelesen. In Heftform gedruckt, glichen sie dem Groschenroman und verfolgten mit Erzählungen in einfacher Sprache das Ziel der Politisierung und Alphabetisierung der breiten Landbevölkerung. Zudem boten die Hefte einer Vielzahl von Autor*innen die Möglichkeit, ihre Ideen, ihr Begehren und ihre Kritik in populär-literarischen Schriftstücken zu artikulieren.

Doch wie imaginierten anarchistische Autor*innen eine zukünftige Gesellschaft? Allem voran galt das Postulat der Freiheit, das gepaart mit dem Prinzip der Solidarität vielfach anhand von alternativen Familien- und Beziehungsmodellen verhandelt wurde. Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, zwischen Freund*innen oder Praktizierenden der Freien Liebe dienten der Novela Ideal, um anarchistische Ideen lebensnahe und gestaltungsinklusiv zu diskutieren. Die freie Gesellschaft sollte schließlich nicht in abgehobenen Theoriediskursen herbeigedacht werden, sie sollte in persönlichen Beziehungen praktiziert und auf diese Weise stetig erweitert werden. In Form von Dramen, Komödien, fabelhaften Erzählungen oder Kriminalgeschichten entwarfen die Autor*innen Orte und Formen des Zusammenlebens, Beziehungskonstellationen und Gemeinschaftsmodelle. Sie gestalteten eine anarchistische Zukunft, die in ihrer vom aufstrebenden Faschismus dominierten Gegenwart so manchem utopisch schien, doch ihrem politischen Handeln Antrieb verlieh. 
Das gemachte Vergessen einer anarchistischen Vergangenheit, Kultur und Literatur durch den Franquismus bedeutete also zugleich das Vergessen der Möglichkeit einer freien Zukunft.



Christina Wieder ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Wien.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 69, Frühjahr 2024, „Gemachtes Vergessen“.