Die Erinnerung der extremen Rechten und ihr Kampf für das Vergessen

Eine Reflexion zum 50. Jahrestag des Militärputsches in Chile

Die extreme Rechte torpediert die Errungenschaften emanzipatorischer Erinnerungspolitiken: Über die Politiken des Vergessens der Verbrechen der Militärdiktatur in Chile. 


Nur zwei Tage vor den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Staatsstreichs, der eine blutige zivil-militärische Diktatur in Chile einleitete, hatte ich Gelegenheit, an einer der beunruhigendsten Veranstaltungen teilzunehmen, die ich je erlebt habe.[1] Eine Gruppe von etwa 150 Personen versammelte sich auf der Hauptstraße von Santiago und nur wenige Meter vom Palast La Moneda entfernt, um, wie sie sagten, „50 Jahre Freiheit“ von der sozialistischen Regierung von Salvador Allende und der Unidad Popular, der linken Koalition, die sie unterstützte, zu feiern. Die chilenische Gesellschaft bereitete sich damals auf einen wichtigen Jahrestag der Ereignisse von 1973 vor, dem Beginn eines Regimes, das mehr als dreitausend Chilen:innen ermordete und verschwinden ließ, mehr als 40.000 folterte und das sozioökonomische System des Landes radikal umgestaltete. Dies ist der Kontext, in dem diese Gruppe von Menschen mitten auf der Straße zwei große Fahnen mit dem Porträt des Diktators Augusto Pinochet schwenkte. Ich konnte einige Leute sehen, die kleine Statuetten mit Pinochets Büste bei sich trugen oder T-Shirts mit seinem Konterfei trugen. Außerdem gab es in der Mitte der Gruppe einige Stände, an denen Plakate, Anstecknadeln und Schlüsselanhänger mit Botschaften verkauft wurden, die an eine Erinnerung erinnerten, die mehrere Jahre lang nicht Teil des öffentlichen Lebens gewesen war. 

Die Protagonist:innen dieser kleinen, aber bedeutenden Kundgebung waren Mitglieder oder Sympathisant:innen einer der rechtsextremen Gruppen, die sich in den letzten Jahren in Chile gegründet haben: Team Patriota. Dieser Gruppe ist es gelungen, etwas in den öffentlichen Raum zu bringen, das wie ein eigenes kulturelles Gedächtnis erscheint, das nicht nur versucht, das Erinnern an die Verbrechen der Militärdiktatur zu verleugnen oder zum Schweigen zu bringen, sondern das auch einen eigenen Vorschlag für eine Gedenkstätte unterbreitet. Wie alle Gruppen, die sich mobilisieren, brauchen die rechtsextremen Gruppen das kulturelle Gedächtnis, um sich zu legitimieren und um ihre Kontinuität zu sichern. Besorgniserregend ist, dass diese unbequeme Erinnerung in der öffentlichen Meinung parallel zum Vormarsch der Konservativen in der politischen Arena an Boden gewonnen hat. 

Der konservative Vormarsch, den Lateinamerika heute erlebt, mit emblematischen Fällen wie der Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien und dem jüngsten Triumph von Javier Milei in Argentinien, hat sich in Chile in verschiedenen Bereichen, wie der politischen und kulturellen Sphäre, öffentlich manifestiert. Dieser Aufstieg in die Öffentlichkeit kann auch als Reaktion auf die massiven und gewalttätigen Demonstrationen gelesen werden, die Chile zwischen Oktober 2019 und März 2020 erschütterten und die von der Regierung des rechtsgerichteten Präsidenten Sebastián Piñera mit aller Härte unterdrückt wurden. Dabei kamen 31 Menschen ums Leben, mehr als 250 Menschen erlitten Augenverletzungen[2] aufgrund des Einsatzes von Gummigeschossen durch die Polizei, und es gab mehr als 3.000 Anzeigen wegen polizeilicher Misshandlungen, einschließlich Folter und Erniedrigung. [3]

Bei dieser Protestwelle wurden zahlreiche Forderungen erhoben, wie z. B. Änderungen im Renten- und Gesundheitssystem, ein Ende der polizeilichen Repression und die Ablösung der 1980 während der Militärdiktatur verabschiedeten Verfassung. Die konservative Antwort auf diese Demonstrationen bestand darin, sie als kriminelle, gewalttätige und barbarische Akte zu brandmarken, wobei die Notwendigkeit der Ordnung hervorgehoben und der Menschenrechtsdiskurs scharf kritisiert wurde, der aus Sicht der extremen Rechten das Vorgehen der Polizei behinderte. Dieser soziale Aufbruch löste eine Gegenbewegung aus, insbesondere in der öffentlichen Meinung, die die Verbreitung konservativer Ideen verstärkte.

Vor diesem Hintergrund hat die extreme Rechte auf der Ebene der Wahlen im letzten Wahlzyklus in Chile sehr gute Ergebnisse erzielt. Das gilt insbesondere für die Republikanische Partei, eine politische Gruppierung, die ihre Sympathie für Augusto Pinochet und ihre Unterstützung für das Projekt der zivil-militärischen Diktatur offen zur Schau gestellt hat. Der Führer dieser Partei, José Antonio Kast, Sohn eines deutschen Einwanderers, der Mitglied der NSdAP war, [4] gewann die erste Runde der Präsidentschaftswahlen mit 28 % der Stimmen und erhielt 44 % der Stimmen in der zweiten Runde dieser Wahl, aus der der derzeitige Präsident Gabriel Boric als Sieger hervorging.
Dieses Ergebnis war insofern erstaunlich, als Kast die extreme Rechte vertrat und nicht die traditionelle Rechte, die in der Vergangenheit bei Präsidentschaftswahlen in Chile angetreten war. Einige Monate später überraschte die Republikanische Partei bei den Wahlen zur Bildung eines Verfassungsrates erneut, der mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs betraut werden sollte – eine der Forderungen der sozialen Bewegung. Diesmal wurden von den 50 zu vergebenden Sitzen 23 republikanische Kandidaten gewählt. Der Vormarsch der extremen Rechten bei den Wahlen war nicht mehr wegzudiskutieren.
Parallel zum politischen Durchbruch bei den Wahlen gab es, vielleicht weniger spürbar, einen kulturellen Einbruch konservativer Elemente, die in der Presse, auf der Straße oder in den sozialen Netzwerken als eine Reihe von Diskursen oder Aktionen in Umlauf gebracht wurden, die die Ordnung, den Status quo und die Sicherheit verherrlichen.
Das kulturelle Gedächtnis dieser Sektoren wurde auch durch öffentliche Demonstrationen im realen und virtuellen Raum gestärkt. Die Schaffung eines eigenen Gedächtnisses geht über den Negationismus hinaus, indem Figuren und Bedeutungen wiederbelebt werden, die die Welt des Militärs repräsentieren und nationalistische und patriarchale Vorstellungen verstärken, während die von Aktivist:innen unermüdlich geleistete Erinnerungsarbeit für die Opfer der Militärdiktatur in Frage gestellt wird.

Diese Erinnerungen wurden in der Zeit des Gedenkens an den 50. Jahrestag des Staatsstreichs verstärkt. Zum einen kehrte die „Erinnerung an die Erlösung“ [5] in die öffentliche Debatte zurück, die auf die Erfahrung der Befreiung vom „marxistischen Krebsgeschwür“ anspielt, für das Allende stand. Diese Erinnerung dient dazu, den Zusammenbruch der Demokratie als unvermeidliche und daher nicht zu verurteilende Handlung zu rechtfertigen. Aus dieser Sicht hat das Militär 1973 gehandelt, um einen noch größeren institutionellen und politischen Zusammenbruch zu verhindern. In jüngster Zeit wird dieses Erinnerungsschema in den Medien wieder aufgegriffen und von den Aktivist:innen der Unabhängigen Demokratischen Union, einer der rechten Parteien, die offen ihre Verbundenheit mit Pinochet und seinem Erbe bekundet, verstärkt. 
Die „Erinnerung an die Erlösung“ hatte zur Folge, dass die Berichte der in Chile durchgeführten Wahrheitskommissionen[6] in Frage gestellt wurden, die bis vor Kurzem noch so etwas wie ein gesellschaftlicher Minimalkonsens gewesen waren. Obwohl der 1991 veröffentlichte Rettig-Bericht, der offiziell die Ermordung bzw. das gewaltsame Verschwindenlassen von mehr als dreitausend Menschen feststellte, nach seiner Veröffentlichung auf heftige Einwände gestoßen war, hatte er sich im Laufe der Jahrzehnte als Wahrheit etablieren können. Doch im Jahr 2023 stellte die Kongressabgeordnete Gloria Naveillán, die ursprünglich der Republikanischen Partei angehörte, die Existenz der sexuellen Gewalt in Frage, die auch in den Berichten der Wahrheitskommissionen beschrieben wurde, und erklärte, es handele sich dabei lediglich um eine „urbane Legende“ [7]

In dieser Zeit tauchte auch eine Erinnerung auf, die die Demonstrationen von 2019 und 2020, den sogenannten sozialen Aufbruch, verurteilte und eine Vision dieses bedeutenden Ereignisses als „kriminellen Ausbruch“ und ein Phänomen förderte, das hauptsächlich durch die Gewalt der Demonstrant:innen gekennzeichnet gewesen sei. Dies verschließt jede Möglichkeit, diesen Moment in der Geschichte Chiles als transformatives Ereignis zu verstehen, und schließt die Diskussion über die sozialen Forderungen aus, die damals erhoben wurden. Unter anderem werden die Anklagen gegen die außergewöhnliche polizeiliche Repression und die Forderung nach Garantien in Frage gestellt, dass diese sich nicht wiederholt. Diese rechtsextreme Erinnerung stellt nicht nur die Legitimität des sozialen Protests in Frage, sondern untergräbt auch die Bedeutung des „Nie wieder“. 
Diese radikalen Erinnerungen haben an Bekanntheit gewonnen und sich verstärkt und gefährden die Fortschritte, die unter großen Mühen und Anstrengungen von den Organisationen der Angehörigen der Opfer sowohl der Militärdiktatur als auch des sozialen Aufbruchs in Chile erzielt wurden, deren Erinnerungsprojekte sich nach und nach durch Mahnmale, Straßennamen, Gedenksteine und Gedenkstätten in den öffentlichen Raum eingeschrieben haben und ein kulturelles Gedächtnis bilden, das den neuen Generationen hat zeigen können, dass sich die vom Staat begangenen Brutalitäten niemals wiederholen dürfen. Der Vormarsch des rechtsextremen Gedenkens und der Gruppen, die es fördern, gefährdet jedoch diese Bemühungen und normalisiert die Tatsache, dass das Bild Pinochets ohne rechtliche Folgen oder Sanktionen mitten auf der Alameda aufgehängt werden kann – nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem Allende sein Leben verlor.


Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.


Manuela Badilla Rajevic ist Assistenz-Profesorin an der School of Psychology der Pontificia Universidad Católica de Chile.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 69, Frühjahr 2024, „Gemachtes Vergessen“.

 


 

[1] Ich danke Fondecyt Postdoctorado und COES ANID/FONDAP für die Unterstützung bei der Forschung, die diese Überlegungen beflügelt haben. Ich bin Valentina Infante sehr dankbar für die gemeinsamen Fortschritte im Hinblick auf die Überlegungen zum konservativen Gedächtnis, und für die unschätzbare Hilfe von Gabriela Abarca.

[2] Mehr dazu: https://www.nature.com/articles/s41433-020-01146-w, auf Deutsch vgl. etwa https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/chile-protest-polizei-gewalt-menschenrechte

 

[3] Siehe den Bericht des nationalen Instituts für Menschenrechte (Instituto Nacional de Derechos Humanos): https://www.indh.cl/indh-entrega-balance-a-un-ano-de-la-crisis-social/#

[4] Vgl. https://elpais.com/internacional/2021-12-09/una-investigacion-prueba-que-el-padre-del-candidato-chileno-jose-antonio-kast-fue-miembro-del-partido-nazi.html, auf Deutsch vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/José_Antonio_Kast

 

[5] Vgl. Steve Stern (2006). Battling for Hearts and Minds: Memory Struggles in Pinochet’s Chile, 1973–1988Duke University Press. 

[6] Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación. 1991. Informe de La Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación (Informe Rettig); Comisión Nacional Sobre Prisión Política y Tortura. 2004. Informe de La Comisión Nacional Sobre Prisión Política y Tortura (Informe Valech).

[7] Vgl. https://www.cooperativa.cl/noticias/pais/dd-hh/diputada-naveillan-y-violencia-sexual-de-la-dictadura-es-parte-de-la/2023-08-23/160629.html.