75 Jahre Grundgesetz - 75 Jahre NATO

Eine Zeitreise

2009 wagte der marxistische Historiker Eric J. Hobsbawm (1917-2012) in seinem letzten deutschen Interview eine Zukunftsprognose, die unseren Autor Gerhard Schäfer seit seiner ersten Lektüre beschäftigt: "Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns […[ auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde - zwischen den USA und China."1 2009 - seine Vorhersage damals für ihn fast unvorstellbar, 2024 wieder gelesen - erschrocken, wie recht er behalten hat.

Die meisten Kriege der Gegenwart haben den mehr oder weniger vermittelten Charakter eines Stellvertreter- oder Vor-Kriegs zu der großen, von Hobsbawm benannten Neuauflage des Kalten Krieges zwischen den USA und China. Sie werden sich fragen, was hat das mit uns zu tun? Eine Menge, denn NATO, Europäische Union und die USA sind in fast jeden dieser Kriege "verwickelt" oder mischen mit Geheimdienstoperationen, privaten Söldnerheeren, Waffenexporten, militärischer Ausbildung bei uns oder vor Ort mit, und immer wieder werden diese Kriege - verharmlosend "Konflikte" genannt - von den Herrschenden mit ideologischen Zauberformeln, manchmal auch mit dreisten Lügen oder Halbwahrheiten umgarnt.

Wie kommt es, dass wir 80 Jahre nach dem 2. Weltkrieg und 75 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes uns der Ausgangssituation des 8. Mai 1945 erinnern müssen, um unsere gegenwärtige, brandgefährliche Lage einschätzen zu können?

Von der Befreiung vom Faschismus zum Grundgesetz

Die antifaschistisch-demokratischen Kräfte plädierten mit unterschiedlichen Akzenten für das Motto: "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!" Die Nähe der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD ergab sich aus ihrer weitgehenden Übereinstimmung in Richtung auf Sozialismus, Demokratisierung und internationaler Völkerverständigung. Im Sommer 1945 hatte der Berliner Aufruf der "Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" unter Einschluss von CDU und LDPD ausdrücklich die bürgerlich-demokratischen Kräfte einbezogen, die in der Krieg-Frieden-Frage ähnlich dachten. Typisch für diese Konstellation ist die Stellungnahme Konrad Adenauers - dem Vertrauensmann des rheinischen Industrie- und Bankkapitals - aus einem Leserbrief an das Neue Deutschland vom 14. Juni 1946, der sich gezwungen sah zuzugestehen, "daß man den Kampf gegen den Militarismus nicht zugunsten des Kampfes gegen Trusts und Konzerne oder Großkapital zurückstellen sollte. Das Großkapital ist zur Zeit in Deutschland erledigt, der militaristische Gedanke aber noch keineswegs."2 Wie selbstverständlich bildeten sich Koalitionen aus SPD, KPD und bürgerlichen Parteien in der ersten Nachkriegsphase, wie in Hamburg und in Niedersachsen, auch in Frankreich und Italien, unter dem Einfluss von Résistance und Resistenza, meistens bis zur vollen Durchsetzung des Kalten Krieges (1948).

Wie auf allen Seiten des politischen Spektrums (mit Ausnahme von FDP und DP) der Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus bekannt war (auch im "Ahlener Programm" der CDU vom 3.2.1947), so war der Antifaschismus bei den Regierenden in den Arbeiterparteien lebendig: In Hessen z.B. saßen mehrere KZ-Häftlinge unterschiedlicher Parteien in der Landesregierung: Hermann Brill, SPD (KZ Buchenwald), Werner Hilpert, CDU (KZ Buchenwald) und Oskar Müller, KPD (KZ Dachau). Diese Erfahrungen schlugen sich in der Hessischen Verfassung nieder - mit dem Verbot der Aussperrung in Art. 29,5 und dem Sozialisierungsartikel 41. Reste dieses antifaschistisch-demokratisch-sozialistischen Grundkonsenses finden sich noch in den über die Diskussionen des Parlamentarischen Rats in das Grundgesetz eingeflossenen Art. 15: "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden." Der Marburger Politikwissenschaftler und Verfassungsjurist Wolfgang Abendroth (1906-1985) hat diese historisch-soziologische Ausgangssituation des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und dann des Parlamentarischen Rates als Klassenkompromiss gedeutet: Parteipolitisch entsprachen dem auf der Seite der privatkapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung die FDP, die DP und Teile der CDU und CSU, während die Kräfte der Demokratisierung und Sozialisierung sich auf die Parteien von KPD, SPD, Zentrum und den linken Flügel der CDU und teils der CSU stützen konnten.3

Im "Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald" vom 13.4.1945 war das "Nie wieder Faschismus" mit dem Motto "Nie wieder Krieg" aufs Engste miteinander verknüpft worden. Es waren ja alles die Urgroßväter und Großväter der heutigen Sozialdemokratie, die damals dafür geworben hatten, dass "durch Abtragung einer festbestimmten Wiedergutmachungsschuld eine neue Atmosphäre des Vertrauens zu Deutschland geschaffen wird. Die deutsche Jugend wird verstehen, daß es besser ist, für den Frieden Opfer zu bringen, als im Kriege bei noch größeren sinnlosen Opfern das Leben zu verlieren." Und sie fuhren in ihrem Text mit großer Eindringlichkeit fort: "Wir wollen nie wieder Krieg. Wir werden alles tun, um einen neuen Krieg unmöglich zu machen." Die Formulierungen des "Buchenwalder Manifests" nehmen eine Diktion vorweg, die bis in den 2+4-Vertrag vom 12.9.1990 identifizierbar ist, wenn in der Präambel vom "Verhältnis des Vertrauens und der Zusammenarbeit" gesprochen und im Art. 2 erklärt wird, "daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird"4.

Wendet man sich von der Innenpolitik der vier Besatzungszonen der Außenpolitik und den internationalen Beziehungen zu, so stellt man fest, dass sich der Zerfall der Anti-Hitler-Koalition dramatisch beschleunigte. Auch wenn die großen drei: Stalin (SU) - Truman (USA) - Churchill/Attlee (GB) äußerlich mit der Potsdamer Konferenz (17.7.-2.8.1945) und dem Potsdamer Abkommen relative Einigkeit demonstrierten, war schon am Tag vor dem Beginn der Konferenz (erfolgreicher Atombombentest der USA in New Mexico) die Dramatik der Nachkriegssituation evident. Die USA war die weltpolitische Führungsmacht des kapitalistischen Lagers und Präsident Truman, mit Kriegsminister Stimson und Außenminister Byrnes Repräsentant der Falken in der US-Administration, war entschlossen, die Atombombe in der sich ankündigenden Systemkonkurrenz einzusetzen und auszunutzen: "to make the Russians more manageable" - insbesondere was die Einflusssphären der UdSSR auf dem Balkan von Polen bis Griechenland anging. Die katastrophalen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 waren keineswegs eine militärische Notwendigkeit zur Kapitulation Japans, sondern die Demonstration des Atomwaffenmonopols im antagonistischen Systemwettbewerb.

75 Jahre Grundgesetz: antifaschistischer-demokratischer-antimilitaristischer Konsens

Damit sind wir beim 75jährigen Jubiläum des Grundgesetzes angelangt, seit dem 3.Oktober 1990 auch für das vereinigte Deutschland gültig. Soviel lässt sich schon jetzt sagen - für die gesamte Periode der Geltung des Grundgesetzes: Stand das Normengefüge dieser Verfassung 1949 rechts von der damaligen Stimmung des Volkes, so stand es bald durchgängig links von der politisch-gesellschaftlichen Realität und ihren Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der Geschichte der Bundesrepublik - bis auf den heutigen Tag.5 Diese Feststellung trifft insbesondere zu, wenn man die bisherigen Grundgesetzänderungen mit Langzeitwirkungen hinzuzieht: so die Wehrverfassung 1955, Notstandsgesetze 1968 oder die Asylrechtsänderung 1992, die allesamt die Einschränkung von Demokratie und Bürgerrechten zugunsten eines autoritären, präventiven Sicherheitsstaates zum Gegenstand haben. Mit der Übernahme des Maastrichter Vertrages vom 7. Februar 1992 hat sich die Verschiebung der Machtkonstellationen zugunsten der Großkonzerne, der Bürokratien, der Sicherheitsapparate und des Militärs noch einmal verschärfend reproduziert. Ich spreche damit nicht gegen den europäischen Gedanken, der in allen Dokumenten des deutschen und europäischen Widerstandes in der Zeit des Faschismus fixiert ist, sondern gegen dessen machtstaatliche Perversion auf supranationaler Ebene. Im Art. 20 steht nichts von einem Rüstungsstaat, auf den wir uns immer mehr zubewegen, sondern wir sind dem Anspruch nach ein Sozialstaat, den es jeden Tag zu verteidigen und weiterzuentwickeln gilt, hier sollten wir an der Seite der Gewerkschaften stehen. Zugleich geht es darum, die - auch durch Corona mitverstärkte - Einschränkung des Meinungsspielraums rückgängig zu machen, denn "liberty dies by inches". Am Ende könnten SPD und Grüne selbst einmal Opfer des von ihnen gegenüber der Friedensbewegung praktizierten Demokratieabbaus werden.

Auch wenn das GG im Kern eine bürgerlich-kapitalistische Verfassung ist (Art.14: Eigentumsrecht als Grundrecht und Sozialbindung in Abs.2), lassen sich doch eine Reihe von fortschrittlichen Elementen ausmachen, die wir unbedingt verteidigen müssen. Ich unterscheide drei zentrale Kernbestände, die von den ökonomisch und politisch Herrschenden in der Verfassungswirklichkeit der BRD immer bedroht sind:

Das antifaschistische Motiv:

Art.1, 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." - diese Formulierung ist die Antwort auf den menschenverachtenden und -vernichtenden Faschismus. Sie ist auch unser gegenwärtiger Kompass für die Beurteilung von Kriegen, Kriegsursachen, Kriegsverhütung und Kriegsfolgen (Ukraine, Gaza, u.a.). Art.139: Die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt - das betrifft die alliierten Nachkriegsbestimmungen, insbesondere die vier Ds des Potsdamer Abkommens (Denazification, Demilitarization, Decartellization - Demokratisierung) und das Strafrecht - beim öffentlichen Zeigen von NS Symbolen etc. Während es in einigen Landesverfassungen die Pflicht zum Widerstand bei Bruch der Verfassung gibt (Hess. Verf.), ist das Grundgesetz in Art.20, 4 zurückhaltender: "wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Die Grund- und Menschenrechte in Art.2-19 und ihr Kerngehalt (Meinungs-, Koalitions- und Asylrecht, u.a.) sind ebenfalls wie Art.1 und Art.20 von jeder Verfassungsänderung ausgenommen (siehe Art.79,3: Unabänderlichkeitsklausel).

Für alle Widerständler und aufrechte DemokratInnen, die es Ernst meinten mit der Umkehr, war das GG ein wichtiger antifaschistischer Bezugspunkt. Allerdings haben wir den Art.131, der im Kern die ökonomisch-soziale Gleichstellung der Entlassenen und Flüchtlinge (der Beamten u.a.) festhielt, der Tausenden von Tätern und Mitläufern die Rückkehr in alte Stellungen ermöglichte. Der Kapitalismus brauchte nicht restauriert zu werden (er blieb, wenn auch mit Nürnberger Blessuren), die personelle Restauration der alten Eliten hat das Weiterleben des NS in der Bundesrepublik nicht nur latent bis in die frühen 1980er belastet. Das gilt auch für die Bundeswehr (Heusinger, Foertsch, Schnez u.a.).

Das Demokratisierungs-Motiv:

Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, ergänzt um Föderalismus und Gewaltenteilung

In Art.20,1: steht der folgenreiche Satz am Anfang: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Das Demokratisierungsprinzip schließt "Wahlen und Abstimmungen" (Abs.2) mit ein , meint nicht nur die Begrenzung auf die Staatsorgane (Parlament etc.) selbst, sondern bezeichnet eine Lebensform in allen Bereichen der Gesellschaft. Alle Staatsorgane, auch und gerade die Rechtsprechung, aber auch die Individuen sind an "Gesetz und Recht" (Abs.3) gebunden. Die Formulierung Gesetz und Recht ist für uns und unsere eigenen Interpretationen wichtig: mit "Recht" ist mehr gemeint, als im Gesetz steht: Prinzipien der Menschenrechte, Völkerrecht, auch das Gewissen des Einzelnen, gestützt auf die Grundrechte (Art.2-Art.19). Wichtig ist, dass der Art. 20 nicht geändert werden kann.

Vor 1968 - als die bislang noch nie angewendeten Notstandsgesetze von der Großen Koalition verabschiedet wurden - war die Demokratie im Sinne der Demokratisierung aller Lebensbereiche neben den Großorganisationen (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Presse) noch ziemlich unentwickelt.

Das antimilitaristische Friedens-Motiv:

Die Verpflichtung auf den inneren und äußeren Frieden beginnt schon programmatisch in der Präambel : "dem Frieden der Welt zu dienen", setzt sich fort im Art. 24, 3 (Recht zum Beitritt in ein kollektives Sicherheitssystem, später der NATO), bis zum Art.25 (Völkerrecht = Bestandteil des Bundesrechts, hat Vorrang vor Bundesgesetzen). Art.26,1 schließlich ist nicht nur wegen des Verbots des Angriffskrieges für die Friedensbewegungen von Bedeutung, sondern bezieht auch das geistige Vorfeld mit ein, zu denken ist an Herrn Kiesewetter, Frau Strack-Zimmermann etc.: Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Wo bleibt die Aufhebung ihrer Immunität als Abgeordnete? Warum traut sich niemand dies zu tun ? Wo bleibt unsere Anzeige - auch wenn das den Staatsanwalt nicht erreicht, aber mediale Publizität erheischen kann?

Dass noch im Wahlkampf des Sommers 1949 F. J. Strauß als Generalsekretär der CSU taktisch gezwungen war zu verkünden, dass demjenigen die Hand abfallen solle, der "noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will"6, lässt Rückschlüsse auf die antimilitaristische Grundstimmung der Bevölkerung zu. Schon am 3.12.1949 hatte Adenauer das erste Mal in einem mit der US-Zeitung Cleveland Plain Dealer von einer deutschen Streitmacht unter europäischem Oberkommando gesprochen. Im Zuge des 1950-1953 tobenden Korea-Krieges, der der deutschen Wirtschaft einen ersten Boom bescherte, folgten die deutschen Konservativen Adenauer (Himmeroder Denkschrift, Oktober 1950) und Strauß der US-Außenpolitik des antikommunistischen "roll back", wobei letzterer gleichzeitig die Parole "Nie wieder Krieg" für überholt erklärte - ausgerechnet am 8.2.1953 auf der Gründungsversammlung des erzreaktionären, militaristischen Kyffhäuserverbandes. Die 1950er Jahre sind das Jahrzehnt, in dem die Soldatenverbände des 3. Reiches und vor allem die Veteranen der Waffen-SS (HIAG) sich alljährlich in Nesselwang, Hameln u.a. nationalistisch und militaristisch gebärdeten und die eigenen Verbrechen beschönigten, bis die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1995 mit einer Fülle von Dokumenten die Mär vom anständigen deutschen Soldaten gründlich dekonstruierte.

Die Bewegung gegen die Wiederaufrüstung ("Ohne uns")7 wurde Anfang der 1950er Jahre von Millionen ArbeiterInnen (Klassenbewusstsein) und aus bürgerlichen Kreisen gestützt - damalige Schätzungen gehen von 70% der Bevölkerung aus.

Trotz all dieser Widerstände aus der Gesellschaft wurde die Wehrverfassung im März 1956 mit Zustimmung der SPD im Bundestag beschlossen (Grundgesetzänderung, Art.87a und 87b). Der ursprüngliche Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) scheiterte an der französischen Nationalversammlung; so fand die Bundesrepublik den Weg zur 1949 von 12 Staaten gegründeten NATO am 5.5.1955 und erhielt dafür eine Teil-Souveränität (die erst 1990 zur Wiederherstellung der vollen Souveränität führte) und damit dem Ende des Besatzungsstatuts seit der "Berliner Erklärung der Siegermächte in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt" vom 5.6.1945. Die Sozialdemokraten blieben auch in der Folge des "Kampfes gegen den Atomtod" im Jahr 1958 bei einer Position des Jein und stellten sich mit der außenpolitischen Grundsatzrede Herbert Wehners am 30.6.1960 auf den Boden der Adenauerschen Politik: Westbindung, Bundeswehr - NATO, damit sind wir schon im letzten Teil über die NATO.

Gegen die von Adenauer und Strauß ins Auge gefasste atomare Ausrüstung der Bundeswehr wurde eine neue Friedensbewegung aktiv: In der ersten Hälfte des Jahres 1958 kam es - überwiegend von den Gewerkschaften mobilisiert - in mehr als der Hälfte aller Großstädte und vielen Klein- und Mittelstädten zu Anti-Atomwaffen-Kundgebungen, die größten in München, Berlin-West und Hamburg.

Neu war: Die Intellektuellen standen nicht mehr vorbehaltlos hinter Adenauer. Am 20.5.1958 beteiligten sich rund 18.000 Studierende in 14 Universitätsstädten an den Aufrufen der studentischen Arbeitskreise gegen die atomare Aufrüstung, allen voran Jürgen Habermas mit seiner Rede "Unruhe erste Bürgerpflicht" in Frankfurt und Ulrike Meinhof in Münster vor 1.500 Studierenden und Professoren auf dem Hindenburgplatz "Für ein kernwaffenfreies Deutschland"8 Die 18 Atomphysiker um Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker hatten in ihrer Erklärung ein Jahr zuvor (12.4.1957) öffentliche Aufmerksamkeit über die Grenzen des Landes hinaus erregt und die Diskussionen maßgeblich befördert.9 Immerhin hatten sie mit ihrer Aktivität erreicht, dass die Adenauer-Regierung ihren Plan einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr aufgeben musste. Dafür haben wir allerdings die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik und die Stationierung von Atombomben mit ausreichend Sprengköpfen in der Pfalz (Ramstein und Büchel). Die Bundesregierung und das Parlament weigern sich nach wie vor, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. Ist es Vasallentreue gegenüber den USA? Ist es militär- und außenpolitisches Kalkül auf dem souveränen Weg zu mehr - doch einmal Atommacht zu werden?

Die Friedensbewegungen der folgenden Jahrzehnte hatten immer neue Anlässe, um auf die Straße zu gehen und vor den Gefahren eines konventionellen und dann atomaren oder gar ABC-Krieges zu warnen. In den 1960ern knüpfte die zunächst kleine Ostermarschbewegung an die Kampf-dem-Atomtod-Bewegung an und verband sich bald mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO)10 in ihrem Protest gegen die Notstandsgesetze, den Vietnam-Krieg, und für die Solidarität mit den nationalen Befreiungsbewegungen vor allem in Afrika. Ende der 70er Jahre kam der Kampf gegen die Neutronenbombe hinzu und die große Friedensbewegung gegen die Folgen des NATO-Nachrüstungsbeschlusses von 1979 auf der Grundlage des "Krefelder Appells" entstand.

Fazit bis in unsere Gegenwart: Das Grundgesetz und seine zentralen Normen und die Absichten der 4 Mütter und 61 Väter des Parlamentarischen Rates müssen immer wieder gegen die Herrschenden und deren Tendenz zur Aushöhlung des Kernbestands bis hin zu den demokratischen Grundrechten verteidigt und das Terrain immer wieder neu erkämpft werden (von der Meinungsfreiheit bis zum Streikrecht). Das gilt, wie wir wissen, für das Friedensgebot des GG an erster Stelle. Wie dringlich der gemeinsame Kampf von Friedens- und Gewerkschaftsbewegung für Frieden und Abrüstung ist, zeigt die Tatsache, dass das 100-Mrd.-"Sondervermögen" für die Bundeswehr und ihre gigantische Aufrüstung mittlerweile - fast unbemerkt - im Grundgesetz verankert worden ist. Bezahlt werden die 100 Mrd. Sonderschulden, wie es korrekterweise heißen müsste, von der großen Mehrheit der Steuern Zahlenden, der abhängig Beschäftigten in der Bundesrepublik. Die Beschäftigten in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Bildung können noch lange auf eine solche Unterstützung warten: Die Prioritätensetzung für Krieg, Aufrüstung, Armee, Sicherheits- und Gewaltapparate in der Bundesrepublik und in Europa ist evident.

Von der Gründung der NATO zum größten Militärbündnis der Welt:

Mit dem Ende der Sowjetunion - exogene Faktoren (der Zwang zum "Totrüsten") und endogene Faktoren (sozialökonomische und soziokulturelle Implosion) verschränkten sich - löste sich der einzige ernstzunehmende Gegenspieler im Kalten Krieg, der Warschauer Pakt, auf, aber anders als Jahrzehnte lang versprochen, blieb die NATO als einzige Weltordnungsmacht übrig. Die Neuordnung der Welt ist seit 1989/91 auf der Tagesordnung und die USA streben die Hegemonie in der Welt an - deshalb die eigentliche Konfrontationslinie mit China. In diesem Prozess sind wir heute, mit verheerenden Kriegen in der Welt und in Europa. Aber warum brauchte die USA sechs Wochen vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ein militärpolitisches Bündnis mit elf anderen westlichen Staaten: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Portugal (immerhin noch halbfaschistisch regiert unter Salazar) und den USA selbst (gegenwärtig sind es 32 mit Schweden und Finnland)?

Im März 1948 hatten einige westeuropäische Staaten ihre Kooperation im Brüsseler Vertrag festgelegt (später WEU), deren gemeinsames Interesse in der Sicherheit vor Deutschland bestand (sie waren alle von den Deutschen 1940 im "Blitzkrieg" überfallen worden). Gleichzeitig waren die USA aus langfristigen ökonomischen Interessen der Kapitalverwertung an einer Sicherheit für West-Deutschland und Westeuropa interessiert. Der Antikommunismus der Südstaatler J. F. Dulles und Lucius D. Clay traf sich mit der innenpolitischen Feinderklärung Adenauers: "Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau" (1953). Gleichzeitig umwarb Adenauer gezielt die rechtssozialdemokratische und nationalistische Führung der SPD in der Frage der westdeutschen Aufrüstung und der Neuaufstellung einer deutschen Armee im NATO-Verbund. Der Brite Lord Ismay, der erste Generalsekretär der NATO zwischen 1952 und 1957, fasste die Funktion der NATO in der dreifachen Aufgabe zusammen: "to keep the Russians out, the Americans in and Germany down."11 Die geostrategische Zielsetzung der USA war zentral auf die aktive Einbindung der BRD in die NATO nicht nur als Bollwerk gegen den Kommunismus, sondern als Verhinderung einer Neutralitäts- oder Brückenkonzeption für Westdeutschland gedacht, was in Teilen der deutschen Öffentlichkeit populär war, um die Einheit Deutschlands zu retten, und gleichzeitig im gut begründeten Sicherheitsinteresse der Sowjetunion lag (Stalin-Note 1952). Die Linke - SPD und KPD - war im Blick auf die Einheit Deutschlands nationaler eingestellt als die CDU Adenauers, die die europäisch-atlantische Einbindung priorisierte. Wiedervereinigung und Neutralität waren Mitte der 1950er Jahre populäre Vorstellungen von links bis rechts12.

Mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO 1955 hatte sich die Mitgliederzahl auf 15 erhöht (1952 bereits: Türkei und Griechenland). Der Militärputsch in der Türkei von 1980 mit 650.000 Festnahmen, etlichen Todesstrafen und Folterpraxis war ebenso wenig ein Hindernis für den Verbleib im westlichen Wertebündnis wie die Militärdiktatur in Griechenland von 1967 bis 1974 mit der Ermordung von Oppositionellen, Verhaftung Tausender und ins Exil Getriebener.13

Die Blutspur der auf ökonomische Ressourcen und auf Hegemonie setzenden kriegerischen Politik lässt sich an den bis in unsere Gegenwart reichenden Kriegen studieren: in Jugoslawien 1999 14, am Krieg gegen den Irak 2003 ff. - die BRD hat sich hier zwar offiziell geweigert, aber gegen die Überflugrechte der USA nichts unternommen, am "War on Terror"-Krieg 2001 gegen Afghanistan mit dem desaströsen Abzug im Sommer 2021 und mindestens 90.000 Toten. Der vorläufig traurigste Höhepunkt ist die Unterstützung der NATO - und der USA und Deutschlands an vorderster Stelle - im Ukraine- und im Gaza-Krieg mit ungeheuer hohen Zahlen an Toten auf allen Seiten und einer ideologischen Einseitigkeit, die jede Mitverantwortung aus der Vorgeschichte besonders des Russland-Ukraine-Krieges leugnet.

Die deutschen Militärs stiegen in der NATO-Hierarchie rasch auf, so z.B. der erste Generalinspekteur Heusinger, der in den 60ern sogar Vorsitzender des NATO-Militärausschusses wurde: Vom Führerbunker ins NATO-Hauptquartier - welch eine Karriere! Ende 1967 wurde im Bericht des belgischen Verteidigungsministers Pierre Harmel die neue Doktrin der NATO verabschiedet, in enger Zusammenarbeit mit dem Außenminister Willy Brandt : militärische Sicherheit/Abschreckung und Entspannung/Verständigung mit den sozialistischen Staaten . Diese Strategie wurde dann mit der Formel von der "flexible response" verknüpft, je nach Angriffsszenario sollte konventionell oder atomar reagiert werden. Das blieb in Zeiten des Kalten Krieges, auch in der schwierigen Phase des Nachrüstungsbeschlusses 1979 der Fall. Die von Kanzler Schmidt entdeckte Raketenlücke führte zur größten Friedensbewegung in der Geschichte der "alten" Bundesrepublik, teilweise auch in der DDR.

Nach dem großen Kladderadatsch 1989-1991 galt zunächst die Maxime, dass die Besatzungstruppen abziehen, das Gebiet der DDR zwar Bundeswehrstandorte haben durfte - aber ohne Stationierung von Atomwaffen der NATO. Trotz gegenteiliger Behauptungen15 galt das mündliche Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, wie die Charta von Paris im November 1990 das Zeitalter des Friedens und der Verständigung verkündete. Der Schein trog allerdings, denn die US-Administration arbeitete an einem folgenreichen Strategiewechsel (Wolfowitz-Doktrin)16, der an Reagans Konzeption der 80er Jahre "Victory is possible" anknüpfte. Die Ideologen des westlichen Sieges beschworen in ihrer Überheblichkeit ganz unhistorisch das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) mit Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie. Dies sollte fortan das Modell für den Rest der Welt werden, inklusive freiem Zugang zu allen Märkten, Seewegen und Rohstoffen - wenn nötig auch mit militärischer Gewalt jenseits des NATO-Verteidigungsgebiets.

Weil das so ist, werden wir Friedensbewegte uns nicht von einer neu-alten Feindbildproduktion verblenden lassen, die da lautet: "Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum"17. Auch wenn der Krieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist, lassen wir uns nicht zu einem neuen "Ritt gen Osten" verführen. Um die brandgefährliche Lage eines nicht auszuschließenden nuklearen Krieges zu entschärfen, ist der Kampf der Friedensbewegungen für das Ende dieses Krieges von zentraler Bedeutung: Nicht erst jetzt ist die Stunde der Diplomatie und der Verständigung - eine neue Phase der Entspannung ist dringender denn je. Dazu gehört eine kritische Diskussion der NATO und ihrer Geschichte, mit dem Ziel, sie eines Tages überflüssig zu machen.

Anmerkungen

1) Eric Hobsbawm 2009: "Es wird Blut fließen, viel Blut". Gespräch mit Volker Hinz, in: Der Stern, 13.5.2009: 6 (Internet-Zugriff vom 12.08.2014).

2) Ossip K. Flechtheim 1973: Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg: 156.

3) Wolfgang Abendroth 1966: Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen: 64.

4) Albrecht Randelzhofer (Hg.) <^>8<^*>1998: Völkerrechtliche Verträge, München: 51f.

5) Sinngemäße Variation nach: Wolfgang Abendroth 1966 (s. Anm. 3): 102.

6) Manfred Behrend 1995: Franz Josef Strauß. Eine politische Biographie, Köln: 23.

7) Fritz Krause 1971: Antimilitaristische Opposition in der BRD 1949-55, Frankfurt/M.: 41 ff.

8) Wolfgang Kraushaar 1996: Die Protest-Chronik 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. Bd.III: 1957-1959, Hamburg: 1899f.

9) Hans Karl Rupp 1970: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung in der BRD, Köln 73ff.

10) Karl A. Otto 1977: Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-1970, Frankfurt/M.-New York.

11) Johannes Varwick 2008: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei, München: 34.

12) Alexander Gallus <^>2<^*>2006: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf.

13) Sevim Dagdelen 2024: Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis, Neu-Isenburg: 13.

14) Heinz Loquai 2000: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg: Die Zeit vom Ende November 1997 bis März 1999, Baden-Baden.

15) Mary Elise Sarotte 2023: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Ost-Erweiterung, München.

16) Sandra Kostner / Stefan Luft (Hg.) 2023: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M..

17) Die Bundesregierung 2023: Nationale Sicherheitsstrategie. Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland, Berlin: 22.

Gerhard Schäfer, Jg. 1949, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Neueren Geschichte und Anglistik in Marburg 1967-73, über 50 Jahre Mitglied in GEW und BdWi, 38 Jahre Lehrer, aktiv in Bremer Friedensforum und Norddeutscher Friedensbewegung; Publikationen im Bereich Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte, Soziologiegeschichte und Intellektuellensoziologie.