Der kürzlich verstorbene Anthropologe und Anarchist David Graeber hatte mit seinem Buch zur Geschichte der Schulden eine weltweit diskutierte und auch umstrittene Studie vorgelegt. Schulden werden darin im Kontext verschiedenster, komplexer Tauschbeziehungen beschrieben und schließlich als „die Perversion eines Versprechens“ definiert, „das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde“. Graeber kritisiert die vorherrschenden Geldtheorien und entwickelt eine beispielreiche Zusammenschau unterschiedlichster Verschuldungsszenarien über die Geschichte hinweg. Während Graeber Schulden mit der Geschichte des Staates und der Militarisierung (und weniger des Kapitalismus) in Verbindung bringt und in ihrer aktuellen Form durchweg negativ bewertet, plädiert die französische Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus für eine andere Bezugnahme auf Schulden. Eine „positive Bedeutung von Schulden“ nämlich gebe es auch, und zwar bestehe sie darin, „die Menschen untereinander zu verbinden und den Blick auf die Zukunft zu richten“. Gerade die Verknüpfung von moralischer Schuld und ökonomischen Schulden erscheint ihr als Möglichkeit, neue Verbindlichkeiten entstehen zu lassen. Das ganze Wortfeld von Verbindung und Verbindlichkeit, Schuld und Schulden, Scham und Verantwortung versucht der umfangreiche, von Thomas Macho herausgegebene Sammelband einzukreisen. Zwar werden Bonds eindeutig als „Fesseln der Zeit“ beschrieben, aber letztlich wird ein „verworrenes Verhältnis zwischen existenzialer, moralischer und ökonomischer Schuld“ konstatiert – „Die Welt ist unlesbar geworden“ (Macho). Insofern ist der Wälzer eine adäquate Lesehilfe. Darin werden zwischen Erinnerungspolitik und Ökonomie, Moraltheorie und Kulturwissenschaften u.a. „asymmetrische Machtverhältnisse“ (Anna Echterhölter) kritisiert und es wird für die „Ausbildung von Verantwortungsgefühl“ (Ulrike Harms) plädiert. Künstlerische Beiträge ergänzen dabei die wissenschaftlichen Betrachtungen. Konkret auf gängige Vorstellungen von Schulden und dem Imperativ des Sparens geht der BEIGEWUM-Band ein. Staatsschulden sind nicht mit privaten Schulden gleichzusetzen und erfordern andere Maßnahmen. Das Buch gibt fundierte Entgegnungen gegenüber falschen, aber weit verbreiteten Annahmen an die Hand. Schließlich wird darin auch klar gegen Sparprogramme und für „Steuererhöhungen in den Bereichen Vermögensbestände, Spitzeneinkommen, Finanzsektor und Ressourcenverbrauch“ geworben. Ähnlich motiviert und aufgebaut ist das Büchlein von Kaufmann und Stützle, wobei hier noch darauf hingewiesen wird, dass die Frage, ob Staatsschulden als positiv oder negativ bewertet werden, immer auf die Frage danach hinauslaufe, „wie gut oder schlecht ist kapitalistisches Wirtschaftswachstum?“ Maurizio Lazzarato sieht in der neoliberalen Politik mit Schulden eine Neuformierung „biopolitische[r] Macht“, die mit der Vermischung von Schulden und Schuld eine individualistische Arbeit am Selbst einfordere. Dabei sei ein „Klima des verallgemeinerten Misstrauens“ erzeugt worden, das Doppelmoral und Zynismus zu den Charaklterika der sozialen Beziehungen gemacht habe.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de
BEIGEWUM: Mythen des Sparens. Antizyklische Alternativen zur Schuldenbremse. Hamburg 2013 (VSA).
David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München 2014 (Goldmann Verlag).
Stephan Kaufmann/ Ingo Stützle: Ist die ganze Welt bald pleite? Populäre Irrtümer über Schulden. Berlin 2015 (Bertz + Fischer Verlag).
Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay ber das neoliberale Leben. Berlin 2012 (b_books).
Thomas Macho (Hg.): Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten. München 2014 (Wilhelm Fink Verlag).
Nathalie Sarthou-Lajus: Lob der Schulden. Berlin 2013 (Wagenbach Verlag).
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (https://igbildendekunst.at/zeitschrift/), Nr. 56, Winter 2020/21, „Zur ästhetischen Ökonomie der Schulden“.