Queere Schulden

in (18.02.2021)

Jacques Derrida macht in seinen Überlegungen zu Zeit, Gabe und Kredit deutlich, dass es Phänomene gibt, die sich dem Tausch, der Dynamik des Gebens und Nehmens und damit der Schuldenökonomie entziehen. Es handelt sich um Phänomene, die weder besessen noch zurückgezahlt und auch nicht erlassen werden können. „Die Zeit, den Tag oder das Leben geben“, so Derrida, „heißt nichts zu geben, jedenfalls nichts Bestimmtes, gegeben wird vielmehr das Geben alles möglichen Gebens, die Bedingungen des Gebens.“[1] Derrida spricht hier von einer Art unendlicher Schulden, bei denen eine Entschuldung nicht möglich ist. Sorge und Schutz, die das Über/Leben ermöglichen, können exzessive Gaben sein, die das ökonomische Schuldenkalkül suspendieren, die Ökonomie der Schulden aufbrechen und das Unmögliche beginnen lassen.[2]
In ähnlicher Weise hat schon Hélène Cixous in den 1970er Jahren vorgeschlagen, die maskulinistische Gabenökonomie und die Asymmetrie des Schuldverhältnisses zu durchbrechen. Eine Gabe zu geben, die keine Rückgabe verlangt, und nicht zurückgegeben werden kann, ist, so Cixous, „ein wirkliches Geben, Schenken der Abfahrt“, abfahren, abheben, weggehen. Eine solche Gabe ohne Rückgabe erlaubt Brüche, Teilungen, Trennungen, „von wo aus man bricht mit dem Auf-sich-Zurückkommen, mit der Spiegelung, die die Einigung, die Identifikation des Individuums organisiert“[3]. Die Identität, die Rückgabe und damit auch die verschuldete Autonomie zu unterbrechen, erlaubt Zeitsprünge, so Cixous: das Aufgeben der Selbstbezogenheit, der Auf-sich-Zurückbezogenheit, und stattdessen: „Abfahren“, Beginnen ohne Ursprung. Das entspricht der Fähigkeit, den Halt zu verlieren und loszulassen: umherzuschweifen, das Unberechenbare zu riskieren, Unvorhersehbares, nicht Antizipierbares. Die Gabe, die mit der Schuldenökonomie bricht, ermöglicht ein Prekär-Werden in der Gegenwart, ohne Kredit in die und auf die Zukunft, das, was der Kredit nicht zulässt: Etwas Neues zu beginnen.
Gaben ohne Rückgabe, ohne Kredit, ohne Zukunft, machen ein anderes Verständnis von Gegenwart notwendig: weg vom Moment, der Vergangenheit und Zukunft linear vertaut, einem Moment, der immer nur durchhetzt wird, der ohne Dauer imaginiert wird, hin zum Prozess, zur Ausdehnung, zu einer ausgedehnten Gegenwart als einer Zeitlichkeit des Werdens.
Das Prekär-Werden in der Gegenwart, ohne Kredit auf die Zukunft, ist kein individuelles Unterfangen. Es ist immer ein politisches Prekär-Werden mit anderen zusammen. Eine gemeinsame Fähigkeit, in der Gegenwart aufzubrechen und etwas Neues zu beginnen. Das impliziert ein Verständnis von Gegenwart, das ich „präsentisch“ nenne.[4] Im Jetzt prekär-werden, in einem Zeitsprung abheben: präsentisches Prekär-Werden. Das aus dem Prekären erwachsende Präsentische wertet und wehrt das gemeinsam geteilte Prekärsein und die daraus resultierende Verbundenheit mit anderen nicht ab. Das Präsentisch-Prekäre bewahrt und aktualisiert das Prekärsein.
„Kredit ist ein Mittel der Privatisierung, und Schulden sind ein Mittel der Sozialisierung“, schreiben Stefano Harney und Fred Moten. „Kredit kann sich nur über Schulden ausdehnen. Doch Schulden sind sozial, und Kredit ist asozial. Schulden sind wechselseitig. Kredit läuft nur in eine Richtung. Schulden […] verteilen sich, entwischen, suchen Zuflucht.“[5] Diese schlechten Schulden sind unendlich verstreute Schulden. Schulden, die aus sozialen Gründen, aus Gründen des Mit_einander und nicht aus ökonomischen oder moralischen Gründen nicht zurückgezahlt werden können. „Schulden ohne Gläubiger*in, schwarze Schulden, queere Schulden“[6], so Harney und Moten, weil sie Identität fliehen, ohne Rückbezug sind, ohne Autonomie, voller Affizierungen. Schlechte Schulden zu praktizieren, entspricht der Fähigkeit, sich durch Andere und Anderes affizieren zu lassen, durch Menschen und Dinge: offen zu sein, verletzlich, prekär. Prekär-werden als Fähigkeit, affiziert zu werden.
Diese schlechten Schulden basieren nicht auf der Idee des autonomen, kreditfähigen Individuums. Sie durchbrechen die weiße, maskulinistische Logik der Schulden und der Identität der Schuldner*innen, sie bewegen sich in der Ausweitung der Differenzen und Mannigfaltigkeiten, denn jeder und jede schuldet etwas anderes. Von schlechten, von sozialen Schulden auszugehen, führt zur Fülle des sozialen Reichtums, zum Überfluss im Jetzt, nicht zur Verknappung und zum Mangel, für deren Beheben Schulden angehäuft und Dinge in der Zukunft besser gemacht werden müssen. Verschuldetes Prekär-Werden bedeutet, offen zu sein, für eine Organisierung (in) der Gegenwart, die das lineare Verhältnis zur Zukunft missachtet und von der noch nicht klar ist, was sie bringt, wohin sie führt, eine Organisierung in der Gegenwart, für die es notwendig ist, sich jetzt Zeit zu nehmen.



Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (https://igbildendekunst.at/zeitschrift/), Nr. 56, Winter 2020/21, „Zur ästhetischen Ökonomie der Schulden“.

Isabell Lorey ist
politische Theoretikerin und Professorin für Queer Studies in Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln. Zuletzt erschien von ihr Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart im Suhrkamp Verlag (Berlin 2020).

 

[1] Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 76.

[2] Vgl. ebd., S. 17.

[3] Hélène Cixous, Geschlecht oder Kopf?, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 98-122, hier S. 119.

[4] Vgl. Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020.

[5] Stefano Harney und Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien u.a. 2016, S. 69.

[6] Ebd.