Eine Postwachstumsperspektive stellt die Frage, „welche Eigenschaften, Institutionen, Infrastrukturen etc. eine – kontrafaktische, utopische – wachstumsunabhängige Gesellschaft haben müsste“. Wachstum wird dabei einerseits als ökonomisches Paradigma unter kapitalistischen Bedingungen verstanden, umfasst aber zugleich einiges mehr, es fungiert nämlich als Motiv für ganze Denk- und Lebensweisen. Dementsprechend differenziert der Einführungsband von Schmelzer und Vetter zwischen ökologischer, sozio-ökonomischer, kultureller Wachstumskritik sowie in feministische, kapitalismuskritische und Nord-Süd-Perspektiven. Dabei wird die gesamte Debatte in gewohnt hoher Junius Verlag-Qualität zugleich präzise und knapp und doch einigermaßen umfassend dargestellt. Die kulturelle Kritik zielt dabei vor allem – in Anschluss an Hartmut Rosa und Harald Welzer – auf „die gesellschaftlichen Bedingungen für nicht-entfremdete Weltbeziehungen“. Die Ausführungen, die Norbert Nicoll zu den kulturellen Faktoren des Wachstumsparadigmas, zu ihrer Denk- und Vorstellungsweisen prägenden Rolle anzubieten hat, bleiben mit Bezugnahmen auf das „Wachstum in unseren Seelen“ zwar hinter dem sozialwissenschaftlichen Status Quo der Diskussion um Dispositionen zurück. Dennoch bietet das Buch einen guten und leicht lesbaren Überblick über die politische Geschichte des Wachstums. Schließlich plädiert auch Nicoll für „tiefgreifende wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen“, für ein „gutes Leben“ vor dem Hintergrund von notwendigen „Nutzungsgrenzen“ für Ressourcen. An solchen Transformationen arbeiten beispielsweise verschiedene soziale Bewegungen. Welche Rolle eine Anti-Wachstumsperspektive in so unterschiedlichen Bewegungen wie der Gewerkschafts-, der Grundeinkommens-, der queer-feministischen, der Recht auf Stadt-Bewegung u.v.a. spielt, verhandeln die Beiträge in Degrowth in Bewegung. Gerade die systematische Struktur – alle Beiträge sind nach fünf Fragen gegliedert – bietet einen tollen Überblick über Fragen und Diskussionsstände verschiedener Mobilisierungen. Der uneingeschränkte Lobgesang auf Fantasie und Kreativität allerdings, der den Beitrag zum Artivismus von John Jordan prägt, kann angesichts von deren vieldiskutierter Rolle für die Wertschöpfung des kognitiven Kapitalismus durchaus verwundern. Die eher akademische Debatte zwischen sozioökonomisch und ökologisch orientierten Wachstumskritiken bildet der Band des AK Postwachstum ab. Während Auswege aus der Krise dabei einerseits in gemeinwohlorientierten Praktiken gesucht werden, wird andererseits, etwa von Silke van Dyk, die „Tendenz zur Idealisierung des vormodernen Reproduktionsmoments der Allmende, das heißt des gemeinschaftlich genutzten Gemeindelandes“ kritisiert. Grégoire Chamayous Buch hat zwar eigentlich einen anderen Schwerpunkt, zeigt u.a. aber auch auf: „Der Neoliberalismus ist von Grund auf antiökologisch.“ Dieses großartige Buch, die sicherlich beste Studie der letzten Jahre zur neoliberalen Konterrevolution, mahnt in Bezug auf die sogenannte Wachstums- und Umweltkrise auch, dass sie ohne die Geschichte eines Wirtschaftssystems, „dessen Expansion wesentlich auf zerstörerischen Naturaneignung beruht“, nicht zu verstehen ist.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 53, Frühling 2020, "Wachstumsschwierigkeiten (degowth)".
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. Von ihm erschien zuletzt Die Linke und die Kunst. Ein Überblick. Münster 2019 (Unrast Verlag).
AK Postwachstum (Hg.): Wachstum – Krise und Kritik: Die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise. Frankfurt am Main/ New York 2016 (Campus Verlag).
Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Berlin 2019 (Suhrkamp Verlag).
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hg.): Degrowth in Bewegung(en): 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation. München 2017 (oekom Verlag).
Norbert Nicoll: Adieu, Wachstum!: Das Ende einer Erfolgsgeschichte. Marburg 2016 (Tectum Verlag).
Matthias Schmelzer/ Andrea Vetter: Degrowth / Postwachstum zur Einführung. Hamburg 2019 (Junius Verlag).