Die Krise ist eine Wiedergeburt

Der Libanon wird erneut von Krisen gebeutelt: Nachdem der Bankensektor 2019 zusammenbrach, kam es zu massiven Protesten, die den Rücktritt der Regierung erzwangen. Die Corona-Pandemie verstärkte die Probleme und am 4. August 2020 erschütterte eine katastrophale Explosion die Hauptstadt Beirut. Wir sprachen mit dem libanesischen Autor und Kurator Ibrahim Nehme darüber, wie Kunst und Kultur in diesem Umfeld überleben.

 

iz3w: Bevor wir über Krisen sprechen, gibt es so etwas wie die »guten alten Zeiten« in Bezug auf Kunst und Kultur im Libanon?

Ibrahim Nehme: Die produktivsten Epochen der libanesischen Kunst- und Kulturszene lassen sich aus meiner Sicht in drei Phasen einteilen: Erstens die 1950er- und 60er-Jahre. Damals gab es eine Bewegung der neuen Poesie. Die Cafés, Theater und Zeitungsredaktionen waren voller neuer Ideen. Hätten sie den Raum und die Zeit gehabt sich zu entwickeln, wären nicht der Krieg 1967 und der etwa zwanzigjährige Bürgerkrieg dazwischengekommen, hätten wir heute einen anderen Libanon. Die zweite Phase dauerte vom Ende des Bürgerkrieges, also den frühen 1990er-Jahren, bis zur Krise 2019. In dieser Zeit entstanden viele alternative Räume, nicht nur in Beirut. In ihnen konnte man neue Ideen ausprobieren und es kamen verschiedene Gruppen zusammen. Das Ziel war der soziale Zusammenhalt und das wichtigste Werkzeug war Kunst.

Das führt mich zur dritten Periode, nämlich der Gegenwart. Ich kenne zwar nicht viel Kunst, die gerade geschaffen wird, da die meisten Leute andere Sorgen haben. Gleichzeitig gibt es einen vielversprechenden Rahmen für Kunst und Kultur. Es fällt mir schwer, von einer »guten alten Zeit« zu sprechen, denn die produktivsten Zeiten sind immer auch Krisenzeiten. Kunst und Kultur können Menschen zusammenbringen und ein Gefühl der Hoffnung schaffen – gerade jetzt, wo alles so hoffnungslos erscheint.

 

Die Krisen im Libanon sind vielfältig: Die Finanzkrise und die revolutionären Proteste 2019, Corona und dann die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020. Sind diese Krisen für die Menschen vor Ort voneinander zu trennen?

Kaum. Es fühlt sich eher so an, als ob sich im Oktober 2019 mit den landesweiten Protesten und mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri ein Portal geöffnet hätte. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört, es ist als seien wir in einem Tunnel. Jetzt herrscht Verzweiflung und Hilflosigkeit in der Bevölkerung, zunehmend auch eine totale Erschöpfung angesichts der sich auftürmenden Probleme.

 

Bedeutet die Finanzkrise im Land, dass die Gelder für Kunst und Kultur ausgehen?

Nein, glücklicherweise gab es in den letzten zwei Jahren viel Unterstützung. Vor allem nach der Explosion im August 2020 wurden zusätzliche Förderprogramme für Kunst und Kultur aufgelegt. Viele Räume und Kunstprojekte wurden unterstützt. Verschiedene Töpfe förderten Künstler*innen und ihre Arbeit, zum Beispiel diejenigen, die durch die Explosion ihre Ateliers oder ihr Equipment verloren. Das Französische Institut ermöglichte damals ad hoc hundert libanesischen Künstler*innen Residenzen in Frankreich.

 

Kam das Geld dann hauptsächlich aus dem Ausland?

Nicht nur, aber hauptsächlich. Geld von außen kann auch bedeuten, dass große lokale Geldgeber der libanesischen Kulturszene, zum Beispiel AFAC (Arab Funds for Arts and Culture), ihre Gelder im Ausland einwerben. Die Kunstszene im Libanon ist international vernetzt genug, um Gelder zu akquirieren, ohne dabei ihre inhaltliche Autonomie zu verlieren.

 

Wie steht es um den physischen Raum für Kunst? Die Explosion hat 2020 viele Orte für Kunst und Kultur zerstört, beispielsweise in den Vierteln Gemmayze und Mar Mikhael direkt am Hafen. Fehlen diese Orte?

Ja und nein. Die Explosion war ein abrupter Einschnitt und hat vieles zerstört. Für sechs, sieben Monate waren die meisten Räume beschädigt und geschlossen. Manche Orte fehlen mir, beispielsweise das Sursock Museum. Um die notwendigen Reparaturen abzuschließen, muss es insgesamt drei Millionen Dollar einwerben. Natürlich gibt es auch Orte, die komplett zerstört wurden. Andererseits gibt es viele Räume, in denen bereits wieder Kunst- und Kulturprogramme laufen. Das Kunstzentrum Ashkal Alwan zum Beispiel. Ich habe neulich mit der Direktorin gesprochen und sie hat von der aktuellen Planung erzählt; es ist unglaublich. Sie und ihr Kollege saßen im Büro ohne Klimaanlage, der Schweiß floss in Strömen – und sie schaffen es, ein fantastisches Programm auf die Beine zu stellen.

 

Welche Auswirkungen hatte Corona auf die Szene im Libanon?

Nicht Corona, sondern die größere Krise darum herum hat bei uns die große Rolle gespielt, vor allem nach der Explosion am 4. August 2020. Niemand war in der Stimmung kreativ zu sein. Die Stadt hat getrauert. Außerdem wurden auch schon 2019, im Kontext der damaligen sozialen Revolution, Performances und Ausstellungen abgesagt. Erst seit ein paar Monaten gibt es wieder Theateraufführungen und einige Ausstellungen.

 

Diese soziale Revolution war für ihre Kreativität bekannt. Gilt das auch für die aktuellen Proteste?

Etliche gehen weiter demonstrieren und finden Wege, sich öffentlich zu positionieren. Aber das Engagement war im Oktober 2019 größer. Rückzug ist dabei kein Zeichen des Aufgebens. Viele von uns tun das, um unser eigenes System aufbauen. Das ist eine Art Revolution im Kleinen. Leute ziehen neue Projekte auf, als Reaktion auf die Krise. Es ist eine aktive Entscheidung zu sagen: Wir stecken keine Energie mehr in dieses zusammenstürzende System, indem wir uns mit den Nachrichten auseinandersetzen oder groß über die Situation diskutieren. Stattdessen schaffen wir alternative Räume, in denen wir Ausdrucksformen erarbeiten, die etwas ändern können.

 

Wird es ein Jahr nach der Explosion eine öffentliche Gedenkveranstaltung geben?

Ich weiß nichts von solchen Plänen. Bisher gibt es nur die monatlichen Proteste: Angehörige der Opfer erinnern an die Explosion. Würde die Regierung oder die Stadt es wagen, eine Zeremonie oder ähnliches zu organisieren, würde das sicher Entrüstung hervorrufen. Ich persönlich werde nicht in der Stadt sein, denn das kollektive Trauma sitzt immer noch in jeder Ecke. Es ist räumlich gespeichert. Es ist nach wie vor eine offene Wunde. Auf kollektiver Ebene wurde nichts unternommen – die Menschen warten immer noch auf Aufklärung und Gerechtigkeit.

 

Du sagst über deine Arbeit, dass du Dinge vorstellbar machen willst – denn durch neue gesellschaftliche Visionen entsteht Wandel. Gerade im Kontext der Revolutionen 2011 war dieser Gedanke prägend. Kannst du deine Herangehensweise erklären?

Ein gutes Beispiel ist Radio Mansion, ein Projekt, das ich 2018 initiiert habe. Das Mansion ist ein Gebäude, das leer stand, bevor eine Gruppe es mit dem Einverständnis des Besitzers in einen kollektiv nutzbaren Raum verwandelte. Ich konnte dort für einige Monate ein freies Radio aufbauen und hoffte, es würde sich als Plattform für alternative gesellschaftliche Narrative etablieren. Doch als ich das Projekt verließ, schlief es ein. Dann kam 2020 die Pandemie und die Gruppe vom Mansion ließ das Projekt wiederaufleben. Zwei Wochen später gab es schon zwei weitere Radiostationen, die von Radio Mansion inspiriert wurden. Meine Vision wurde also Wirklichkeit: Ich baue Plattformen, auf denen Menschen zusammenkommen und neue Ideen in die Öffentlichkeit tragen. Das gibt mir viel Hoffnung.

 

Du wurdest selbst bei der Explosion im Hafen von Beirut verletzt. Über deinen Heilungsprozess hast du einen Text veröffentlicht, in dem du von deiner Verwurzelung in der Geschichte und Gegenwart des Libanons schreibst, die dir Stärke gegeben hat. Ziehst du weiter Kraft aus diesem Bewusstsein?

Ja, definitiv. Ich weiß jetzt, dass ich hierbleiben möchte. In den letzten zehn Jahren habe ich jede Gelegenheit genutzt, aus dem Land abzuhauen. Diese Einsicht macht es mir nun leichter, meinen Mitbürger*innen Empathie entgegenzubringen. Sie hat auch den Effekt, dass wir versuchen, das Schöne im alltäglichen Leben zu sehen, in unseren Mitmenschen und in unserem Land. Das ist eine große Veränderung seit der Explosion.

 

Wie siehst du angesichts all dieser Krisen die Zukunft?

Ich bin hoffnungsvoll. Es mag paradox klingen, aber es liegt daran, dass das System unwiderruflich zusammengebrochen ist. Es wurde zwar noch nicht abgeschafft und hängt noch am seidenen Faden, aber es ist krachend gescheitert. Das ist nicht mehr zu diskutieren. Dies ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Existenzkrise. Wir haben seit 1975 Kriege durchgemacht, sind in Sackgassen gelandet – und jetzt endlich lösen sich die Fesseln dieses unterdrückenden Systems. Wenn man einen Schritt zurücktritt, sieht man, dass diese Krise in vieler Hinsicht eine Wiedergeburt ist. Wohin das führt, weiß ich nicht, aber ich kann nicht anders, als zu hoffen.

 

Ibrahim Nehme ist Autor und Kurator in Beirut. 2012 gründete er das Magazin The Outpost. Nehme ist international in verschiedenen Projekten künstlerisch tätig. Das Interview führte und übersetzte Clara Taxis (iz3w).