Eine Kulturnation vom Feinsten

Hefteditorial iz3w 381 (November/ Dezember 2020)

Beispiel »Willkommenskultur«: Im Sommer 2015 sah sich Deutschlands politische Klasse kurzfristig gezwungen, mehrere hunderttausend Geflüchtete aufzunehmen, die bereits völlig verzweifelt vor der Grenze standen und nur mit Waffengewalt noch hätten verjagt werden können. Diese Notlage war eine direkte Folge davon, jahrelang absichtsvoll die Augen verschlossen zu haben vor dem Elend in Syrien, Irak und Afghanistan und vor den unhaltbaren Zuständen in Süd(ost)europa. Man gestand sich aber nicht etwa das Versagen der eigenen Flüchtlings- und Migrationspolitik ein, sondern bescheinigte sich umgehend, eine weltweit vorbildliche »Willkommenskultur« etabliert zu haben.

Der Höhepunkt des Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfens war erreicht, als 2019 ein ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter bei der UNESCO beantragte, die »Willkommenskultur« auf die Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu setzen. Der Antrag scheiterte; warum, ist nicht bekannt. Möglicherweise wollte die zuständige UNESCO-Kommission das Nettsein zu Geflüchteten deshalb nicht zum deutschen Kulturerbe zählen, weil sie aus Erfahrung weiß, dass eher das Gegenteil richtig ist. Die bisherige Liste ist übrigens hinsichtlich deutscher Mentalität sehr aufschlussreich. Neben dem unvermeidlichen »Rheinischen Karneval« stehen auch die »deutsche Brotkultur« und das »Schützenwesen« darauf.

 

     Möglicherweise hat die UNESCO auch geahnt, was sich im März 2020 abspielen würde. Unter willfähriger Beteiligung der SPD lehnte die Große Koalition es ab, auch nur einen kleinen Teil der Geflüchteten vom Elendslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nach Deutschland zu holen. Lediglich einige wenige Kinder wurden eingelassen, man wollte sich den Ruf als Nation der Wohltäter nicht gänzlich ruinieren. Dass in Moria bereits ohne Corona-Virus Zustände herrschten, die jedem Staat des Globalen Südens heftige Ermahnungen beispielsweise des SPD-Außenministers Heiko Maas eingebracht hätten, wurde ausgeblendet. Für Geflüchtete galt der totale Lockdown.

Daran änderte sich auch nichts, als das Lager bei Moria Anfang September in Flammen aufging. Obwohl die Notlage der Geflüchteten nicht dramatischer hätte sein können, entspannte sich in Deutschland eine an Widerwärtigkeit und Menschenverachtung kaum zu überbietende »Debatte« darüber, ob man nun 1.000 oder 5.000 Menschen aufnehmen soll – oder doch lieber gar keine. Engagement zeigte die deutsche Politik allein dabei, die Seenotrettungsschiffe im Mittelmeer an die Kette legen zu lassen. Dies geschah vielfach mit rechtswidrigen Mitteln, wie jüngst gerichtlich festgestellt wurde.

 

     Szenenwechsel: Ende August versammeln sich in Berlin-Mitte 300 Menschen zu einer Kundgebung. Darunter sind viele BPoC (Black and People of Color). Die Stimmung ist für eine antirassistische Manifestation ungewöhnlich gelöst, denn es gibt einen Erfolg zu feiern: Kurz zuvor hat die Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, die »Mohrenstraße« umzubenennen. Sie soll künftig »Anton-Wilhelm-Amo-Straße« heißen, in Erinnerung an den ersten Gelehrten afrikanischer Herkunft in Deutschland. Damit wird eine Forderung eingelöst, die von Gruppen wie dem Bündnis »Decolonize Berlin« schon seit Jahren erhoben wird.

Amo war Anfang des 18. Jahrhunderts als Sklave im Kindesalter von Ghana nach Europa verschleppt worden. Der Hof des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel gewährte ihm die Gnade, eine akademische Ausbildung zu erhalten. Als humanistischer Philosoph wandte er sich dann unter anderem gegen die Entrechtung schwarzer Menschen in Europa. Auf der Kundgebung in Berlin wurde Amo unter anderem von dem Künstler Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gewürdigt. Er hat beim Braunschweiger Kunstverein eine Ausstellung mitkuratiert, die Amo als bedeutenden Vorkämpfer gegen rassistische Diskriminierung porträtiert.

Die längst überfällige Umbenennung der M-Straße ist bundesweit nicht einzigartig. Das koloniale Erbe wird derzeit in vielen deutschen Städten kritisch diskutiert, es ist durch die Black-Lives-Matter-Proteste einiges in Bewegung gekommen. Man würde sich gerne uneingeschränkt darüber freuen, wenn nicht ein böser Verdacht nahe läge: Je symbolischer die Aktivitäten in Sachen Abschaffung des Rassismus sind, je stärker sie auf der kulturellen Ebene verbleiben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich gehandelt wird und zum Beispiel Straßen umbenannt werden. Wenn es jedoch ganz materiell darum geht, Geflüchteten ein Dach über dem Kopf und einen sicheren Status zu geben, dann wird kaltherzige Ignoranz zur Richtschnur politischen Handelns.

Darin bleibt sich die Kulturnation Deutschland noch lange treu, befürchtet

 

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