Spinning around the world

Baumwolle ist der Urstoff kapitalistischer Inwertsetzung

Die Herstellung von Kleidung aus Baumwolle ist eine alte Kulturtechnik. Sie hat sich jedoch durch die Industrialisierung technisch, räumlich, ökonomisch und kulturell umfassend gewandelt. Vielen gilt Baumwollproduktion als Triebfeder der wirtschaftlichen Globalgeschichte. Ihre Entwicklung hat das, was wir heute Mode nennen, erst möglich gemacht.

Mit Kleidung und Mode assoziieren wir sehr unterschiedliche Dinge. Schönheit, tolles Design, die Auswüchse der Konsumgesellschaft oder ausbeuterische Fabrikarbeit in Asien. Selten jedoch ist die Assoziation der (Roh-)Stoff, aus dem die Kleidung gemacht ist. Dabei spielt dieser eine entscheidende Rolle dafür, welche Funktionen die Kleidung erfüllt, wie sie aussieht und sich anfühlt oder wie viel sie kostet

Betrachtet man die Gesamtmenge der textilen Fasern (also auch Füllmaterialien, Autositzbezüge und so weiter), dann sind Polyester und andere erdölbasierte Kunstfasern das am häufigsten verwendete Material. Bei Kleidung ist jedoch Baumwolle seit dem 19. Jahrhundert die wichtigste Faser und auch heute noch in über der Hälfte der Kleidungsstücke das Hauptmaterial.

Baumwolle wurde vor etwa 250 Jahren zu einem der wichtigsten Handelsgüter überhaupt. So wichtig, dass etwa der Historiker Sven Beckert in seinem Buch »King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus« behauptet, der Baumwollhandel sei die entscheidende Triebfeder der Industrialisierung, des modernen Nationalstaats und des Imperialismus gewesen. Baumwolle ist zugleich ein prominentes Beispiel dafür, wie sich der heutige internationale (Kleidungs-)Handel aus dem Kolonialismus heraus entwickelt hat.

Dabei fällt die Entstehung der Bekleidungsindustrie mit der Entwicklung von Maschinen zusammen, welche die Baumwolle vom Luxusgut zum meist verwendeten Material der Textilindustrie machte. Für die baumwollbasierte Textilindustrie wurden ganze Bahnlinien gebaut und die ersten Dampfmaschinen in den Fabriken eingesetzt. Diese industrielle Fertigung bedeutete nicht nur das Ende der handwerklichen Herstellung von Stoffen, sondern auch den Beginn der Epoche von Massenproduktion und Massenkonsum.

Alte Kulturpflanze und Handelsware

Baumwolle ist eine uralte Kulturpflanze, die bereits vor 6.000 Jahren in Indien, vor 5.000 im heutigen Peru und vor 4.000 Jahren in Mesopotamien und Ägypten kultiviert wurde. Baumwollgewebe wurden vor Beginn der Industrialisierung hauptsächlich in Indien hergestellt und galten als Luxusgut, ähnlich wie Seide. Beides gelangte im 17. und 18. Jahrhundert durch die Britische Ostindien-Kompanie nach England und Europa. Diese Handelsgesellschaft hatte sich schon früh auf das Geschäft mit persischer Seide und Baumwollstoffen aus Indien konzentriert.

Die handwerkliche Herstellung von Baumwollstoff benötigte immens viel Zeit. Eine einzelne Person benötigte für die Herstellung von einem Pfund Baumwollgarn etwa 13 Arbeitstage. Für eine vergleichbare Menge an Seide brauchte es nur sechs Arbeitstage, während man für Leinen nur zwei bis fünf und für Wolle ein bis zwei Tage brauchte.

An Bedeutung gewann Baumwolle in Europa daher vor allem durch die Industrialisierung, deren Triebfeder sie zugleich darstellte. Vor 1750 waren englische Spinner nicht einmal in der Lage, Baumwollfäden zu spinnen, die ausreichend fest waren, um reine Baumwollgewebe herzustellen und die Lohnkosten in England waren etwa sechsmal so hoch wie die in Indien. Gelöst wurde das Problem mit Hilfe von Maschinen.

Im maschinellen Arbeitstakt

Die Spinning Jenny, eine Spinnmaschine mit mehreren Spulen, wurde 1764 erfunden, die von Wasserkraft angetriebenen Spinnmaschinen namens Waterframes entstanden um 1769. Der Historiker Sven Beckert nennt in »King Cotton« als Beispiel für einen der ersten englischen Industriellen Samuel Greg. Greg wollte die Erzeugnisse der damals marktführenden indischen Spinner*innen und Weber*innen durch maschinell in England hergestellte Garne und Stoffe ersetzen. Sein Familienvermögen und das seiner Ehefrau stammten aus karibischen Zuckerrohrplantagen und dem Sklavenhandel.

Zwei Onkel Gregs, die ebenfalls Kapital für seine Spinnmaschinen beisteuerten, waren Textilhändler und besaßen von Sklav*innen bewirtschaftete Zuckerrohrplantagen. Dadurch verfügte Greg über genug Kapital und Handelsbeziehungen, um sein erfolgreiches Geschäftsmodell zu entwickeln. In seiner ersten Spinnerei zwischen Liverpool und Manchester arbeiteten zunächst 90 zehn- bis zwölfjährige Kinder für sieben Jahre als ‚Lehrlinge‘. Zehn Jahre beschäftigte er weitere 110 Erwachsene. Seine Fabrik brachte 18 Prozent Kapitalrendite ein, das Vierfache britischer Staatsanleihen zu dieser Zeit. Selbst andere Industrieerzeugnisse wie die Eisenindustrie und die Kohleindustrie versprachen nur eine Rendite von sieben Prozent. Greg steht beispielhaft für eine neue Kapitalfraktion, bei der Baumwollindustrielle einen immensen Reichtum anhäuften.

Nach kurzer Zeit war die britische Baumwollindustrie weltweit führend. Bereits 1795 arbeiteten 340.000 Menschen in Spinnereien, davon etwa 100.000 Kinder. Um 1830 war jede*r sechste Arbeiter*in Englands in der Baumwollindustrie beschäftigt, über 20 Prozent der Wertschöpfung kam aus der Baumwollindustrie. 1788 wurden 50.000 Spindeln Baumwollgarn produziert, 1830 waren es schon sieben Millionen. Nun gaben die Maschinen den Arbeitstakt vor. Gleichzeitig entstanden zur Erhöhung der Produktivität eine extrem starke Arbeitsteilung, Schichtarbeit und Arbeiterbaracken.

Während Spinner*innen in Indien 50.000 Stunden brauchten, um 45 Kilogramm Garn herzustellen, waren ab 1825 in England nur noch 125 Arbeitsstunden dafür nötig. Kein Wunder also, dass auch auf dem indischen Subkontinent mittlerweile günstige englische Baumwolle gekauft wurde. Innerhalb des Zeitraums von 1800 bis 1810 brachen die indischen Garnexporte um etwa 75 Prozent ein. Baumwolle war somit eines der ersten Produkte, bei dem eine industrielle Produktion zur Vorherrschaft auf dem Weltmarkt führte. Entscheidend war nicht mehr traditionelle Handwerkskunst, sondern vor allem die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch Maschinen sowie der Zugang zu Märkten.

Der Erfolg der englischen Baumwollindustrie hatte großen Einfluss auf den britischen Staat. Da das Spinnen und das Weben teilweise in dreißig oder vierzig Kilometern Entfernung voneinander stattfanden, baute der Staat Eisenbahnstrecken und Kanäle. Der britische Staat konnte Handelsverträgen auch über weite Entfernungen hinweg Geltung verschaffen und mit seiner Marine die Handelswege sichern. Die Steigerung der Produktionskapazität verhalf wiederum dem Empire zu Steuereinnahmen und zu wachsendem ökonomischen und politischen Einfluss. Staat und Kapital banden sich aneinander.

Baumwolle aus der Neuen Welt …

Doch woher kam die Rohbaumwolle? Aufgrund der dortigen gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen gelang es kaum, zusätzliche Baumwolle aus Asien und dem Mittleren Osten zu beziehen. In der Karibik jedoch waren die Bedingungen gut. Dort waren die kleinbäuerlichen Strukturen zerstört und gegen Sklavenplantagen ausgetauscht worden und man hatte zweihundert Jahre lang Erfahrung im Anbau von Zuckerrohr gesammelt. Selbst kleinere Plantagen, die mit Zuckerrohr kaum profitabel waren, konnten auf einmal mit Baumwolle hohe Gewinne erwirtschaften. Die Plantagenbesitzer konnten rücksichtslos auf die neue Nachfrage reagieren: Durch die Ermordung großer Teile der indigenen Bevölkerung gab es genügend Land und mit der Sklaverei ausreichend Arbeitskraft, um Baumwolle anzubauen. Von der Karibik breitete sich der Anbau von Baumwolle weiter in die US-Südstaaten aus.

Das historische Bild vom Süden der USA ist eng mit Sklaverei, Baumwollanbau und dem Sezessionskrieg verbunden. Es ist allerdings ebenfalls eine Maschine, die den dortigen Baumwollanbau lukrativ machte: Die 1793 erfundene Cotton Gin, die in der Lage war, Kapseln und Samen von der Faser zu trennen. Eine einzige dieser Maschinen konnte am Tag so viel Baumwolle entkernen wie 3.000 Sklav*innen, die nun auf die Baumwollfelder geschickt wurden.

Während sich die Zahl der Sklav*innen in den USA vervielfachte, wurde das Anbauland knapp. 1803 kauften die USA Louisiana, 1819 Florida und 1850 wurde Texas annektiert. Ein weiteres Mittel zur Inwertsetzung von Land für den Baumwollanbau war die Ermordung und Vertreibung der Indigenen. Innerhalb von dreißig Jahren stiegen die Baumwollexporte aus den Südstaaten um den Faktor 6.500. Im Jahr 1850 stammten zwei Drittel der in England verarbeiteten Baumwolle von amerikanischen Sklavenplantagen. Umgekehrt blieb die Bedeutung der englischen Fabriken enorm: Lediglich ein Viertel der amerikanischen Baumwolle wurde in den USA verarbeitet, 60 Prozent in Großbritannien.

Der amerikanische Bürgerkrieg hinterließ jedoch deutliche Spuren. Die Baumwollproduktion in den USA brach während des Krieges ein. Nach Abschaffung der Sklaverei wurde sie teurer – und so geriet das Geschäft mit der Baumwolle dort in eine ernste Krise.

… und auf neuer Wanderschaft

Nun versuchten andere auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein. In Zentralasien gab es schon immer Baumwollanbau für den regionalen Bedarf. Russische Kaufleute gaben den Bäuerinnen und Bauern zunächst Darlehen zu immensen Zinssätzen, womit diese sich auf den Baumwollanbau spezialisierten. Nach Preisstürzen oder Missernten kauften die Kaufleute das Land, um es in Plantagen umzuwandeln. Die früheren Besitzer*innen wurden so zu Pächter*innen. Auch in Togo und im Kongo versuchten deutsche und belgische Kolonialisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht sehr erfolgreich Baumwollproduktionen aufzubauen.

Auch die Verarbeitung geriet räumlich in Bewegung. Die modernen Fertigungsmethoden gelangten in andere Weltregionen. Zugleich ließen erfolgreiche Arbeitskämpfe in England die Kosten steigen. So verlagerte sich auch die industrielle Fertigung zunehmend in andere Länder. In und um Petrópolis (Brasilien) und Ahmedabad (Indien) entstanden nicht nur Plantagen, sondern auch Fabriken. Das britische Beispiel setzte sich fort: In Japan, China und Südkorea, aber auch in Russland, Polen, Indien, Bangladesch, China, Vietnam und anderen Ländern war die Industrialisierung eng an die Entwicklung der boomenden Textilindustrie geknüpft. In all diesen Regionen entstanden Plantagen oder Fabriken, die sich in den kapitalistischen Weltmarkt integrierten und die Sozialstrukturen veränderten.

Auch in den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Herstellungsorte der Bekleidungsindustrie immer wieder verlagert: Von Ostdeutschland nach Osteuropa, von dort nach China und weiter nach Bangladesch oder Vietnam. Immer wieder soll mit Hilfe von Nähfabriken eine Industrialisierung angestoßen werden. Immer noch wandert die Produktion weiter, wenn die Lohnkosten steigen und Produkte wie T-Shirts günstiger woanders genäht werden können.

Aktuell ernährt der Baumwollanbau laut der Umweltschutzorganisation WWF etwa 250 Millionen Menschen mehr schlecht als recht. Hinzu kommen ca. 60 Millionen Menschen, die Arbeitsplätze in der Weiterverarbeitung haben. Der Baumwollanbau schafft weiterhin Wandel, Reichtum und Ausbeutung auf verschiedenen Ebenen. Die Arbeitsbedingungen sind (mit Ausnahme der USA, wo die Anwendung von Maschinen sehr weit fortgeschritten ist) fast überall schlecht. Kinderarbeit und extreme Ausbeutung sind in der gesamten Lieferkette weit verbreitet. Die Arbeit in den Spinnereien, Färbereien und Nähereien ist extrem hart.

Auch der massive und meist unsachgemäße Einsatz von Pestiziden sorgt für gesundheitliche Schäden und die Verseuchung des Grundwassers. Zudem gelangt ein großer Teil der Abwässer aus der Weiterverarbeitung, etwa der Färbung, ungeklärt in die Umwelt. Hinzu kommen der immense Wasserverbrauch und die Abhängigkeit von Saatgutkonzernen. Mehr als 80 Prozent der Baumwolle ist mittlerweile gentechnisch verändert, um Ertrag und Produktqualität zu erhöhen. Heutzutage stammt ein Großteil der Baumwolle weiterhin aus Indien, den USA, China, Brasilien, Pakistan, der Türkei und Usbekistan. Die meiste Baumwolle wird in Asien zu Garn oder Stoff verarbeitet.

Immerhin gibt es mittlerweile Versuche, durch Bioanbau, fairen Handel und eine unabhängige Kontrolle der Arbeitsverhältnisse die Bedingungen in der Bekleidungsproduktion zu verbessern oder beispielsweise kleinbäuerliche Strukturen zu fördern sowie die Zahlung von existenzsichernden ‚living wages‘ durchzusetzen. Solche Initiativen bestehen vor allem in Indien, China, der Türkei und den USA.

Eine koloniale Globalgeschichte

Der Massenkonsum von Kleidung wurde nur möglich, weil Baumwolle industriell verarbeitet werden konnte und die Preise für Kleidung somit stark sanken. Innerhalb von etwa hundert Jahren wurde Baumwolle so kostengünstig, dass ihr Marktanteil in der Textilindustrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts rund 80 Prozent betrug. Dies brachte einen weitreichenden kulturellen und technischen Wandel mit sich. Baumwolle als Massenprodukt hat die Herstellung neuer Stoffe, Fäden und Fasern mit neuen Funktionen ermöglicht.

Dank der extremen Vielseitigkeit von Baumwolle konnten völlig neue Garne, Stoffe, Muster und Schnitte kreiert werden. Damit konnte ein Modemarkt mit rascheren Kollektionswechseln entstehen. Zwar gab es auch vorher Kleidungsmoden, aber die Modeindustrie bot Kleidung nun zu einem Bruchteil des Preises an, und industriell gefertigte Mode verbreitete sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Sich modisch zu kleiden ist heute mancherorts einfacher (und manchen Menschen wichtiger), als sich beispielsweise gut zu ernähren.

Sklaverei und Genozid waren, neben der Ausbeutung der Industriearbeiter*innen, die direkte Voraussetzung für das Entstehen einer Textilindustrie, welche die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts einläutete und so die Modeindustrie ermöglichte. Die Geschichte der Baumwolle ist eine Globalgeschichte und zeigt: Der Industriekapitalismus war nur deswegen so erfolgreich, weil er von Anfang an auf die Hilfe des Nationalstaats bei der Ausbeutung von Menschen in anderen Erdteilen setzen konnte. Ohne den Kolonialismus wäre eine derartige Entwicklung so nicht möglich gewesen.

Die Wertschöpfungskette der Textil- und Modeindustrie beruht nach wie vor zu sehr großen Teilen auf einer massiven und gewaltförmigen Umverteilung von Süd nach Nord. Vom Rohstoffanbau über die Fertigung bis hin zur Müllentsorgung tragen die Länder des Südens noch immer die Hauptlast. Die ausbeuterischen Verhältnisse in der Modeindustrie sind nicht auf das ‚Versagen‘ einzelner Konzerne zurückzuführen, sondern strukturellen Ursprungs – historisch wie aktuell. Angebracht wäre deshalb eine Dekolonisierung der Mode, nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch im ökonomischen Sinn.

Sascha Klemz ist Mitarbeiter im iz3w. Zum Look: Er sei, sagt er, modisch recht langweilig unterwegs und trägt gerne die Sachen aus seinem eigenen fair-organic-Laden zündstoff: Jeans und Sneaker, dazu T-Shirt, Hemd oder Wollpulli.