Anarchismus weltweit. Bernd Drücke im Gespräch mit Sebastian Kalicha
Der Anarchismus ist eine globale Bewegung, die eine herrschaftslose Gesellschaft anstrebt und folglich den Nationalstaat sowie seine Grenzen als Herrschaftswerkzeuge ablehnt. Das belegt auch der im September 2010 im unrast-Verlag von Gabriel Kuhn und Sebastian Kalicha herausgegebene Interview-Sammelband „Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit".1 Der in Wien lebende Sebastian Kalicha (* 1983) ist auch Herausgeber des 2008 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buches „Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus". Am 29. November 2010 hat er auf Einladung der GWR-Redaktion, der FAU und des Infoladen Bankrott das neue Buch im Interkulturellen Zentrum Don Quijote Münster vorgestellt.2 Am folgenden Tag bot sich die Gelegenheit zum Interview.3
Graswurzelrevolution (GWR): „Von Jakarta bis Johannesburg" ist ein 400-Seiten-Wälzer mit 50 Interviews, die per E-Mail mit Anarchistinnen und Anarchisten aus sechs Kontinenten geführt wurden. Er ermöglicht einen Einblick in die gegenwärtige, weltweit aktive anarchistische Bewegung. Erörtert werden die Geschichten lokaler Bewegungen, die Aktivitäten in unterschiedlichen politischen Kontexten sowie die Hoffnungen, die sich an libertäre Ideen knüpfen. Wie seid Ihr darauf gekommen, ein solches Buch zum Anarchismus zu machen, das m.E. ein Standardwerk geworden ist?
Sebastian Kalicha: Ja, hoffentlich. Das würde mich freuen. Es scheint so, dass Gabriel Kuhn und ich unabhängig voneinander die gleiche Idee zu einem solchen Interviewband hatten. Ich kann von meiner Warte aus sagen, dass ich für die Zeitschrift Graswurzelrevolution diverse Interviews mit Anarchistinnen und Anarchisten aus verschiedenen Teilen der Welt gemacht habe, die ich nach ihren Ansichten zu bestimmten Themen, nach den Kämpfen, die sie führen, nach unterschiedlichen Kontexten befragt habe. Ich fand das immer wieder spannend. Und ich fand die Idee reizvoll, das mal global zu machen und in einem Buch zu vereinen. Nachdem ich mich mit Gabriel, nach einer Veranstaltung, die er in Wien gemacht hat, länger unterhalten habe, sind wir darauf gekommen, dass wir beide quasi die gleiche Idee hatten, soetwas anzugehen. Dann haben wir gemeinsam gestartet.
GWR: Was ist für Dich Anarchie?
Sebastian Kalicha: Das ist eine große Frage. Kurz würde ich sagen, dass für mich Anarchismus das zu Ende gedachte Konzept ist, wie Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung miteinander leben können. Da gibt es verschiedene schöne Zitate. Colin Ward4 hat gesagt, er sieht keinen Grund darin, Sachen zu wiederholen, die andere schon viel besser als er gesagt haben. Frei nach Alexander Berkman könnte man auch sagen, „es ist die größte und schönste Sache, die je erdacht wurde".
GWR: Für die meisten Menschen ist Anarchie gleichbedeutend mit Chaos und Terror, das heißt, sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was Anarchie eigentlich ist. Wie bist Du selber zum Anarchismus, zu libertärem Gedankengut gekommen?
Sebastian Kalicha: Na ja, ich war schon recht früh politisiert. Ich komme aus Österreich, da hat man leider ein Klima, wo Politiker wie Jörg Haider großen Zulauf hatten und immer noch haben, zumindest die Leute, die jetzt Haiders Erbe antreten. Da wird man notwendiger Weise früh politisiert, natürlich in einer bestimmten Richtung, gegen Rechts und dergleichen. Mit dezidiert libertären Ideen in Verbindung gekommen bin ich dann wohl eher durch Musik-CDs, die mein großer Bruder angeschleppt hat. Das waren Klassiker wie Rage Against The Machine, später dann Propagandhi und so Sachen. Wobei meine Motivation, mein erstes Buch über Anarchismus zu lesen, wiederum darin bestand, dass es in der Stadt, wo ich zur Schule gegangen bin, viele Punks gab, die einen recht destruktiven Lebensstil an den Tag gelegt haben, mit Besaufen und Rückspiegel vom Auto Runtertreten. Und die haben das stets mit ihrem Anarchist Sein gerechtfertigt. Ich habe mir gedacht, wenn das tatsächlich Anarchist Sein bedeutet, dann bin ich wohl keiner. Dann habe ich mir „Das ABC des Anarchismus" von Alexander Berkman5 gekauft, um abzuklären, ob ich jetzt Anarchist bin oder nicht. Was ich dann da gelesen habe, hat mich sehr inspiriert. Und so kam es.
GWR: In dem Buch „Von Jakarta bis Johannesburg" geht es um Anarchismus weltweit, aber der Anarchismus in Deutschland und Österreich kommt gar nicht vor. Dabei ist es ja so, dass Libertäre in Deutschland in der Regel zum Beispiel relativ wenig über die anarchistische Szene in Österreich wissen. Kannst Du etwas über die libertäre Bewegung in Österreich sagen?
Sebastian Kalicha: Ja, kann ich. Die ist jetzt, wie anderswo auch, nicht sonderlich groß. Ich würde sagen, in Österreich ist die Szene zum Einen eher subkultureller Natur, zum Anderen fühlt sich vieles etwas „Wien-zentrisch" an, wie es halt oft ist in Ländern, wo es nur eine große Stadt gibt. In Österreich gibt es in fast allen Landeshauptstädten Infoläden und libertäre Netzwerke. Von Wien, wo ich ja wohne, kann ich sagen, dass es einige interessante Entwicklungen gibt. Vor kurzem hat eine neue Bibliothek aufgemacht, die Anarchistische Bibliothek und Archiv Wien6, es gibt eine anarchosyndikalistische Gruppe, es gibt verschiedene libertäre Gruppen, Kneipen, Freiräume, wo man sich treffen kann. Aber ganz generell geht die Tendenz schon in Richtung Subkultur und dergleichen.
GWR: Und wie schätzt Du das in Deutschland momentan ein?
Sebastian Kalicha: Das ist für mich schwieriger. Ich denke schon, dass es interessante Entwicklungen gibt. Das meine ich generell. Also, dass Projekte wie die Graswurzelrevolution so lange schon existieren können, das sagt auch einiges aus. Ich bin da zuversichtlich.
GWR: Warum habt Ihr in Eurer Publikation Österreich und Deutschland ausgeklammert?
Sebastian Kalicha: Der Anspruch des Buches war es, einen Überblick zu schaffen, was Anarchistinnen und Anarchisten weltweit tun und denken. Und das für eine deutschsprachige Leserinnen- und Leserschaft. Das heißt, da muss man jetzt nicht notwendiger Weise auch noch Deutschland und Österreich erklären. Die anarchistische Bewegung hier ist tendenziell bekannt, und sollte das nicht bekannt sein, gibt es genug Literatur, um sich da einzulesen. Wir wollten sozusagen diesen globalen Bezug mal ohne Deutschland und Österreich da reinbringen.
GWR: Kannst Du die Unterschiede und Parallelen der verschiedenen anarchistischen Bewegungen weltweit skizzieren? Was ist Dir da bei Euern Interviews besonders aufgefallen?
Sebastian Kalicha: Das ist schwierig zu beantworten, weil es überall verschiedene Strömungen und Tendenzen des Anarchismus gibt. Anarchosyndikalistische und anarchokommunistische Bewegungen gibt es beispielsweise sowohl in Lateinamerika als auch in Australien oder Neuseeland. Die verschiedenen Tendenzen sind tatsächlich global. Es scheint in verschiedenen Regionen gewisse Schwerpunkte zu geben, wie sich Anarchistinnen und Anarchisten tatsächlich politisch engagieren. Das hat mit dem realpolitischen Zusammenhang zu tun. Dass zum Beispiel in der Türkei und in Israel Antimilitarismus ein großes Thema ist, hat mit dem militaristischen Kontext da zu tun. Oder dass in Kanada und Neuseeland Solidaritätsarbeit mit Indigenen ein wichtiges Thema in der anarchistischen Szene ist, das hat auch mit dem Kontext zu tun, wo sich Anarchistinnen und Anarchisten die Frage stellen, welche Position haben wir als quasi Nachkommen von weißen Einwanderern in einem kolonialistischen Projekt, auch wenn das schon lange her ist.
GWR: Das Buch ist eine Sammlung von Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen. Wie habt Ihr die Kontakte geknüpft, zum Beispiel auch zu Gruppen in Ägypten, im Nahen Osten, aus Asien, ... weltweit?
Sebastian Kalicha: Wir haben es tatsächlich geschafft, etwas mit Gruppen aus allen Kontinenten zu machen. Das haben wir eingeteilt in Großbritannien und Irland, Nordeuropa, Westeuropa, Südeuropa, Osteuropa. Dann gibt es einen Teil zum Nahen und Mittleren Osten, zu Asien, zu Afrika, Nordamerika, dann auch große Teile zu Lateinamerika, weil das auch ein Riesenpunkt für Anarchistinnen und Anarchisten ist. Und dann zum Schluss noch Ozeanien, Neuseeland und Australien. Die Kontakte sind so zustande gekommen, dass Gabriel und ich die Verbindungen genutzt haben, die wir in den letzten Jahren persönlich geknüpft haben. Vor allem Gabriel hat viele Kontakte weltweit.7 Die meisten sind persönliche Kontakte oder Empfehlungen von Leuten, die wir bereits für das Buchprojekt gewonnen hatten. So ist das zustande gekommen.
GWR: Euer Werk spiegelt eine globale, libertäre Vielfalt, wie sie bisher noch nicht so ohne weiteres wahr zu nehmen war. Dass es z.B. auch in Island, Nepal und Indonesien Anarchistinnen und Anarchisten gibt, wusste ich vor der Lektüre noch nicht. Ihr habt ein leicht zu verdauendes, gut lesbares Buch gemacht, das fesselt und das man einfach so herunterlesen kann. Es ist bisher nur in Deutsch erschienen, aber m.E. sollte es zum Beispiel auch ins Spanische, Englische und Französische übersetzt werden, damit es zur Vernetzung weltweit beitragen kann. Gibt es da Bestrebungen? Habt Ihr da schon Kontakte geknüpft mit Verlagen in anderen Ländern?
Sebastian Kalicha: Ja. Das wäre super. Das Problem ist die Ressourcenfrage. In Frankreich oder im englischsprachigen Raum gibt es Interesse, das in den jeweiligen Sprachen zu publizieren. Aber da braucht man Leute, die ein so dickes Buch übersetzen. Wir sind da dahinter und hoffentlich klappt es irgendwann mal mit der Übersetzung. Momentan sieht es so aus, als würde es mit einer englischen Veröffentlichung klappen. Ich halte es auch für wichtig, dass das auch in anderen Sprachen zugänglich ist. Es sind einzelne Interviews übersetzt worden, das Interview aus Indonesien ist mittlerweile in Spanisch zugänglich. Mal sehen, wie sich das weiterentwickelt. Hoffentlich haben wir einen Beitrag für die globale anarchistische Bewegung leisten können.
GWR: Du hast bei Deiner gestrigen Veranstaltung auch prägnante Stellen aus dem Band rezitiert. Kannst Du davon bitte einige besonders ungewöhnliche wiedergeben oder vorlesen? Vielleicht Verblüffendes, Spannendes oder anderes, das uns weiterbringen kann?
Sebastian Kalicha: Ich habe bei der Buchvorstellung einige Passagen vorgelesen, die mir signifikant erschienen, um gewisse Szenen zu beschreiben. Es gibt verschiedene Passagen, die in die Kategorie „allgemeine Reflexion zur anarchistischen Bewegung" einzuordnen sind. Meiner Ansicht nach recht geistreiche Einschätzungen. Ich finde zum Beispiel das Interview, das wir mit einem Anarchisten aus Neuseeland geführt haben, über weite Strecken klug und sehr anregend. Das ist Sam Buchanan vom Wildcat Anarchist Collective in Wellington. Er hat eine interessante Einschätzung zur anarchistischen Bewegung. Das ist meistens der Teil, mit dem ich schließe. Da sagt er: „Generell hoffe ich, dass wir von zwei Aspekten wegkommen, die den Anarchismus oft prägen: Der erste ist der Glaube, dass der Kapitalismus dem Untergang geweiht ist und wir nur darauf warten müssen, bis er zusammenbricht. Der Kapitalismus ist nicht dem Untergang geweiht, und er wird solange bestehen bleiben, bis einer großen Anzahl von Menschen klar ist, dass es eine realistische Alternative gibt. Davon müssen wir die Menschen überzeugen. Der zweite Aspekt ist der Fokus mancher AnarchistInnen auf die Konfrontation. Ich gebe den Anti-WTO-Protesten in Seattle im Jahr 1999 die Schuld dafür, da sie den Leuten das Gefühl gegeben haben, sie könnten sich mit dem Staat auf der Straße anlegen und gewinnen. In Wirklichkeit ist der Staat viel besser, wenn es um Konfrontation und Gewalt geht - das ist sein Geschäft. Hin und wieder werden wir möglicherweise einen Erfolg erzielen, wenn der Staat unvorbereitet ist. Darauf können wir uns aber nicht verlassen. Wir müssen kollektive Strukturen aufbauen, wenn wir wirklich gewinnen wollen. (...) Wir müssen unsere Ideale dabei in einfacher Sprache formulieren, ohne komplizierte Rhetorik oder politischen Jargon. Militantes Gehabe und Arroganz müssen vermieden werden, und wir müssen uns bewusst sein, dass es nicht von heute auf morgen zu einem großartigen Wandel kommen kann. (...) Der Anarchismus ist immer noch die beste politische Idee, die je erdacht wurde, und zu versuchen, diese Idee umzusetzen, ist das Nützlichste, was wir mit unserer Zeit machen können. Letzten Endes ist die Vision für Neuseeland und die Vision für den Rest der Welt die gleiche: eine Gesellschaft zu verwirklichen, die aus demokratischen und autonomen Gemeinschaften besteht, die sich gemäß ihrer Bedürfnisse kollektiv organisieren." Und seine persönliche Einschätzung ist dann noch: „Ich persönlich würde liebend gerne mehr altertümliche Flugzeuge, mehr einheimische Vögel und jede Menge Pizza mit geräuchertem Fisch sehen." Also: Anarchistinnen und Anarchisten haben auch Humor. Toll!
Interview: Bernd DrückeSebastian Kalicha wird im Zuge der Anarchistischen Buchmessen in Mannheim (9./10. April 2011) und in Biel (3.-5. Juni 2011) das neue Buch vorstellen. Weitere Termine sind geplant.
Anmerkungen:
1 Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.): Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit, unrast, Münster 2010, 400 Seiten, 19.80 Euro, ISBN 978-3-89771-506-6
2 Ein Audio-Mitschnitt dieser Veranstaltung findet sich online unter: http://projekte.free.de/bankrott/basta/Vortrag_Anarchismus_weltweit_29_11_2010.mp3
3 Das Interview mit Sebastian Kalicha hat Bernd Drücke am 30.11.2010 als Teil einer „Radio Graswurzelrevolution"-Bürgerfunksendung im Medienforum Münster produziert. Zusammen mit einem weiteren, am 12.1.2011 von Klaus Blödow mit Bernd Drücke geführten Interview zur Geschichte der Graswurzelrevolution wurde es am 16.1. und 23.1.2011 auf Antenne Münster (95,4 MHz / Im Kabel: 91,2 MHz. Online/ Live-Stream: www.antennemuenster.de) ausgestrahlt. Die Sendung ist auf www.freie-radios.net/portal/content.php?id=38482 und www.freie-radios.net/portal/content.php?id=38483 dokumentiert.
4 Colin Ward (* 14.8.1924 - 11.2.2010) war ein britischer Schriftsteller und Anarchist. Von 1947 bis 1960 war er Mitherausgeber der heute noch in London erscheinenden anarchistischen Zeitung Freedom. Zudem war er Gründer und von 1961 bis 1970 Herausgeber des libertären Monatsmagazins Anarchy.
5 Der libertäre Schriftsteller Alexander Berkman, ursprünglich Owsei Ossipowitsch Berkman (* 21.11.1870 - 28.6.1936) war ein einflussreicher Aktivist der anarchistischen Bewegung in den USA. Er arbeitete eng mit seiner Lebensgefährtin Emma Goldman zusammen, organisierte Kampagnen für Menschenrechte und gegen den Krieg. Sein „ABC des Anarchismus" erschien erstmals 1929. Eine deutschsprachige Neuauflage wurde 1997 als Koproduktion von Trotzdem Verlag und Anares Nord herausgebracht.
6 Anarchistische Bibliothek und Archiv, Lerchenfelder Str. 124 - 126, A-1080 Wien, http://a-bibliothek.org/
7 Siehe: „Die Gesellschaft ist ein einziger Gefahrenherd". Ein Interview mit dem Unrast- und GWR-Autor Gabriel Kuhn, dem die Einreise in die USA verweigert wird, von Bernd Drücke, in: GWR 347, März 2010, http://www.graswurzel.net/347/gabriel.shtml
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 356, 40. Jahrgang, Februar 2011, www.graswurzel.net