Grenzen als zentrale Konfliktfelder der Globalisierung

Grenzregime und die Kämpfe der Migration

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im „Zeitalter der Migration“ (2014), wie es Castles, Miller und De Haas proklamieren, sind Grenzen zu einem zentralen Konfliktfeld der Globalisierung geworden (vgl. Hess et al. 2014: 9). Zwar findet Migration seit Menschengedenken statt, allerdings stellen Sesshaftigkeit als der imaginierte Normalfall und Staatsbürgerschaft historisch gesehen relativ junge Phänomene dar, die erst im Zuge des 19. Jahrhunderts aufkommen. Eine neue Relevanz bekommen globale Grenzregime in menschenrechtlicher Hinsicht. Besonders drastisch ist die Situation an den Außengrenzen von Europa und Nordamerika, an denen sich derzeit eine humanitäre Katastrophe ereignet.

Schätzungen zufolge sind an den EU-Außengrenzen seit 2000 mehr als 40.000 Menschen gestorben, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Erst Anfang Februar 2015 starben über 300 Menschen im Mittelmeer, die sich auf vier Schlauchbooten in der Nähe von Tripolis/Libyen nach Italien aufgemacht hatten und aufgrund der schlechten Wetterbedingungen in Seenot geraten waren (vgl. Watch the Med, Homepage). Berichten der Überlebenden zufolge waren die Refugees von Menschenhändlern in Libyen unter Waffengewalt gezwungen worden, die maroden Boote zu besteigen, die sich schon nach kurzer Zeit mit Wasser vollsogen. Noch an Bord der italienischen Küstenwache starben 22 Menschen an Unterkühlung. Insgesamt überlebten nur 86 Menschen die Überfahrt. Obwohl der Mittelmeerraum spätestens seit der Libyenkrise hochtechnisiert, militärisch ausgerüstet und zudem großflächig satelliten- und radarüberwacht ist, kentern immer wieder Boote bzw. werden kentern gelassen. Aufgrund der Grenzkontrollpolitiken und der Überwachung des Mittelmeerraumes durch Akteure wie die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX werden die Routen, die die Migrant_innen auf sich nehmen müssen, gleichzeitig immer länger und gefährlicher. Diese Praxis des „left to die“, des Sterben- und Lebenlassens auf dem Mittelmeer, stellt einen mörderischen Aspekt des Grenzregimes dar. Das Mittelmeer verwandelt sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit in ein Massengrab.

Die migrantischen Ströme aus Regionen des sogenannten Globalen Südens in die industrialisierten Kontexte des Globalen Nordens sind Ausdruck einer internationalen Arbeitsteilung, die (neo-)koloniale und imperialistische Kontinuitäten aufweisen (vgl. Castro Varela & Dhawan 2009: 317). Innerhalb des Nord-Süd-Verhältnisses sind es im Durchschnitt wenige Menschen, die das Privileg einer sicheren, „imperialen“ Lebensweise (Brand/Wissen 2011: 80ff.) innehaben, die einen Zugriff auf Ressourcen und Arbeitsvermögen in den Ländern des Globalen Südens voraussetzt. Durch die globalen Politiken der Grenzkontrolle werden diese asymmetrischen Herrschaftsstrukturen aufrechterhalten (vgl. für das EU-Grenzregime Buckel 2013). Eine als allgemein empfundene Chancen- und Perspektivlosigkeit in den Herkunftsregionen bezogen auf Auskommen und Über-Leben sind wiederum häufige Gründe von Migrant_innen für ihren Weg gen Norden. So überqueren jährlich Hunderttausende illegalisierte Menschen aus den Zentral- und Südamerikas die US-mexikanischen Grenze unter prekären und lebensgefährlichen Bedingungen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Seit dem Beginn des Drogenkrieges 2006 gelten in Mexiko über 70.000 Transitmigrant_innen als „verschwunden“.

In den kritischen Border Studies werden die produktiv-performativen Aspekte von Grenzen und Grenzregimen hervorgehoben, die mehr sind als „lines in the sand“. Grenzen unterteilen und kategorisieren Menschen hierarchisch in verschiedene Gruppen und statten sie mit unterschiedlichen Rechten, Subjektpositionen und sozialem Status aus, die sehr ungleiche Zugänge zu Lebens- und Arbeitsverhältnissen bedeuten. Grenzen sind somit nicht nur auf geographische Aspekte zu reduzieren, sondern müssen hinsichtlich ihrer politischen Rationalität und Funktionalität verstanden werden, aber auch bezogen auf ökonomische und rechtliche Aspekte. Sandro Mezzadra und Brett Neilson (2014: 8) vergleichen die Grenze daher mit einem Prisma, das eine produktive Macht besitzt und differentiell inkludierend Staatsbürger_innenschaft und Rechte erteilt bzw. aberkennt. Die sozialen Räume, die durch Grenzregime konstruiert werden, sind dabei durch die Aushandlungen und Konflikte um Rechte und Teilhabe zwischen multiplen Akteur_innen geprägt und müssen beständig (re-)produziert und (neu) eingeschrieben werden (vgl. Hess et al. 2014: 18).

In diesen Auseinandersetzungen um Grenzziehungen und Inklusion setzen die widerständigen Praktiken der Migration an. Border struggles sind vielfältig, vollziehen sich individuell oder kollektiv, sichtbar oder klandestin. Und sie sind unter anderem auch als Kämpfe um Demokratie zu verstehen, im Sinne individueller und kollektiver Selbstbestimmung wie auch im Hinblick auf gleiche Rechte für alle. Der Protestmarsch der Refugees nach Berlin im Sommer 2012, der mit verschiedenen dezentralen Aktionen verbunden war und der für große Aufmerksamkeit für die Situation von illegalisierten und geflüchteten Personen sorgte, ist ein Beispiel dafür. Auch formieren sich beständig Formen transnationaler Solidarität, die sich für das Recht auf Migration, Transit und ein selbstbestimmtes Bleiberecht einsetzen. Ein Beispiel im mexikanischen Bundesstaat Veracruz sind Las Patronas, eine Gruppe von Frauen, die seit 1995 selbstorganisiert und ehrenamtlich Verpflegung, Wasser und Obdach für die auf den Güterzügen reisenden Transitmigrant_innen bereitstellen. Im Mittelmeerraum organisiert das Projekt Watch the Med einen Notruf für in Seenot geratene Menschen und leistet damit konkrete Unterstützung gegen das Sterben an den EU-Außengrenzen und die Politik der Entmenschlichung. Die sozialen Räume des Grenzregimes sind somit auch immer Ausgangspunkte von Widerstand und Kämpfen der Migration.


Miriam Trzeciak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Soziologie der Diversität an der Universität Kassel und lebt in Berlin.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 35, Frühjahr 2015, „Demokratie im Präsens“.


Literatur:

Brand, Ulrich/ Wissen, Jens (2011): Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: Demirović, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hg., 2011): VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus. Hamburg: VSA, S. 78-93.

Buckel, Sonja (2013): Welcome to Europe. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Bielefeld: transcript.

Castles, Stephen/ Miller, Mark J./ De Haas, Hein (Hg., 2014): The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, 5. Aufl. Basingstoke/United Kingdom: Palgrave Macmillan.

Heimeshoff, Lisa-Marie/ Hess, Sabine/ Kron, Stefanie/ Schwenken, Helen/ Trzeciak, Miriam (2014): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Grenzregime II. Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven. Hamburg/Berlin: Assoziation A, S. 9-31.

Mezzadra, Sandro/Neilson, Brett (2014): Grenzen der Gerechtigkeit, differentielle Inklusion und Kämpfe der Grenze. In: Heimeshoff, Lisa-Marie/ Hess, Sabine/ Kron, Stefanie/ Schwenken, Helen/ Trzeciak, Miriam (Hg.): Grenzregime II. Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven. Hamburg/Berlin: Assoziation A, S. 232–255.

Watch the Med. Online: http://watchthemed.net/reports/view/95 (06.04.2015).