Die Bildungsreform der 1970er Jahre und wie es weiter ging
Lange Zeit war der Zugang zu höherer Bildung ein ausschließlich männliches Privileg. Erst vor gut 100 Jahren durften die ersten Frauen in Deutschland ein Hochschulstudium absolvieren. Bildungsbenachteiligung ist aber nicht nur eine Geschlechter- sondern auch eine Klassenfrage, wie Gisela Notz mit Blick auf die Auswirkungen der bundesdeutschen Bildungsreformen zeigt.
Frauen wurde nach langen Kämpfen der Bürgerlichen Frauenbewegungen erst 1909 reichsweit das Immatrikulationsrecht zugestanden. Vor dem Eindringen der Frauen in die männliche Domäne Universität war das Studium alleine den Söhnen privilegierter Familien zugestanden worden. Nun kamen die Töchter privilegierter Eltern dazu, die "höheren Töchter", wie sie auch genannt wurden. Zunächst nahm vor allem die Zahl der Lehrerinnen an Volks- und höheren Töchterschulen rasch zu, für andere studierende und studierte Frauen gab es weiterhin Ausschlussverfahren. Immer wieder gelang es Professoren, Frauen von der Teilnahme an einzelnen Vorlesungen auszuschließen, "vollgültige Professuren" wurden nur selten an Frauen vergeben und die Hürde der Habilitation war schwer zu nehmen, weil Doktorväter und andere Professoren darauf aufmerksam machten, dass sie eigentlich kein Freund von Frauenhabilitationen seien. Ein steiniger Weg war zu bewältigen, bevor es für die Kinder aus unterprivilegierten Schichten möglich wurde, Universitäten von innen zu sehen. Arbeitertöchter hatten es noch schwerer, als Arbeitersöhne.
Männliche Dominanzstrukturen an den Universitäten
Durch die historische Verspätung des Zugangs der Frauen zum durch Männer geprägten Wissenschaftssystem begann für sie ein Prozess der Anpassung an eine Welt, die im Widerspruch zu ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation stand. Obwohl die Studentinnenzahlen rasch anstiegen, ist die marginale und Männern assistierende Position von Frauen im Wissenschaftsbetrieb bis heute nicht überwunden.
Im WS 1908/1909 waren 1.132 Studentinnen an deutschen Universitäten eingeschrieben, das entsprach einem Anteil von 2,4% an allen Studierenden, im Wintersemester 1932/33 waren es bereits 17.192, das war ein Prozentsatz von 18,6%. Fast alle Studentinnen kamen aus Akademikerfamilien und aus der bürgerlichen Mittelschicht.
Mit der Gründung der BRD sollte das Bildungswesen von Grund auf reformiert werden. Die nazistischen und militaristischen Lehrinhalte sollten entfernt und eine "erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen" möglich werden. Obwohl die Möglichkeit des Zugangs zum Studium für Frauen außer Frage stand, und auch die formale Gleichstellung durch das 1949 verabschiedete Grundgesetz garantiert war, wurden weibliche und männliche Berufsbilder - unterstützt durch die konservative Familienpolitik der Adenauer-Ära - erneut im Sinne der traditionellen Geschlechterideologie getrennt. Das konservative Frauenbild und der oft subtile Widerstand gegen das Frauenstudium prägten erneut den Alltag an den Universitäten.
So war es schon beinahe revolutionär, dass es 1955 gelang, die Honnefer Reformkonferenz und die Westdeutsche Rektorenkonferenz zu veranlassen, die Empfehlung zu unterschreiben: "Wo geeignete weibliche Hochschullehrer zur Verfügung stehen, sollten die Fakultäten auch sie für die Besetzung des Lehrstuhls in Erwägung ziehen"1. Freilich blieb das im wesentlichen Absichtserklärung. (Nicht nur) Arbeitermädchen bekamen von Müttern, Vätern oder Lehrern zu hören: "Du brauchst nicht zu studieren, Du heiratest ja doch". Für diejenigen Frauen, für die der Zugang zu den Universitäten möglich war, verlagerten sich die geschlechtsexklusiven Schließungsstrategien in den 1950er Jahren vom Zugang zum Qualifizierungssystem auf den Eingang ins Beschäftigungssystem.
Die bundesdeutsche Bildungsreform der 1960er und 70er Jahre
Es war nicht nur der ›Sputnik-Schock‹ von 1957, der gezeigt hatte, dass der technologische Vorsprung des Westens gegenüber dem Osten ein Mythos war, sondern vor allem die ›deutsche Bildungskatastrophe‹2, die in den 1960er Jahren in der BRD dazu führte, dass die Erkenntnis wuchs, dass es an den Universitäten verstaubt und wirklichkeitsfremd zugeht und unter den Talaren der Muff von tausend Jahren versteckt ist. Picht ging davon aus, dass zukünftig mit einem verhängnisvollen Lehrer- und Abiturientenmangel zu rechnen sei, der zu einem Zusammenbruch des Schulsystems, dem Niedergang der deutschen Wissenschaft und Wirtschaft und zu einer Erschütterung des politischen Systems führen müsse. In den 1950er Jahren studierten in der BRD etwa 5% eines Altersjahrganges. Damit war die BRD, gemessen an den übrigen Industriestaaten, nicht in der Lage, "einer ausreichenden Zahl junger Menschen das Abitur und den Zugang zu einem Studium zu ermöglichen, wie es für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft unerlässlich war."3 Der Ruf nach einer Reform des Bildungswesens wurde immer lauter; bald auch unter den Studierenden. Ihnen ging es vor allem um eine Demokratisierung der Gesellschaft und um mehr Mitbestimmung für die Studierenden. Die Erklärung "Studenten und die neue Universität" zur Gründung und Ausgestaltung neuer Hochschulen, die 1962 von einer Kommission des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) abgegeben wurde, fand weitreichende Beachtung. In den folgenden Jahren gelang es den Studierenden in mehreren Bundesländern, erweiterte Mitbestimmungsrechte in den Hochschulgesetzen zu verankern. Mit der Aktion "Student aufs Land" warb der VDS ab 1965 für eine breitere Bildungsbeteiligung bisher benachteiligter Bevölkerungsschichten. Auch das ›Mädchen auf dem Lande‹ sollte eine Chance erhalten. Die VDS-"Aktion 1. Juli" sorgte im selben Jahr für eine der größten Studierendendemonstrationen der Nachkriegszeit. Allein in München gingen 10.000 StudentInnen auf die Straße, um gegen den drohenden ›Bildungsnotstand‹ zu protestieren und schnelle und umfassende Reformen auf diesem Gebiet einzufordern.4
Schließlich wurde 1965 der Deutsche Bildungsrat von Bund und Ländern gegründet, um Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, Strukturvorschläge zu machen, den Finanzrahmen zu berechnen und Empfehlungen für langfristige Planungen auszusprechen. Im März 1966 nahm das Gremium, das aus 16 Männern und zwei Frauen, zur Hälfte Politiker und zur Hälfte WissenschaftlerInnen und einigen Schulpraktikern, bestand, seine Arbeit auf. Er setzte eine Bildungskommission ein, die Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen entwickeln sollte. Ein umfassender Reformplan wurde 1970 vorgelegt.5 Im "Strukturplan für das Bildungswesen" fanden neue Forschungen über Begabung und Lernen, die zeigten, wie bisher vernachlässigte Begabungsreserven erschlossen werden konnten und die herkömmlichen Formen von Förderung und Auslese infragestellten, ihren Niederschlag. Die Leitmotive der Bildungsreform sollten Chancengleichheit und das Recht auf Bildung für alle sein. Die Gesamtschule mit der gymnasialen Oberstufe sollte zur vorherrschenden Schulform werden und eine Grundbildung als Voraussetzung für die Studierfähigkeit vermitteln. "Selbstbestimmt, selbsttätig und eigenverantwortlich" waren die Stichworte für neue Orientierungen und Methoden. Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit schienen sich über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Bildungsreformbewegung einig zu sein.6 Die sozial-liberale Koalition ab 1969 sah die Bildungspolitik als einen wesentlichen Schwerpunkt.
Die Diskussion um die Notwendigkeit der Reform - deren Einleitung durch die 1968er-StudentInnenbewegung unterstützt wurde - wurde teilweise mit technisch-ökonomischen Begründungen, teilweise mit dem Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft geführt. Geschlechtsspezifische Aspekte spielten trotz des Einflusses der ›neuen Frauenbewegungen‹ nur am Rande eine Rolle. Bildung sollte für alle zugänglich werden und war zur Schlüsselqualifikation der modernen Welt geworden. ›Aufstieg durch Bildung‹ wurde zur Hoffnung für die breiten Unter- und vor allem Mittelschichten. 1969 wurde das Berufsbildungsgesetz reformiert, 1970 wurden die Studiengebühren abgeschafft. Die Einführung des BAföG 1971 verringerte die schicht- und geschlechtsspezifischen Zugangsbarrieren zusätzlich. 1972 erfolgte die Oberstufenreform, in deren Rahmen die gymnasiale Oberstufe mit den neu gestalteten Eingangssemestern der Hochschule verzahnt werden sollte. Das Kurssystem sollte die studienvorbereitende, wissenschaftspropädeutische Funktion des Abiturs verbessern. Zur Verbesserung der sozialen Mobilität wurde der zweite und ›dritte‹ Bildungsweg7 ausgebaut. Nicht nur die Söhne und Töchter der Eliten sollten Zugang zu den Universitäten haben, sondern auch die Arbeiterkinder. Nun erst wurde ein Studium auch für Arbeitertöchter möglich. Die Bildungsreform hatte es - zumindest über einen Zeitabschnitt - ermöglicht, dass viele ehemalige Hausfrauen, Sekretärinnen oder Krankenschwestern das Abitur nachgeholt, ein Diplom und vielleicht auch einen Doktortitel erworben haben; nicht selten kamen sie aus der Arbeiterschicht.
Nicht nur die bestehenden Hochschulen sollten geöffnet werden. Eine Reihe von Hochschulneugründungen wie Bochum, Bielefeld, Augsburg, Passau und Bamberg folgten. Das extensive Wirtschaftswachstum erlaubte dem Staat die gesellschaftliche Infrastruktur, zu der nun auch die Bildung gehörte, immer weiter auszubauen. Ein neues Hochschulrahmengesetz wurde 1976 verabschiedet, dessen Ziel es war, die Mitbestimmung aller an der Hochschule vertretenen Gruppen - auch der Studentinnen - zu ermöglichen.
Von der Bildungsreform zur ›Bildungsinflation‹
Der Anteil der ArbeiterInnenkinder an der Zusammensetzung der Studierenden erhöhte sich tatsächlich zwischen 1963 und 1982 von 6 auf 16%. Der Anteil der Studentinnen stieg zwischen 1960 und 1980 von 27% auf 40% und im Wintersemester 2004 auf 48%.8 Für Frauen haben die Reformen zweifelsohne Vorteile gebracht. Nicht nur ihr prozentualer Anteil an den Studierenden hat zugenommen. Auch die Integration von feministischer Forschung, Frauenforschung, später in Geschlechterforschung oder Gender Studies umbenannt und als Angebot auch für Männer verstanden, war eine Errungenschaft der Bildungsreform.
Bereits Mitte der 1970er Jahre ließ der Reformeifer nach. Die Reformen sind auf halbem Wege stecken geblieben. Die ursprünglichen Reformansätze der sechziger Jahre wichen kurzfristigen Notmaßnahmen und Sofortprogrammen zur Bekämpfung der sich ausbreitenden Jugendarbeitslosigkeit. Konservative Kritiker warfen den Reformern vor, die Bildungsexpansion auf Kosten der Leistungen voranzutreiben. Sie sprachen bald von einer ›Bildungsinflation‹ und vom ›Discounterdiplom‹. Besonders der zweite Bildungsweg und das Begabtenabitur wurden kritisiert. Führten sie doch dazu, dass immer mehr Menschen, besonders Frauen, eine nachträgliche Hochschulreife anstrebten. Die Kollegs und Abendgymnasien drohten von Abi-Aspiranten überzuquellen und wurden immer häufiger von "bildungsbereiten Spätberufenen"9 unterlaufen. In Berlin erwartete das Landesprüfungsamt 1971 die Anträge von rund 200 Hochbegabten. Zwei Drittel der Bewerber waren Frauen. Mitte Februar hatte der Senator für Wissenschaft und Kunst in Berlin, der auch für Hochschulen zuständig war, die dortige Pädagogische Hochschule nachdrücklich ersucht, Bewerber mit kleiner Matrikel, die sich auf die Begabtenprüfung vorbereiten wollten, nicht mehr einzuschreiben. Der ›Akademikermangel‹ der 1960er Jahre schien einer Überlastung der Universitäten und Hochschulen zu weichen, deren AbsolventInnen von einem schrumpfenden Arbeitsmarkt nicht mehr aufgenommen wurden. Den Zugang von Arbeiterjugendlichen zur universitären Bildung empfanden die privilegierten Schichten zunehmend als Beeinträchtigung ihrer eigenen Arbeitsmarktchancen. Der ›Studentenberg‹ sollte mit dem Numerus clausus (NC) eingeebnet werden. Der Kampf um gute Abitur-Durchschnittsnoten verdrängte die von der Oberstufenreform erhoffte Entfaltung von Begabungen und Interessen von SchülerInnen aus verschiedenen Schichten. Der Konsens über die Bildungsreform zerbrach, 1975 wurde der Bildungsrat aufgelöst. Oskar Negt machte später die nicht zu Ende geführte, abgebrochene Bildungsreform für die Misere des gegenwärtigen Bildungs- und Ausbildungssystems verantwortlich.10
Bildungspolitische Diskussionen beschäftigten sich nun verstärkt vor allem mit kontroversen Prognosen über die technikbedingte Qualifikationsentwicklung und den daraus abzuleitenden Qualifikationsanforderungen für berufliche und universitäre Bildung. In der gesamten Diskussion wurde wenig danach gefragt, welche Qualifikationen durch welche Lernprozesse vermittelt werden könnten und vor allem sollten, noch weniger, wie Studium und Berufsausbildung verändert und verbessert werden könnten.11 Die Verhinderung der Qualifikationsentwicklung wurde von einigen Bildungstheoretikern als bewusste Strategie des Kapitals zur Profitmaximierung einerseits und zur Konfliktminimierung andererseits verstanden. Wie, fragte man sich, konnte sich bei der Allmacht des Kapitals überhaupt eine emanzipatorische Bildungsreformpolitik, die kritisch-politische Qualifikationen vermitteln soll, entwickeln?12
1968 war bald zum historischen Thema geworden. Im Rahmen eines Internationalen Kongresses in Paris versammelten sich WissenschaftlerInnen dreißig Jahre später aus vielen Ländern der Welt. Ein Redner aus der BRD sprach von der Bildungsreform, die so viele AkademikerInnen produziert hätte, dass man jetzt die Straße damit pflastern könne. ›Discountermäßig‹ seien die Diplome vergeben worden, das sei auf Kosten der Leistungen gegangen und das Ergebnis der ›Bildungsinflation‹ sei nun die Akademikerarbeitslosigkeit.13 Aber auch diejenigen, die Hoffnung auf die Reform gesetzt hatten, mussten feststellen, dass sie Arbeiterkindern wenig gebracht hat. Der Anteil der Arbeiterkinder (oder der Kinder aus den unteren Schichten) war seit den 1990er Jahren schon wieder rückläufig.
Wissenschaften sind noch immer Männerdomänen
Gleichstellungspolitik wurde erst nach den Bildungsreformbestrebungen der 1970er Jahre an den Hochschulen etabliert. Erst bei der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) 1985 wurde durch den Druck der Frauenbewegungen Frauenförderung zu einem rechtsverbindlichen Bestandteil der Hochschulpolitik erhoben. In fast allen Bundesländern wurden 1987 Ämter für Frauenbeauftragte geschaffen. Zur Verbesserung der Vernetzung der Frauenbeauftragten wurde 1990 die Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten an Hochschulen (BukoF) ins Leben gerufen. Die Rahmenbedingungen für eine wirksame Frauenförderpolitik waren schlecht. Oft wurden sie als bürokratische Vorgaben ›von oben‹ oder gar als überflüssig abqualifiziert. Der einsetzende Rationalisierungsdruck verschlechterte ihre Gestaltungmöglichkeiten. Ohne gesetzliche Vorgaben (Quotierung) bleibt ihr Agieren oft wirkungslos. Für eine Frauenquote sprechen sich in der universitären Debatte dennoch nur wenige aus. Verbindliche Quoten hat bislang keine Universität. Schichtspezifische Aspekte scheinen keine Rolle zu spielen.
Studierte Frauen haben trotz hervorragender Leistungen in Schule und Studium nicht den gleichen Zugang zu beruflichen Positionen wie ihre männlichen Kollegen. Auch im wiedervereinten Deutschland bestehen weiterhin große Unterschiede in Bezug auf die Verteilung der Geschlechter nach Studiengängen. Stark technisch orientierte Wissenschaften sind noch immer Männerdomänen. Nur 22% der in den Ingenieurwissenschaften Ausgebildeten sind weiblich. In der pyramidenförmigen Hierarchie der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gibt es in der Spitze so wenige Frauen, dass es nach wie vor an Vorbildern für weibliche Rollenmuster fehlt. Frauen machen heute 51,2% des Hochschulpersonals aus. Von den Professoren aller Besoldungsgruppen sind nur 17,4% weiblich, auf den besonders gut ausgestatteten C4/W3-Professuren sogar nur 13%.14 In der Verteilung der Karrieren zeigt sich, welche Dynamik nach wie vor in der sozialen Konstruktion von Geschlecht im Karrierebereich steckt. Gelegentliche ›Modernisierungsschübe‹ haben an der Grundstruktur der hierarchisch gefassten Geschlechterdifferenz nichts Wesentliches geändert.
Die Hochschulreformpolitik der 1990er Jahre wurde von Leitbegriffen wie Effizienz, Leistungssteigerung, Wettbewerb und Managementstrategien getragen. Trotz anhaltender Männerdominanz im Wissenschaftsbetrieb spielte die Frage nach der Chancengleichheit von Frauen eine marginale Rolle.15 Selbst die erkämpfte Demokratisierung der Hochschulen wurde zurückgedreht. Die schlechte Finanzlage führte zu gnadenlosen Verteilungskämpfen zwischen Fachbereichen und den Hochschulen untereinander um die knappen Ressourcen.
Mit der zunehmenden Zahl der MigrantInnenkinder stellt sich die Frage nach einem integrativen Bildungssystem neu und anders. (Nicht nur) die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes von 2006 und 2009 brachte das klare Ergebnis: Es besteht noch immer ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Hochschulzugang. AkademikerInnen produzieren AkademikerInnen. Bildung bleibt weiterhin ›Erbgut‹16. Ein 2008 vorgestellter Studierendensurvey hatte das gleiche Ergebnis: ProfessorInnenkinder übernehmen die Universitäten und sind bald unter sich. 60 Prozent der Studierenden haben Akademikereltern, das sind 11 Prozent mehr als 1993.17 Leider fehlt eine geschlechtsspezifische Auswertung.
Bildung als politischer Begriff
Die Kritik an der Orientierung des Bildungssystems am Beschäftigungssystem, wie sie während der 1970er Jahre geäußert worden ist, ist verstummt.18 Wir sind mit einem zunehmend an ökonomischen Kriterien orientierten Bildungssystem konfrontiert, das auf die Vermittlung von marktlegitimierter Aus- und Weiterbildung konzentriert ist.19 Es ist das Ziel von Bildungs- und Qualifizierungsprozessen, zum reibungslosen Funktionieren im kapitalistisch-patriarchalen System zu befähigen. Bildung und Ausbildung bietet damit kaum Gestaltungsfreiräume für ökonomisch nicht unmittelbar verwertbare Qualifikationen.
Bildung als politischer Begriff, wie er anlässlich der Bildungsreform der 1970er Jahre geprägt wurde, scheint heute ›mega out‹. Bildung, die zur Autonomie befähigt, zur Verweigerung gegenüber autoritären Führungsansprüchen und zur Ablehnung von patriarchalen Strukturen und Macht gegenüber Menschen ebenso. Wenn der Fortbestand auf unserem Planeten gewährleistet sein soll - das betrifft die ökonomischen und ökologischen Bedingungen und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen - wird eine Bildung notwendig, die dazu befähigt, verantwortlich mit sich selbst und seiner Mit- und Umwelt umzugehen. Kritisch-politische Kompetenzen, die dazu notwendig sind, kann man und frau lernen, wie Lesen, Schreiben und Rechnen. In unserer immer komplexer, aber auch immer kälter werdenden Welt sind sie ebenso wichtig. Anstatt die soziale Öffnung der Hochschulen zu beerdigen, wird es zwingend notwendig, Programme zur Förderung von Chancengleichheit für Menschen - egal welchen Geschlechts und welcher Herkunft - neu aufzulegen.
Anmerkungen
1) Zit. Nach: Informationen für die Frau 1961: 8.
2) Georg Picht 1965: Die deutsche Bildungskatastrophe, München.
3) Helga Jung-Paarmann 2011: "Reformpädagogik in der Praxis - Geschichte des Bielefelder Oberstufen-Kollegs. Die Jahre von 1969 bis 1982", in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg. Jahrgang 2011. Bielefeld: 155-192; hier: 155f.
4) Stefan Hemler 1999: "Von Kurt Falthauser zu Rolf Pohle. Die Entwicklung der studentischen Unruhe an der LMU München in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre", in: Venanz Schubert (Hg.): 1968. 30 Jahre danach. Sankt Ottilien: 209-241; hier: 221f.
5) Deutscher Bildungsrat 1970: Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen, Bad Godesberg.
6) Helga Jung-Paarmann 2011: 157.
7) Damit ist das sogenannte Begabten-Abitur gemeint, mit dem in einigen Bundesländern, nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahre 1959 "Personen, die für ein bestimmtes Fachgebiet eine hervorragende Befähigung besitzen", ohne das herkömmliche Abitur zum Hochschulstudium zugelassen werden können. Sie müssen zwei Gutachten von Hochschullehrern vorlegen und in einem selbstgewählten fachlichen sowie in einem überfachlichen Gebiet je eine Klausur und eine mündliche Prüfung absolvieren. Das bestandene Begabtenabitur gilt für das ganze Spektrum der Hochschuldisziplinen. Es wurde zunächst nur selten benutzt.
8) Schlüter 2006: 437.
9) Der Spiegel Nr. 11/1971: 83.
10) Oskar Negt 1994: "Wir brauchen eine zweite, eine gesamtdeutsche Bildungsreform", in: Oskar Negt (Hg.): Die zweite Gesellschaftsreform, Göttingen: 276-290; hier: 277.
11) Vgl. Dorthe Fischbach / Gisela Notz 1981: Lernprozesse in der beruflichen Bildung. Anwendungen der Psychologischen Handlungstheorie auf Berufsgrundbildungsmodelle, Weinheim und Basel: 18f.
12) Fischbach / Notz 1981: 26.
13) Vgl. Gisela Notz 2008: "Die letzte Schlacht gewinnen wir!", in: Elmar Altvater u.a. (Hg.): "Die letzte Schlacht gewinnen wir!" 40 Jahre 1968, Hamburg: 12-20; hier: 15.
14) Datenmaterial (2008/2009) der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK), Bonn 2010.
15) Vgl. Claudia Batisweiler 1999: "Zum Geschlechterverhältnis im Hochschul-›Unternehmen‹. Mehr Wissenschaftlerinnen durch neue Steuerungsmodelle?", in: Forum Wissenschaft 4/1999: 29-32; hier: 29.
16) vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007 und 2010.
17) Bundesministerium für Bildung und Forschung 2008.
18) Vgl. Fischbach / Notz 1981: 19f.
19) Vgl. Gisela Notz 1996: "Welche Qualifikationen für welche Zukunft?", in: beiträge zur feministischen theorie und praxis, 1996, H. 43/44: 101-112; hier: 109.
Gisela Notz, Dr., lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin, bis 2007 war sie wissenschaftliche Referentin für Frauenforschung im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie ist Redakteurin bei Lunapark21 und Mitglied im Beirat des BdWi. Ende August erscheint der von ihr herausgegebene Kalender "Wegbereiterinnen 2013" im elften Jahr.