"Keine Lager für Frauen! Alle Lager abschaffen!"
Menschen auf der Flucht leben unter äußerst schwierigen Verhältnissen - die Situation von Frauen auf der Flucht ist aber besonders dramatisch, aufgrund besonderer geschlechtsspezifischer Diskriminierungen. In der alltäglichen Praxis der bundesdeutschen und europäischen Flüchtlingspolitik findet dies jedoch keine Berücksichtigung. Dies zu ändern, ist ein zentrales Anliegen von Flüchtlingsfrauen, die sich seit einiger Zeit politisch selbst organisieren: "women in exile" protestiert öffentlich gegen die prekären Lebensbedingungen und geht auf die Straße. Gisela Notz beschreibt die Hintergründe.
Am 22. April 2015 war die europäische Flüchtlingspolitik Thema im Bundestag, einen Tag später beschäftigte sie einen Sondergipfel der EU. Am Wochenende vorher waren 800 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Zu Beginn der Debatte im Bundestag machte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) klar, dass es "die Kraft zur Differenzierung" zwischen den Flüchtlingen braucht. Als Beispiele nannte er die Probleme, die Bürgermeister mit Armutszuwanderung aus Rumänen haben und die Not einer jungen Afrikanerin, die vergewaltigt wurde, sowie Flüchtlinge, die sich an Bootstrümmer im Mittelmeer klammern (und vielleicht untergehen). Was aus dieser "Differenzierung" folgen soll, ist nicht präzise überliefert.1 So können wir nur vermuten, dass die Roma-AsylbewerberInnen, die besonders während der "Transitionszeit" verarmt sind, weil sie vom Abbau des Sozialstaates am meisten betroffen sind, die kein Dach über dem Kopf haben und ständig von Gewalt und Diffamierung bedroht sind, weniger willkommen sind, als die junge Afrikanerin, der zurecht der Opferstatus zuerkannt wird. Eine solche Kategorisierung taugt ebenso wenig, wie die Einteilung in (wirtschaftlich) "nützliche" und "unnütze" Flüchtlinge, weil sie bestimmt, inwiefern ein Mensch auf einem Staatsgebiet willkommen ist oder nicht.2 Der Bundesminister de Maizière bekannte sich in seiner oben erwähnten Rede - ebenso wie die Bundeskanzlerin - dazu, dass Seenotrettung das Erste und Dringlichste sei, was jetzt passieren muss. Das verlangt nicht, dass sozial ausgegrenzte marginalisierte Personenkreise noch weiter ausgegrenzt werden. Seenotrettung ist bitter notwendig, solange den Bootsflüchtlingen keine anderen Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Insofern ist es gut, dass der Minister seine früher geäußerte Meinung, Seenotrettungsprogramme spielten den Schleppern in die Hände, über Bord geworfen hat. Mit der Forderung, Asylzentren in Nordafrika einzurichten, bleibt er allerdings dabei, Flüchtlinge von der gefährlichen Reise über das Mittelmeer abhalten und aus den EU-Ländern fernhalten zu wollen. Verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen, ist menschenunwürdig.
Frauen und Kinder zuerst!
"Keine Lager für Frauen! Alle Lager abschaffen!" Diese Forderung trägt die feministische Flüchtlingsfrauengruppe "Women in Exile" aus Berlin und Brandenburg, die 2002 gegründet worden ist, um für ihre Rechte zu streiten, bei vielen Demonstrationen auf einem großen Transparent vor sich her. So zog sie anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März 2015 mit einer Demonstration vor den Brandenburgischen Landtag in Potsdam. Seit 2011 wird die Gruppe durch Unterstützerinnen ergänzt: "Women in Exile & Friends" wurde gegründet.3 Die Frauen verwiesen darauf, dass die Landesregierung Brandenburgs und die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren immer wieder aufgefordert wurden, zumindest Frauen und Kindern die Möglichkeit zu geben, aus den Lagern auszuziehen. Trotzdem mussten sie beobachten, dass die lokalen Behörden Geld zur Verfügung gestellt bekamen, mit dem sie bereits existierende isoliert liegende Lager ausbauen, und auch, dass zu den bestehenden Lagern neue dazu kommen. Für die Situation der Flüchtlingsfrauen und ihrer Kinder ergab sich bis jetzt keine Veränderung: Immer noch liegt die Mindestquadratmeterzahl, die Asylsuchenden zugeteilt wird, bei sechs qm pro Person. Nicht selten müssen sich daher fünf einander fremde Frauen einen dreißig Quadratmeter großen Raum teilen. Immer noch werden sie oft mit der Unterbringung in abgelegenen Unterkünften, z.B. ehemaligen Kasernen oder überfüllten Sporthallen ausgegrenzt. Mit einer Änderung des Baurechts ist nun auch das Bauen von Lagern und Containerunterkünften in Gewerbegebieten, die meist abseits von Wohnsiedlungen errichtet wurden, erlaubt. Die mangelhafte Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz und weite Wege bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit erschweren das ohnehin schon komplizierte Leben zusätzlich. Die Unterbringung in den Randbezirken der Städte, die einsame Lage der Gebäude meist irgendwo im Wald und die damit verbundene Isolation und Ausgrenzung bringt viele Menschen dazu, zu glauben, dass mit Flüchtlingen etwas nicht in Ordnung oder von ihnen etwas zu befürchten ist. Flüchtlingsfrauen werden zum Objekt stereotyper Zuschreibungen, weil Männer glauben, diese seien Frauen, die ihnen zur Verfügung stehen. Hinzu kommt die Kontrolle der Lager, die sich durch hohe Zäune, Stacheldraht, Kontrollen am Eingang und Überwachsungskameras ausdrückt.4 Dadurch wachsen Spannungen zwischen drinnen und draußen. Aggression und Gewalt von Rechtsradikalen gegen Unterkünfte von Flüchtlingen verschärfen die angstbesetzte Situation. Druck und Gewalt von außen hat auch Konsequenzen für die Situation im Lager: Krankheiten, Depressionen und Angst sind die Folgen.
Keine Lager für Frauen!
Unter beengten, abseits gelegenen, unzureichend ausgestatteten Lagern leiden alle Flüchtlinge; aber Flüchtlingsfrauen sind besonderen Belastungen ausgesetzt und sie sind doppelt Opfer von Diskriminierung: Sie werden als Asylbewerberinnen durch rassistische Gesetze ausgegrenzt und als Frauen diskriminiert. Viele Flüchtlingsfrauen fühlen sich in den Lagern unsicher. Sie haben keine Privatsphäre, keine Schutzräume. Die Zimmer sind von mehreren Personen belegt, Küchen und Sanitärräume müssen mit anderen BewohnerInnen geteilt werden. Sie müssen Höfe durchqueren oder ein bis zwei Stockwerke durchs Treppenhaus gehen, um zur Toilette zu gelangen. Die hygienischen Bedingungen sind oft katastrophal. Oft gibt es nur einen Waschraum, der von Männern und Frauen gemeinsam benutzt werden muss, Duschkabinen sind nicht abschließbar. Wenn es dunkel wird, trauen sich die Frauen oft nicht ihre Zimmer zu verlassen, denn sie sind in den Lagern ganz besonders rassistischen und sexistischen Angriffen, oft auch Demütigungen, Gewalt und sexueller Belästigung bis hin zu Vergewaltigungen ausgeliefert.5 Es leben zu viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen auf engstem Raum zusammen, da komme es oft zu Streitereien, berichten Flüchtlingsfrauen.6 Auch dem Heimpersonal können sie nicht trauen: "Mitarbeiter der Sammelunterkünfte missachten unsere Privatsphäre, indem sie die Zimmer während unserer Abwesenheit betreten oder sich [...] mit dem Generalschlüssel Zugang zu Wohnräumen verschaffen, ohne anzuklopfen."7 Hilfe von dem männlichen Sicherheitspersonal sei in der Regel nicht zu erwarten, dagegen komme es oft zu Konflikten. Viele trauen sich nicht oder haben keine Möglichkeit, über ihre "Erlebnisse" zu sprechen. Oft fehlt es am Notwendigsten: an dem Platz für ein Babybett, an genügend Waschmaschinen, an Spielplätzen für die Kinder, an warmem Wasser. In vielen Fällen müssen sie in Zelten oder Containern leben, die eigentlich für Waren gedacht waren und für Menschen ungeeignet sind. Selten wird ihnen die Möglichkeit gegeben, in privaten Wohnungen zu leben, so wie es für andere Menschen selbstverständlich ist.
Außerdem sind es Frauen, die sich "normalerweise" verantwortlich fühlen, unter den menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den Lagern den Alltag für die Kinder, Familien und Bezugspersonen zu organisieren. Sie erleben vor allem, wie entmündigend und entwürdigend das Leben mit Essenspaketen und Einkaufsgutscheinen ist. Sie sind es meist, die um jede Krankenbehandlung für sich oder ihre Kinder beim Sozialamt betteln müssen. Durch Arbeitsverbot und Residenzpflicht werden Frauen zusätzlich schikaniert, ausgegrenzt und ans Haus gefesselt. Und das dauert oft mehrere Jahre, weil sie auf die Entscheidung über ihr Asylverfahren warten müssen. Deshalb gehen sie mit ihrem Appell "Keine Lager für Frauen! Alle Lager abschaffen!" auf die Straße.
Alle Lager abschaffen! - Dublin III abschaffen!
Der Appell "Keine Lager für Frauen!" weist auf die doppelte Betroffenheit der Flüchtlingsfrauen hin, aber zugleich ist er mit der Forderung "Alle Lager abschaffen!", der für alle Geschlechter gilt, verbunden. Damit zeigen die Flüchtlingsfrauen, dass sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, keine Sonderrechte wollen, sondern solidarisch mit allen Flüchtlingen sind und ein menschenwürdiges Leben für alle fordern. Dazu gehört auch die Abschaffung von Asylbewerberleistungsgesetz, Arbeitsverbot und Residenzpflicht - ebenso für alle.
Nach Inkrafttreten der EU-Verordnung Nr. 604/2013 (Dublin III) am 19. Juli 2013, nach der der Mitgliedsstaat bestimmt wird, der für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, warten viele Flüchtlingsfrauen jeden Tag auf ihre Abschiebung in andere europäische Länder. Das bedeutet, sie können durch ganz Europa geschickt werden und sich nie sicher fühlen. Das Dublin-Verfahren gilt für alle Personen, die internationalen Schutz suchen. Die Flüchtlingsfrauen fordern daher: Dublin III abschaffen! Jede Frau hat ein Recht auf Selbstbestimmung!
Kampagnen und Bündnisse sind notwendig
Um auf die Situation von Flüchtlingsfrauen und -kindern aufmerksam zu machen und ihrem Anliegen Gewicht zu verleihen, haben "women in exile & friends" im Sommer 2014 über sechs Wochen lang auf Flößen Deutschland durchquert. Die Flöße betrachteten sie als schwimmende Demonstration, sie sollten die gefahrvollen, oft tödlichen Fluchtwege über das Mittelmeer symbolisieren. Gespräche mit Frauen in rund 40 Unterkünften, Lagern und Heimen in sieben Bundesländern zwischen Nürnberg und Berlin bestätigten ihre Erfahrungen: Flüchtlingsfrauen leiden besonders unter rassistischen Asylgesetzen. Sie fordern deshalb ein Leben in Sicherheit und Würde.
Mit ihren Anliegen hoffen die Flüchtlingsfrauen auf die Unterstützung von Frauenorganisationen, feministischen Organisationen, antirassistischen und Menschenrechtsorganisationen.
Gegen die rückwärtsgewandte Abschreckungspolitik
Geschlechtsspezifische Verfolgung oder rassistische Diskriminierungen zwingen viele Frauen zur Flucht oder zum Verlassen ihrer Heimat. Auch sie brauchen mehr Unterstützung durch die Staatengemeinschaft. Es wird Zeit, dass Politik und PolitikerInnen ihre rückwärtsgewandte Abschreckungspolitik der 1990er Jahre, die das Ziel hatte, Flüchtlinge von der Einreise nach Deutschland abzuhalten oder sie zum Zurückkehren zu zwingen, beenden. Es ist an der Zeit, dass die Landesregierungen landesweite Regelungen erlassen, die die Landkreise und Bezirke anweisen, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen - und aus den schon erklärten Gründen vor allem die Frauen und Kinder!
Es ist höchste Zeit, dass die lokalen Behörden die Integration der Flüchtlinge in Ihre Landkreise und Bezirke fördern oder überhaupt ermöglichen, indem sie die Deutschkurse ausbauen und gleichzeitig Kinderbetreuung ermöglichen. Und vor allem sollten sie ihnen die Möglichkeit geben, in "normalen" Wohnungen zu leben! Längst ist erwiesen, dass die Unterbringung in Wohnungen kostengünstiger ist, als die in Sammelunterkünften. Am 27. Februar 2015 hatte die Brandenburgische Landesregierung VertreterInnen von Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbänden zu einem "Asylgipfel" eingeladen. Was aus dem dort geäußerten Versprechen, dass endlich das Landesaufnahmegesetz geändert werden soll, um die Unterbringung von Asylsuchenden in Massenunterkünften zu vermeiden, geworden ist oder werden soll, ist unklar. Die Feministinnen haben keine große Hoffnung, denn im April 2011 haben sie ein solches Versprechen schon einmal bekommen und seitdem hat sich die Situation nicht verbessert, sondern eher verschlechtert.
Freilich fühlen sich die Flüchtlingsfrauen ermutigt, dass viele Menschen ihre Solidarität mit Flüchtlingen deutlich machen, indem sie gegen Rassismus auf die Straße gehen oder sich in Nachbarschaftsinitiativen für Asylsuchende einsetzen. Sie fragen aber danach, was das konkret heißt: "Refugees welcome", solange ihr Alltag von der Ausgrenzung in Sammelunterkünften, von rassistischen Sondergesetzen wie dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Angst vor Abschiebung bestimmt ist.8
Anmerkungen
1) Sabine am Orde / Ulrich Schulte 2015: "Ein bisschen mehr Hilfe", in taz vom 23.4.2015: 4.
2) Vgl. auch Andreas Guidi 2013: "Erosion von sozialen Rechten. Asylsuchende Roma in der EU", in Forum Wissenschaft, H. 2/2013: 11-15; hier: 12.
3) Seit 2013 wird "Women in Exile" von der Bewegungsstiftung e.V. finanziell und ideell unterstützt.
4) Women in Exile 2011: Kein Lager für Flüchtlingsfrauen, Berlin-Brandenburg, Februar 2011.
5) "Women in Exile and Friends" - Flugblatt vom Sommer 2014.
6) Henriette Wrege 2015: "Anwältin der Flüchtlingsfrauen. Elisabeth Ngari und die ›Women in Exile‹", in: FrauenRat 2/2015: 12-13.
7) Women in Exile & Friends: Campaign Newsletter Nr. 1, November 2013: 1.
8) Women in Exile & Friends: Compaign Newsletter Nr. 6, März 2015: 4.
Gisela Notz, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin, Redakteurin von Lunapark21. In Kürze erscheint ihr neues Buch: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart: Schmetterling theorie org.