Die Rolle der Intelligenz und der Wissenschaft im Ersten Weltkrieg
Die Tagungen, Bücher, Artikel, Veranstaltungen und Ausstellungen zum Thema "100 Jahre Erster Weltkrieg" sind kaum mehr überschaubar. Briefe, Fotos, Tagebücher werden ins Internet gestellt; alles zur Kenntnis zu nehmen, ist schier unmöglich. Schon lange nicht wurde zwischen HistorikerInnen, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit so viel gestritten wie über die Ursachen und die Auslösung des Ersten Weltkrieges. Gisela Notz beleuchtet die damaligen Zeitumstände mit einem besonderen Blick auf die deutschen Intellektuellen.
Die von HistorikerInnen aufgespürten oder vermuteten Gründe sind vielfältig und spekulativ. Auch sie füllen 100 Jahre später ganze Bücherschränke. Fest steht: Der deutsche Kaiser Wilhelm II. verkündete am 1. August 1914 vom Balkon des Berliner Schlosses, das gerade wieder aufgebaut wird, den Krieg. Der nun ›ausgebrochene‹ Krieg, so betonte er, sei ein Verteidigungskrieg, denn er sei "das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches". Alle sollten nun in Reih und Glied hinter ihm stehen, laut verkündete er der aufgeputschten Menge: "In dem bevorstehenden Kampfe kenne Ich in Meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche."1 Die versammelte Menge antwortete ihm mit dem Lied "Nun danket alle Gott" - vielleicht wurde aber auch die preußische Volkshymne "Heil dir im Siegerkranz" angestimmt. Schon darüber sind sich die Quellen nicht einig. In der versammelten Menge waren VertreterInnen aller Bevölkerungsschichten vertreten, ArbeiterInnen, Bürgerliche und auch Intellektuelle, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen. Unter dem deutschen Bildungsbürgertum war die pro-militärische Einstellung weit verbreitet. Schließlich stimmten nicht nur die viel gescholtenen Sozialdemokraten, auch die bürgerlichen Parteien, konservative und liberale, am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu. Frauen konnten bekanntlich nicht abstimmen, die weit überwiegende Mehrzahl der arbeitenden Klasse ebenfalls nicht, weil sie nicht im Reichstag saßen.
Die Schuldfrage
Die in den Krieg gezogenen Soldaten waren zunächst der Meinung, der Krieg werde allenfalls einige Monate dauern, Weihnachten seien sie wieder bei ihren Lieben. Da irrten sie sich.
Der Erste Weltkrieg dauerte bis November 1918, er begann in Europa. Es folgten das Osmanische Reich, Japan und das britische Empire, damit auch Indien, Australien, Kanada, Afrika, Asien und weitere Gebiete, und ab Mai 1917 auch die USA. Insgesamt nahmen 38 Staaten am Krieg teil. Mit der Entwicklung moderner technologischer Waffensysteme, darunter Giftgas und Flammenwerfer, erlangte die Kriegsführung eine neue Dimension. Insgesamt waren 70 Millionen Soldaten beteiligt, 20 Millionen Menschen wurden ermordet und verstümmelt, die meisten waren jung; 5% der Opfer gehörten zur ›Zivilbevölkerung‹, darunter viele Frauen und Kinder.2 Hunderttausende von Alten, Frauen und Kindern starben an Unterernährung und Infektionskrankheiten, ganze Städte und Landstriche wurden verwüstet. Die ZeitzeugInnen des Krieges leben nicht mehr.
Die Schlafwandler, wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, so nennt Christopher Clark, ein australischer im britischen Cambridge lehrender Historiker sein 2013 in deutscher Sprache erschienenes Buch.3 Seine These, die kriegsführenden Länder seien schlichtweg wie Schlafwandler vom Krieg überfallen worden und die deutschen Militaristen trügen zwar Schuld am Ersten Weltkrieg - aber nicht mehr als alle anderen, wurde von den bürgerlichen Medien begierlich aufgenommen. Aus vielen Quellen4 wissen wir, dass keine der beteiligten Nationen irgendwie in den Krieg hineingerutscht ist. Keine ist unschuldig an der "Urkatastrophe" oder dem "Jahrhundertereignis", Deutschland schon gar nicht. Die damaligen deutschen Machthaber und die hinter ihnen stehenden Konzerne und Banken, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befanden, können nicht von ihrer Schuld am Ersten Weltkrieg freigesprochen werden. Das wurde schon früher versucht, indem behauptet wurde, die Regierungen Europas seien gegen ihren Willen in den Krieg "hineingeschlittert" und trügen alle eine vergleichbare Schuld.5 Der Erste Weltkrieg war kein "gottgewolltes Naturereignis", er war von Menschen von langer Hand vorbereitet. Dem Ersten Weltkrieg ging eine Serie von Kriegen und Konflikten voraus. Vor allem ging es dabei um die Aufteilung der Welt unter die Kolonialmächte. Kaiser Wilhelm II. begleitete die Weltpolitik mit klirrenden Reden, die bei den Regierenden Großbritanniens, Frankreichs und Russlands große Furcht erzeugten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann eine hektische Flottenrüstung mit dem Bau von Großkampfschiffen und Schlachtkreuzern. Die deutsche Wirtschaft spielte dabei eine entscheidende Rolle. Und auch die Medien: seit 1913 erschienen in der deutschen Presse Artikel, die vor einem russischen Angriff auf Deutschland warnten. Danach richtete Wilhelm II. seine Politik aus. Deutschland wollte eine militärische Vormachtstellung in Kontinentaleuropa erringen, Österreich-Ungarn seine bei den vorangegangenen Balkankriegen (1912-1913) brüchig gewordene Vormachtstellung auf dem Balkan wieder gewinnen.
Den Ausgangspunkt für den Ersten Weltkrieg bildete die jahrzehntelange Hochrüstung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn und Russland. Der Auslöser waren die Todesschüsse von Sarajevo: Am 28. Juni 1914 stattete der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, der Hauptstadt Bosniens, Sarajevo, einen Besuch ab. Das Attentat beging ein nationalistisch gesinnter 19jähriger bosnischer Serbe, ein armer Bauernsohn, der auf den Thronfolger und seine Frau Sophie schoss. Beide waren sofort tot. Österreich-Ungarn nutzte das Attentat um einen Angriffskrieg auf Serbien zu führen. Da hinter Serbien die Schutzmacht Russland stand, brauchte Österreich-Ungarn die Unterstützung Deutschlands. Die bekam es durch Wilhelm II, der mit den Serben ›aufräumen‹ wollte und zwar bald, wie er schon vor der Kriegserklärung betonte. Und so geschah es. Die deutsche Regierung war es auch, die alle Versuche den Konflikt zu deeskalieren ablehnte oder vereitelte, so auch das Angebot des Zaren, den Schiedsgerichtshof in Den Haag anzurufen sowie ein Vermittlungsgesuch des britischen Außenministers. Großbritannien wollte sich zunächst aus dem Krieg heraushalten. Deutschland wollte den Krieg, um seine Machtposition in Europa auszubauen und seinen Anspruch auf Weltgeltung durchzusetzen.6 Den Kriegsparteien kam die Berliner Entscheidung gelegen. Die SPD rief für den 28. Juli zu Massendemonstrationen gegen den Krieg auf. Ein Demonstrationsverbot wurde unterlaufen, so kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Kriegsgegnern und der Polizei, aber auch zwischen Kriegsgegnern und -befürwortern. Vor den Kasernen drängten sich bereits die Freiwilligen.
Alle Soldaten waren Männer
Es folgte ein Krieg voller Leid und Entbehrungen. Alle Soldaten im Ersten Weltkrieg waren Männer. Waffentragen und Kriegführen waren männliches Recht, Pflicht und Privileg zugleich. Viele junge Menschen waren zum Kriegsdienst gezwungen worden. Erich Kästner stellt in seinem Gedicht Primaner in Uniform anschaulich die Angst der jungen Leute vor dem Krieg dar, aber auch das Treiben der Lehrer und Pfaffen, die sie hineinzogen. In dem Gedicht heißt es unter anderem: "Der Rektor Jobst war Theolog für Gott und Vaterland. Und jedem, der in den Weltkrieg zog, gab er zuvor die Hand." Und am Ende steht: "Der Rektor wünscht uns Glück. Und blieb mit Gott und den andern Herrn gefasst in der Heimat zurück." Auch von der Not an der "Heimatfront" waren die Herren weit weniger betroffen als die Arbeiterklasse, die hungerte und deren "Steckrübenwinter" in die Geschichte eingegangen sind.
Kriegserklärung und Generalmobilmachung lösten im Deutschen Reich eine Welle nationalistischer Hysterie aus. Viele Deutsche aus (fast) allen Bevölkerungsschichten nahmen die Kriegserklärung 1914 begeistert auf und identifizierten sich mit der Kriegspolitik ihrer Regierung. Auch unter dem deutschen Bildungsbürgertum war die pro-militärische Einstellung weit verbreitet. Theologen gaben dem Krieg religiöse Weihen. Zunächst segneten sie die Waffen, während des Krieges beteten sie um Gottes Hilfe für den deutschen Sieg, "Deutschland muss sich verteidigen", das war der Tenor der meisten Predigten, nicht nur am 5. August 1914, dem "außerordentlichen Bettag" der christlichen Kirchen, zu dem der Kaiser aufgerufen hatte. Wenig später hielten sie Trauer- und Gedenkgottesdienste ab, in denen sie die "Heldensöhne" ehrten, die in "Gottes Hand" für das "Vaterland" gefallen waren.
Ein großer und wunderbarer Krieg?
Deutsche Professoren fühlten sich bemüßigt, die Verteidigung der deutschen Kultur gegen die bloße Zivilisation Englands als Kriegsgrund zu erklären. Der große deutsche Soziologe und Professor der Nationalökonomie Max Weber, der 1889 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (später: Humboldt-Universität) promoviert hatte, sprach für viele Akademiker, wenn er von "diesem großen und wunderbaren Krieg" schrieb und dass es herrlich sei, ihn noch zu erleben, aber sehr bitter, nicht mehr an die Front zu dürfen. Der Patriot und Nationalist hatte sich als Reserveleutnant sofort zum Kriegsdienst gemeldet und war furchtbar unglücklich wegen seines Alters - er war 50 Jahre alt - nicht mittun zu dürfen und sich stattdessen um das Lazarettwesen an seinem Wohnort Heidelberg kümmern zu müssen. Wie viele seiner Kollegen sah er das zaristische Russland als Hauptbedrohung an. Noch 1916 rechtfertigte er die Rolle Deutschlands: "Wir hatten nur die Wahl, im letzten möglichen Augenblick vor seiner [gemeint: Österreichs] Zerstörung dem Rad in die Speichen zu fallen oder ihr zuzusehen und es nach einigen Jahren über uns selbst hinweggehen zu lassen. Gelingt es nicht, den russischen Expansionsdrang wieder anderswohin abzulenken, so bleibt es auch künftig dabei."7 Sein jüngerer Bruder Karl war bereits an der Ostfront gefallen.
Eine (zu) geringe Zahl der Intelligenz hielt jede Art von Krieg als ein untaugliches Mittel der Politik, viele zögerten, weil sie nicht sicher waren, ob der Krieg Vor- oder Nachteile für das "eigene" Land und damit für sie brachte und wieder andere konnten ohnehin von einem Tag auf den anderen ihre Meinung ändern, sie wollten nicht als ›Verteidiger des Vaterlandes‹ zurückstehen. Die Kriegsbefürworter setzten sich durch, weil "an der Spitze von Staat und Gesellschaft die Bereitschaft zum Kriege existierte und das lange bevor an irgend einen Anlass oder Auslöser zu denken war, weil in den Köpfen und Planungen der Herrschenden generell Kriegsziele lebten."8
Im September 1914 wurde durch führende deutsche Publizisten und Intellektuelle der "Aufruf an die Kulturwelt" verfasst, später bekannt geworden als "Manifest der 93", weil es von 93 männlichen(!) führenden deutschen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern unterzeichnet wurde. Im Oktober 1914 wurde es in allen großen Zeitungen Deutschlands veröffentlicht. In dem Manifest - das in sprachlicher Anlehnung an die 95 Thesen von Martin Luther durch Ludwig Fulda geschrieben worden war - wurden die Vorwürfe der Kriegsgegner des Ersten Weltkrieges bestritten, der deutsche Militarismus verteidigt, die Übergriffe deutscher Truppen rundweg abgestritten und die kriegerischen Maßnahmen der Deutschen als Selbstverteidigung in Notwehr dargestellt. Wörtlich heißt es u.a.: "Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser."
Die Radikalität der Aussagen der 93 Männer wurden von der "Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches" vom 16. Oktober 1914, die von mehr als 3.000 Hochschullehrern, also fast der gesamten Dozentenschaft der 53 deutschen Universitäten und Hochschulen, unterzeichnet wurde, noch übertroffen. Die Erklärung, verfasst von dem Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, folgte dem "Manifest der 93" und rechtfertigte wie dieses den Ersten Weltkrieg als Verteidigungskampf deutscher Kultur sowie den wichtigen Beitrag des preußischen Militarismus für die Erziehung der Jungend zur Pflichttreue und Unterordnung und damit zur Ertüchtigung zum wissenschaftlichen Tun. In beiden Manifestationen spiegelt sich die bedingungslose Kriegsbegeisterung und die überdimensionale Selbsteinschätzung der "Intelligenz". Im In- und Ausland wurde ihnen große Beachtung zuteil. So dienten sie zur Propaganda und schürten die innerdeutsche Kriegsbegeisterung. Versuchte Gegendarstellungen fanden offensichtlich kaum Beachtung. In Deutschland fanden eine Resolution von englischen Hochschullehrern sowie die Antwort von über 100 Gelehrten aus anderen Ländern, die in der New York Times am 21. Oktober 1914 erschien, keine Verbreitung.
In allen kriegführenden Ländern machten die Intellektuellen mobil, um mit Worten und Argumenten zugunsten der eigenen Regierungen und ihrer Politik den Krieg zu unterstützen. Auch die Mehrzahl der deutschen Künstler identifizierte sich mit der Kriegspolitik. Frauen hatten zwar die Aufrufe nicht unterschrieben, mischten jedoch eifrig mit. Unter den bürgerlichen Frauenverbänden war es der von der promovierten Juristin Anita Augspurg und ihrer Freundin, der Lehrerin Lida Gustave Heymann gegründete Frauenstimmrechtsverband, der als einziger Frauenverband der bürgerlichen Frauenbewegung die Unterstützung des Krieges in jeder Form ablehnte.9 Er verbreitete einen Aufruf, gegen den Krieg zu protestieren und sofort eine internationale Frauenkonferenz in einem neutralen Land einzuberufen. Clara Zetkin hatte als Sekretärin des Internationalen Sozialistischen Frauenbüros bereits vom 26. bis 28. März 1915 die Berner Internationale sozialistische Frauenkonferenz gegen den Krieg für alle am Krieg beteiligten Länder einberufen. Die internationale Frauenkonferenz des Frauenstimmrechtsverbandes fand vom 28. April bis 1. Mai 1915 in Den Haag statt. Rund 1.200 Delegierte aus kriegsführenden und neutralen Ländern gründeten dort einen "internationalen Frauenausschuss für den dauernden Frieden", aus dem 1919 die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) wurde, die heute noch besteht.
Während des Ersten Weltkrieges standen die PazifistInnen mit ihrer scharfen Kritik gegen den Krieg auch und gerade in intellektuellen Kreisen bald alleine. Gertrud Bäumer (1873-1954), promovierte Nationalökonomin, Vorsitzende und führende Protagonistin des "Bund Deutscher Frauenvereine" (BDF), der Dachorganisation der bürgerlichen Frauenverbände, schrieb zu Beginn des Ersten Weltkrieges, dass der Soldat es zu allen Zeiten süß und erhaben gefunden habe, für das Vaterland zu sterben.10 So verherrlichte sie den Tod fürs Vaterland, den die Soldaten in den Schützengräben sterben sollten. Sie hatte sich strikt dagegen ausgesprochen, dass sich die Friedensfrauen mit den Frauen aus den kriegführenden Ländern zusammensetzten, in ihren Augen waren das die Frauen der "Feinde". Mit den Kongressteilnehmerinnen ging sie scharf ins Gericht. Sie erklärte die Teilnahme als "unvereinbar mit der vaterländischen Gesinnung und der nationalen Verpflichtung der deutschen Frauenbewegung" und somit als unvereinbar mit jeder verantwortlichen Position und Arbeit innerhalb des BDF.
Der Kampf an Front und "Heimatfront"
Aus patriotischer Motivation folgten Frauen aus allen Gesellschaftsschichten dem Ruf des Nationalen Frauendienstes, mit dem Gertrud Bäumer, unterstützt durch Helene Lange und viele andere, ein Betätigungsfeld für konservative Frauen geschaffen hatte, die an der "Aufrechterhaltung der Heimatfront" mitarbeiten wollten. Durch die Übernahme staatsbürgerlicher Pflichten während des Krieges erhofften sie sich, nach Ende des Krieges staatsbürgerliche Rechte zu erlangen, für die sie bisher erfolglos gekämpft hatten. Sie schickten nicht nur Millionen Päckchen mit Liebesgaben an die Frontsoldaten und Verwundeten, um sie zum Weitermachen in den Schützengräben zu ermuntern. Zu den Aufgaben an der ›Heimatfront‹ gehörte auch die kommunale Fürsorgearbeit, Kranken- und Wöchnerinnenhilfe, die Errichtung von Kindergärten und Horten sowie die Verteilung der Frauen auf Arbeitsplätze in der Kriegswirtschaft. In den Rüstungsbetrieben arbeiteten bald 90% Frauen, unter ihnen zahlreiche Zwangsarbeiterinnen, niedrig entlohnt zu miserablen Arbeitsbedingungen. Durch die enge Verschränkung zwischen ›Front‹ und ›Heimatfront‹ wurde eine Mobilisierung der gesamten Gesellschaft möglich und eine Militarisierung, die auch Frauen, ja die gesamte Gesellschaft umfasste.
Viele Studenten kämpften an der Front gegen den "Erzfeind" Frankreich und England. Aber auch Studentinnen unterstützten den durch die Männer geführten Krieg. Das Kriegsgeschehen bewegte auch viele von ihnen leidenschaftlich und sie waren von dem Gedanken erfüllt, dass die Frauen mithelfen müssten, den "Endsieg Deutschlands" zu erringen. Nicht wenige Studentinnen unterbrachen ihr Studium, um als Krankenhelferinnen oder in Munitionsfabriken tätig zu sein.11
Einige, aber nicht alle, waren durch die Erlebnisse, die sie am Rande der Schlachtfelder oder auch an der Heimatfront hatten, vom Krieg geheilt, zum Beispiel die damals kaisertreue Bonner Studentin Klara Marie Faßbinder. Sie hatte an der Bonner Universität gerade das Staatsexamen für das höhere Lehramt in Deutsch, Französisch, Geschichte und Philosophie abgelegt, als sie 1918 die Schlachtfelder aus der Nähe kennenlernte und Einsicht in die "Männersache" Politik und Militarismus bekam.12 Freiwillig und voller Überzeugung von der Überlegenheit Deutschlands, war sie in den Dienst der kaiserlichen Armee gezogen und erteilte den Männern des dritten Hauptquartiers südlich von Sedan "Vaterländischen Unterricht", um die Moral der Truppe zu stärken und sie zum Durchhalten zu ermuntern. Wie andere Frauen wurde sie im unmittelbaren Gefahrenbereich der Front eingesetzt, kämpfte allerdings nicht mit der Waffe. Dennoch prägten sie die Schrecken und Grausamkeiten des Krieges nachhaltig und bestimmten die Richtung ihres weiteren Lebens. Der Krieg, so erkannte sie, war etwas, das dem hohen Stand der menschlichen Entwicklung nicht entsprechen, mit dem christlichen Glauben, dem sie als überzeugte Katholikin anhing, nicht vereinbar und niemals Mittel zur Konfliktlösung sein konnte. Von der glühenden Nationalistin wurde sie zur entschiedenen Pazifistin. Sie hatte erfahren, wie tragisch und abscheulich es war, für das "Vaterland" zu sterben; für Franzosen und Deutsche gleichermaßen. Vom "Erbfeind Frankreich" mochte sie künftig nichts mehr wissen. Die "gefährdete Sache" des Friedens wollte sie fortan nicht mehr den Berufspolitikern überlassen, sondern sich in der Friedensbewegung engagieren, was sie bis zu ihrem Tode tat. Das Eiserne Kreuz, das ihr 1919 verliehen werden sollte, lehnte sie ab. Es passte nicht für eine "miles pacis", eine Kämpferin für den Frieden, wie sie sich selbst fortan bezeichnete.
Nach dem Kriege erinnerten an (fast) allen deutschen Universitäten Tafeln mit langen Namensreihen an die im Kriege umgekommenen Studenten. Pfarrer vieler Gemeinden gedenken bis heute jährlich zum Volkstrauertag vor den Kriegerdenkmälern der gefallenen "Helden" und beten mit ihren Gemeinden für sie. Schließlich waren sie "Mit Gott für König und Vaterland" zu Tode gekommen.
Anmerkungen
1) Zitiert nach Jeffrey Verhey 2000: Der"Geist von 1919" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg: 118.
2) Auch wenn diese Zahl im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg mit 48% und Vietnamkrieg mit 90% Zivilbevölkerung relativ niedrig erscheint, läutete der Erste Weltkrieg eine Epoche ein, mit der die Unterscheidung zwischen Front und Hinterland hinfällig wurde.
3) Christopher Clark 2013: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München.
4) Vgl. zum Beispiel Kurt Pätzold 2014: 1914 Das Ereignis und sein Nachleben, Berlin; Gerd Fesser 2014: Deutschland und der Erste Weltkrieg, Köln.
5) Widerlegt von Fritz Fischer 2009: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des Kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf, zuerst erschienen 1961.
6) Vgl. hierzu: Wolfram Wette 2014: "1914: Der deutsche Wille zum Zukunftskrieg", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1: 41-53; hier: 42.
7) Zitiert nach Bernhard Schulz 2014: "Max Weber und der Erste Weltkrieg. Das Wesen der Vernunft", in: Der Tagesspiegel vom 21.4.
8) Kurt Pätzold 2014: 1914 Das Ereignis und sein Nachleben, Berlin: 29.
9) Vgl. Barbara Guttmann 1989: Weibliche Heimarmee, Frauen in Deutschland 1914-1918, Weinheim: 170.
10) Gertrud Bäumer 1914: Der Krieg und die Frau, Stuttgart / Berlin.
11) Ernst Theodor Nauck 1953: Das Frauenstudium an der Universität Freiburg i. Br., Freiburg: 26.
12) Gisela Notz 2001: "Klara Marie Fassbinder (1890-1974) and Women's Peace Activities in the 1950s and 1960s", in: Journal of Women's History 13.3: 98-123.
Gisela Notz, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin, lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin, Redakteurin von Lunapark21, Herausgeberin des Kalenders Wegbereiterinnen, der seit 2003 jährlich erscheint. http://www.gisela-notz.de.