Vom Honoratiorenverein zum "Massenverband":

Die Wiederbelebung des Bundes Demokratischer Wissenschaftler 1972

Als sich am 1. Juli 1972 über 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Marburg zum Kongress "Wissenschaft und Demokratie" trafen, ging es ihnen vor allem darum, die in den Jahren zuvor erreichten Fortschritte im Kampf um eine Demokratisierung von Hochschulen und Forschung zu bewahren und voranzutreiben. Als organisatorische Form dieses Kampfes wurde am 2. Juli 1972 die Wiedergründung des BdWi beschlossen. Mitinitiator Reinhard Kühnl erinnerte sich 1998 an diese Zeit.

I

Als wir im Frühjahr 1972 beschlossen, den nach dem Tode von Werner Hofmann sanft entschlummerten Bund Demokratischer Wissenschaftler neu zu beleben, meinten wir, Rückenwind zu spüren: Studenten- und Assistentenbewegung hatten einen mächtigen Aufschwung genommen und das Klima an den Hochschulen wesentlich verändert. Im Zuge der raschen personellen Ausweitung des wissenschaftlichen Personals an den Hochschulen hatte auch eine beträchtliche Zahl linker Wissenschaftler Hochschullehrer- und Assistentenstellen erhalten und so das seit dem Kaiserreich faktisch bestehende Monopol systemkonformer, überwiegend konservativer Wissenschaft partiell durchbrochen. In einer ganzen Reihe von Bundesländern waren Hochschulgesetze verabschiedet worden, die - zum ersten Mal in der neueren deutschen Hochschulgeschichte - Mitbestimmungsrechte des Mittelbaus, der Studenten und sogar der nicht-wissenschaftlichen Angestellten gewährten. Die sozial-liberalen Parteien proklamierten die Notwendigkeit demokratischer Reformen und der Bundeskanzler Willy Brandt verkündete als Leitlinie seiner Politik: "Mehr Demokratie wagen". Die Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze, die Verträge von Moskau und Warschau (denen dann die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973 folgte), hatten das gesamtpolitische Klima wesentlich verändert zugunsten internationaler Entspannung und zugleich innenpolitischer Liberalisierung.

Gewiß: die Gegenkräfte hatten sich auch formiert. Die Unionsparteien verschärften ihren Kampf gegen Entspannung und Demokratisierung, die extreme Rechte entfachte eine Kampagne mit dem Slogan "Scheel und Brandt an die Wand" und an den Hochschulen war der "Bund Freiheit der Wissenschaft" gegründet worden, der die Antireformkräfte zusammenfaßte und den Kampf um die Rückgewinnung der ideologischen Hegemonie resolut aufnahm. Bereits im Januar 1972 hatten die Ministerpräsidenten der Länder unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Brandt den "Radikalenerlaß" beschlossen, der die besonders in der jungen Generation stärker gewordene Linke vom Zugang zum öffentlichen Dienst, vor allem zu den Institutionen von Bildung und Wissenschaft, ausschließen sollte. Doch Reichweite und Durchsetzungsfähigkeit des Erlasses und überhaupt dieser Gegenoffensive von rechts waren zunächst nicht klar erkennbar. Wir waren überzeugt davon, daß wir in der Offensive waren und die reaktionären Kräfte auf dem Rückzug.

Dieser Optimismus wurde mächtig beflügelt durch die großen Erfolge der Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika, die eine Bastion des Imperialismus nach der anderen zum Einsturz brachten: Von Vietnam bis Angola und von Äthiopien bis Nicaragua und Chile. Und daß die Sowjetunion diese Bewegungen unterstützte und - durch die Existenz ihres militärischen Drohpotentials - diese Erfolge überhaupt erst ermöglichte, brachte ihr - und den kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern - bei vielen linken Intellektuellen Sympathien ein, obwohl der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 auch heftige Proteste hervorgerufen hatte.

II

So waren die politischen und atmosphärischen Bedingungen beschaffen, als wir uns entschlossen, die "demokratischen Wissenschaftler" durch die Wiederbelebung des BdWi politisch stärker handlungsfähig zu machen und in die Front der Reformkräfte einzubringen. Gemeinsam mit der GEW, der Bundesassistentenkonferenz und dem Verband Deutscher Studentenschaften rief der BDW zu einem Kongreß "Wissenschaft und Demokratie" in Marburg auf, zu dem mehr als 1 000 Teilnehmer/innen kamen. Im Anschluß an diesen Kongreß fand am 01./02. Juli 1972 die Mitgliederversammlung des neu formierten BdWi statt, an der 352 WissenschaftlerInnen teilnahmen. In den engeren Vorstand wurde Walter Jens und der Staatsrechtslehrer Helmut Ridder gewählt, die schon dem BDW-Vorstand von 1968 angehört hatten, und ich. Dem weiteren Vorstand gehörten u.a. an: Wolfgang Fritz Haug, Margeritha von Brentano und Ernst Tugendhat (alle aus der Philosophie), Georg Fülberth (Politikwissenschaft), Urs Jaeggi (Soziologie), Thomas Metscher (Germanistik) und Erich Wulff (Psychiatrie). Die Dominanz der Sozial- und Geisteswissenschaften war eklatant. In der Tat war die Reformbewegung dieser Jahre hauptsächlich von diesen Disziplinen getragen - bei den Hochschullehrern ebenso wie bei den Studierenden und den Assistenten. Eine stärkere Politisierung in den Naturwissenschaften und der Medizin setzte erst im Kontext der Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre ein, als - angesichts der realen Gefahr eines atomaren Krieges in Europa - Biologen, Physiker, Chemiker und Ärzte verstärkt nach der gesellschaftlichen Verantwortung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zu fragen begannen.

Die Mitgliederzahl, die 1968 etwa 150 betragen hatte, stieg rasch an: 1972 gehörten knapp 1.000, 1973 fast 1.300 WissenschaftlerInnen dem Bund an. Studierende konnten damals noch nicht Mitglied werden. Die Abkürzung BDW mußte - nach Intervention des Bundes Deutscher Werbeberater - in BdWi abgeändert werden.

III

Die Debatten in den beiden folgenden Jahren bekräftigten schließlich dieses Selbstverständnis. Daß der BdWi sich als links verstand, war klar. Durchaus umstritten aber war zunächst, was das zu bedeuten hatte: Verteidigung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats gegen die Angriffe von rechts und von oben in einem Bündnis aller linken Kräfte von Liberalen bis Kommunisten bei gleichzeitiger Gewährleistung offener Diskussionen über die Eigentumsordnung? (Das Grundgesetz selbst garantiert in Art. 15 ja die Möglichkeit der Weiterentwicklung in Richtung auf eine sozialistische Demokratie.) Oder Verwerfung des gesamten Verfassungssystems als bloß bürgerlich und die Festlegung auf das Ziel des Sozialismus? Der § 1 der am 02.07.1972 beschlossenen Satzung hatte das Selbstverständnis des alten BDW übernommen:

§ 1: In dem Bestreben, den demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen, stellt sich der Bund demokratischer Wissenschaftler folgende Aufgaben:

  • Das Eintreten für eine ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußte Wissenschaft, für Erweiterung der Formen von Öffentlichkeit, von Mit- und Selbstbestimmung und gegen antidemokratische Tendenzen in der Hochschule, Bildungswesen, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat;
  • Schutz wissenschaftlich Tätiger gegenüber ungerechtfertigten Maßnahmen;
  • Förderung der demokratischen Mitwirkung aller Mitglieder der Hochschule in der Selbstverwaltung von Forschung und Lehre;
  • Zusammenwirken mit gleichgerichteten Kräften an Hochschulen anderer Länder.

In welcher Richtung sowohl Konkretisierung wie Vertiefung gesucht wurden, mag der Beschluß des Bundesvorstands vom 16. Juli 1972 zeigen, mit dem die folgenden Arbeitsgruppen eingesetzt wurden:

  • Machtmißbrauch in den Hochschulen, Tätigkeit der Rechtskräfte im Bildungssektor
  • Berufsverbot und Diskriminierung von Wissenschaftlern
  • Bildungsfinanzierung
  • Hochschulgesetzgebung
  • Konzepte demokratischer Bildungsreform
  • Beispielsammlung zur Geistesfreiheit - Theoretische Feststellungen zur Unabdingbarkeit von Denkfreiheit und Lehrfreiheit seit der Renaissance oder seit Spinoza und der frühen Aufklärung; politische Realisierung der genannten Freiheiten in der Zeit seit der Französischen Revolution von 1789.

Die Wiederbelebung des BdWi war mit einem Bündnisangebot an die Studentenbewegung und an die Gewerkschaften verbunden. Und die programmatischen Ziele wie auch die konkreten Stellungnahmen und Aktivitäten waren sehr bewußt auf eine solche Bündnispolitik gerichtet. Schon die Mitgliederversammlung vom 02.07.1972 hatte eine "politische Erklärung" beschlossen, in der es hieß:

"Der Bund demokratischer Wissenschaftler begreift sich als politischer Verband, der seine Mitglieder zu enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und zur aktiven Betätigung in diesen auffordert."

Dennoch stießen wir bei der für uns primär zuständigen Gewerkschaft, der GEW, auf beträchtliches Mißtrauen, das seinen Grund wohl in der Befürchtung hatte, daß der BdWi doch zu einer Konkurrenzorganisation werden könnte. Es mag sein, daß als weiteres Motiv der unterschiedliche Umgang mit den Kommunisten in den beiden Organisationen hinzukam - ein Problem, das in der Zeit der ja hauptsächlich gegen die Kommunisten gerichteten Berufsverbote an Bedeutung gewann. Für die der SPD nahestehende GEW stellte die gleichberechtigte und öffentliche Mitwirkung von Kommunisten im BdWi sicherlich eine permanente Irritation dar.

Was die weiteren Konkretisierungen unserer Aktivitäten und Stellungnahmen betrifft, so wurden sie uns von der politischen Realität aufgezwungen: Die umfassende Anwendung des Radikalenerlasses führte zu einer massenhaften Einschüchterung der jungen Intelligenz. Die von der Union regierten Länder unterschieden sich dabei allenfalls im Grad der Härte und der Brutalität von den SPD-regierten Ländern.

Schon die "politische Erklärung" der Mitgliederversammlung vom 02.07. 1972 hatte die Funktion dieser Berufsverbote präzise bestimmt:

"Mit Entschiedenheit verurteilen die Teilnehmer an der Mitgliederversammlung auch die Diskriminierung von Wissenschaftlern, die u.a. durch den Beschluß der Konferenz der Ministerpräsidenten vom 28. Januar 1972 wegen ihrer kritischen Einstellung zur gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Situation der BRD als ›radikal‹ eingestuft werden. Diese Maßnahmen sind nicht nur grundgesetzwidrig, sondern suchen das politische Leben im Öffentlichen Dienst zu diszplinieren, d.h. zu verhindern, daß auch gesellschaftspolitische Alternativen formuliert und die Bedingungen ihrer Umsetzung geschaffen werden. Sie sollen gerade diejenigen Kräfte aus dem Öffentlichen Dienst entfernen, die eine weitere Demokratisierung des Bildungswesens am konsequentesten anstreben."

Wie und mit welchen Methoden, mit welchen Bündnissen konnte dem entgegengewirkt werden? Konnte Kooperation mit demokratischen Wissenschaftlerorganisationen in anderen Ländern weiterhelfen?

In der Hochschulgesetzgebung kamen die Antireformkräfte wieder stärker zum Zuge - auf Bundes- wie auf Landesebene.

Auch das Bundesverfassungsgericht griff schon 1973 ein: Zwar wurde die "Gruppenuniversität" und damit der Anspruch der vier Statusgruppen auf Mitbestimmung im Prinzip akzeptiert. Doch gleichzeitig wurde der Begriff der "Wissenschaft" so gefaßt, daß "Wissenschaftsfreiheit primär zu einem individuellen Sondergrundrecht für bestimmte Amtsträger" wurde, weil der Wissenschaftlertyp des 19. Jahrhunderts, die "wissenschaftlich tätige Einzelpersönlichkeit", vorausgesetzt und der "Charakter von Wissenschaft als kollektiver Lern- und Arbeitsprozeß, an dem alle Angehörigen der Hochschule mit unterschiedlichem Schwergewicht in der Funktion beteiligt sind", schlicht geleugnet wurde. (So die Stellungnahme des BdWi). Gegen eine solche Definition von Wissenschaft mußten nun sehr grundsätzliche, gesellschaftstheoretisch fundierte Argumentationen entwickelt werden über die Funktion von Wissenschaft und ihre Beziehung zur Gesellschaft.

1974 war die Periode ökonomischer Stabilität und Vollbeschäftigung definitiv zu Ende. Die Verteilungskämpfe wurden härter, die Arbeitslosigkeit nahm auch unter den Hochschulabsolventen rasch zu. Bei den Führungen der sozial-liberalen Parteien brach der Reformenthusiasmus vollständig zusammen. Der Kanzler Willy Brandt, dessen Namen für Reformpolitik und "mehr Demokratie" stand, wurde von der SPD selbst zurückgezogen und durch den Macher Helmut Schmidt ersetzt.

Kurzum: der Wind blies uns - und allen an demokratischen Reformen interessierten Kräften - nunmehr heftig ins Gesicht.

IV

Die Auseinandersetzungen seit 1968 hatten jedoch Fakten geschaffen, die eine schlichte Rückkehr zu den alten Verhältnissen, zur Friedhofsruhe an den Hochschulen, unmöglich machte. Die Politisierung besonders in der jungen Intelligenz war so weit vorangeschritten, daß trotz aller Repressions- und Einschüchterungsversuche die Organisationen der Linken sich festigten und an den Hochschulen beträchtlichen Einfluß gewinnen konnten.

Angesichts dieser Polarisierung in der ersten Hälfte der 70er Jahre stand der BdWi vor der Notwendigkeit, über konkrete Stellungnahmen zu konkreten Problemen hinaus seine Position grundsätzlicher zu definieren: Wie war die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unter den neuen Bedingungen des Kapitalismus der 70er Jahre zu bestimmen? Was hieß "Verantwortung der Wissenschaft(ler)"? Welche strukturellen und institutionellen Bedingungen mußten gegeben sein, damit Wissenschaftler ihre Verantwortung wahrnehmen und Wissenschaft für die Humanisierung des Daseins nutzbar machen konnten? Was bedeutete das enorme quantitative Wachstum und das veränderte, nämlich nach unten ausgedehnte soziale Rekrutierungsfeld der Intelligenz? Wie war deren Klassenlage zu bestimmen, und welche Möglichkeiten des politischen Bewußtseins ergaben sich daraus? War die Mehrheit der Wissenschaftler durch die neuen Entwicklungen zu einem Teil der Arbeiterklasse geworden?

Das in der Mitgliederversammlung am 03.02.1974 beschlossene "Grundsatzprogramm" versuchte, auf solche Fragen eine Antwort zu geben und so die politische Identität des BdWi zu präzisieren. Dieses Programm steht in seiner analytischen Qualität haushoch über allen Programmen von Parteien und anderen Interessenorganisationen, die in dieser Zeit verfaßt worden sind - wenn es auch natürlich mittlerweile in mancherlei Hinsicht überholt ist. Im Kapitel 1, das den gesellschaftlichen Ort der Wissenschaft in der gegebenen Gesellschaft bestimmen will, heißt es sehr präzise:

"Die Wissenschaftler, ob sie nun in den Hochschulen, in sonstigen staatlichen Einrichtungen oder in der Privatwirtschaft tätig sind, können täglich erfahren, wie außerwissenschaftliche und antidemokratische Interesseneinflüsse ihre Arbeit verzerren, lähmen oder aggressiven militärischen Zwecken unterwerfen. Erst auf der Grundlage einer klaren Einschätzung ihrer eigenen Lage und ihrer Bündnismöglichkeiten wird es für die Wissenschaftler möglich sein, die alleinige Verantwortung für den ständigen Mißbrauch der Wissenschaft und Technologie, für ihren Einsatz durch die Großkonzerne, für die Zerstörung unserer Umwelt und Lebensbedingungen zurückzuweisen und die hierfür wirklich Verantwortlichen, die ökonomisch, politisch und militärisch in dieser Gesellschaft bestimmenden Kräfte, zu identifizieren und zu bekämpfen. Nur wo alle Wissenschaftler sich zusammen mit den Vertretungen der arbeitenden Menschen an den Entscheidungen in der Gesellschaft angemessen beteiligen können, besteht die Chance, daß ihre Erkenntnisse der Allgemeinheit zugute kommen."

Und über "Wissenschaftsfreiheit" wird gesagt:

"Wissenschaftsfreiheit heißt:

  • Schutz wissenschaftlicher Betätigung vor Behinderung und Unterdrückung durch die Inhaber politischer und ökonomischer Machtpositionen,
  • Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen das Recht auf ungehinderte wissenschaftliche Betätigung kein Privileg darstellt.

Verwirklichung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Bereich von Wissenschaft und Bildung bedeutet:

  • Beseitigung aller gesellschaftlich bedingten Hindernisse, die einer Teilnahme aller Gesellschaftsmitglieder an der Erarbeitung und Nutzung von Wissenschaft im Wege stehen.

Verwirklichung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats innerhalb und außerhalb des Bereichs von Wissenschaft und Bildung beinhaltet zugleich:

  • Abbau der auf Unterschieden von Eigentum und gesellschaftlicher Stellung beruhenden Bildungsungleichheit in der gesamten Gesellschaft.

Die Mitglieder des BdWi gehen davon aus, daß Wissenschaft ein Instrument demokratischer Veränderung und ein Instrument des Schutzes von bereits erreichten demokratischen Positionen sein kann, und sie sind bereit, Wissenschaft in diesem Sinn zu betreiben."

Das Gedankenmaterial, das für die Analyse solcher Fragen zur Verfügung stand, war in starkem Maße den Traditionen der Arbeiterbewegung und der mit ihr sympathisierenden linken Intelligenz entnommen, die der Faschismus nicht gänzlich hatte vernichten können, die aber auch nach 1945 im Kontext der Restauration und des Kalten Krieges marginalisiert und in die Verdachtszone von Staatsfeinden und Agenten Moskaus gerückt wurden. Dies galt für die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes ebenso wie für die linken Minoritäten in den Gewerkschaften, vor allem in der IG Metall, bei denen solche Traditionen lebendig waren. An den Hochschulen, die personell sehr weitgehend mit den Hochschulen der NS-Zeit identisch waren, blieben sie beinahe gänzlich ausgegrenzt. Die wenigen ins bundesdeutsche Wissenschaftssystem zurückgekehrten Emigranten (wie Adorno und Horkheimer) und die nur ganz vereinzelt zugelassenen aktiven Antifaschisten (wie Abendroth) hatten allerdings kleinere Gruppen von Schülern an kritisches Denken heranführen können. Seit der Mitte der 60er Jahre allerdings hatten sich in Zeitschriften wie Das Argument und Blätter für deutsche und internationale Politik und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Denkformen und Analysen herausgebildet, die an diese Traditionen anknüpften und an deren Aktualisierung arbeiteten. Und die Studentenbewegung von 1968 hatte dann bewirkt, daß sich solche kritischen Denkformen auf beträchtliche Teile der jungen Generation an den Hochschulen, aber auch in Gewerkschaften, Schulen und Kirchen ausbreiteten.

V

Im Rückblick sind die Leistungen dieser analytischen und politischen Bemühungen ebenso leicht zu erkennen wie ihre Grenzen. Was ihre Defizite angeht, so fallen zwei besonders ins Gewicht:

  • Die gewaltige Bedeutung der ökologischen Problematik trat erst ab Ende der 70er Jahre klarer ins Bewußtsein. Das erste Gutachten des Club of Rome war schon 1972 publiziert worden, und das Grundsatzprogramm des BdWi hatte - wie zitiert - das Ökologieproblem erwähnt, doch der Stellenwert dieses Problems war noch nicht begriffen.
  • Das Feminismusproblem und die Bedeutung der Geschlechterbeziehungen für das Verständnis geschichtlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Konflikte war auch in den linken Bewegungen kaum bewußt. So nannten wir uns auch in aller Unbefangenheit noch "Bund demokratischer Wissenschaftler", obwohl Frauen als Mitglieder wie auch im Vorstand und in der Geschäftsführung bereits eine beträchtliche Rolle spielten.

Eine Bilanz der Arbeit des BdWi seit 1968/72 vorzulegen, vermag ich hier nicht. Generell aber will ich für die von 1968 ausgehende Bewegung doch eines festhalten: Maßstab für die geschichtliche Bedeutung von Ereignissen und Bewegungen sind Ausmaß und Tiefe der längerfristigen Wirkungen. Maßstab ist nicht das Bewußtsein der Beteiligten und der folgenden Generationen über Erfolg oder Mißerfolg; und auch nicht das - bei allen vorwärts gerichteten Bewegungen überspannte - Ziel, das die Handelnden sich selbst gesetzt hatten. Akzeptiert man diesen Maßstab, so ergibt sich, daß es sich in der Tat um eine Kulturrevolution, d.h. eine ziemlich tiefgreifende und längerfristig anhaltende Veränderung der Wertvorstellungen größerer Bevölkerungsteile handelt. Die von der Mehrheit der Bevölkerung bis dahin geteilte Ansicht, daß das oberste Ziel von Erziehung Gehorsam sei, ist zusammengebrochen - mit weitreichenden Konsequenzen für beinahe alle Lebensbereiche. Die Dezimierung der Studentenverbindungen, die in der Weimarer Republik noch 60% und in der Adenauer Zeit noch 25% aller männlichen Studierenden organisiert hatten, auf knapp 3% - ein Niveau, auf dem sie seither stagnieren - drückt diesen Zusammenbruch anschaulich aus. Es handelt sich also um den Zusammenbruch von autoritären Wertvorstellungen, die in Deutschland seit dem Kaiserreich und auch in Weimarer Republik und Adenauer-Ära bestimmend gewesen waren, und damit um die Öffnung für demokratische und emanzipative Wertvorstellungen. Ein solcher Umbruch, dessen Folgen - trotz aller partiellen Erfolge der Rechten - bis heute anhalten, verdient die Bezeichnung Kulturrevolution. Die damit geschaffenen Möglichkeiten demokratischer Entwicklungen sind freilich nur durch fortwährende Anstrengung politisch und geistig zu nutzen und zu konkretisieren. Der BdWi hat sich von Anfang an als einen Teil dieser übergreifenden Bewegung verstanden. Und so, hoffe ich, wird das auch bleiben.

Prof. Dr. Reinhard Kühnl (1936-2014) gehörte von 1972 bis 1975 und von 1982 bis 2001 dem Vorstand des BdWi an. Er war von 1971 bis zu seiner Emeritierung 2001 Professor der Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Der Beitrag ist ein Nachdruck aus: Forum Wissenschaft 3/1998:  VIII.