Interview mit Margot Honecker

Die DDR wurde in den härtesten internationalen Klassenkampf hinein geboren

Marxistische Blätter: Ein Interview mit Margot Honecker – da interessiert unsere Leserinnen und Leser gewiss zunächst Deine Lebenssituation in Chile, und wie du dich über die Entwicklung in Deutschland informieren kannst.

Margot Honecker: Nun, ich muss mich schon umtun, um am anderen Ende der Welt möglichst viel zu erfahren. Ich lese meist schon morgens deutsche Zeitungen, vorzugsweise die, von denen ich weiß, dass sie nicht lügen wie gedruckt. Wenn man ein Leben lang in Deutschland verbracht hat, politisch bewusst Faschismus und Krieg und Nachkriegszeit erlebte und schließlich am Mühen um eine antifaschistisch demokratische Ordnung und an der Errichtung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden mitgewirkt hat und letztlich auch noch die Konterrevolution durchlebt hat, bleibt man verständlicherweise eng verbunden mit dem politischen Geschehen. Die modernen Kommunikationsmittel schaffen die technischen Voraussetzungen, um auch hier das politische Geschehen täglich verfolgen zu können. Und ich lese viele Bücher und Zeitschriften und habe viele alte und neue Freunde in Ost und West, mit denen ich korrespondiere.

MB: Die kapitalistische Krise bringt nicht nur Sozialreaktion und Demokratieabbau, auch eine intensive, vom Antikommunismus diktierte ideologische Offensive hervor. In Deutschland zielt sie darauf, dass es nie wieder zu einer Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems kommen darf, obwohl selbst das Grundgesetz diesen Weg offen hält. Wie sieht das jemand, der so wie du an verantwortlicher Stelle für die sozialistische Entwicklung der DDR gearbeitet hat?

MH: Diese  Offensive ist ja ganz offensichtlich ein Frontabschnitt des sich weltweit verschärfenden Klassenkampfes. Der hemmungslose Ausbeutungseifer des Imperialismus führt, was ja keine neue Erkenntnis ist, unweigerlich zu Widersprüchen, die Konflikte auslösen. Es wächst die Erkenntnis, dass Veränderungen unumgänglich sind und es kommen Forderungen auf, den Kapitalismus zu überwinden. Und es wird ja nicht nur darüber debattiert, dass Kapitalismus überwunden werden muss und eine sozialistische Gesellschaft erstrebenswert ist, in dieser Richtung bewegt sich einiges in der Welt.

Wir sind keine Illusionisten und wissen, dass damit nicht morgen und übermorgen zu rechnen ist, aber wir übersehen auch nicht, welche Wirkungen solche politischen Entwicklungen auslösen. Da wachsen Ängste bei Kapital und Politik, die nun versuchen, mit einer ideologischen Offensive, mit der Verschärfung der inneren Sicherheit, demokratische Gesetze aushebelnd, solche Entwicklungen abzubremsen.

Dass die deutsche Politik in solchen Situationen immer ganz vorn marschiert, verwundert nicht. Auch weil der deutsche Imperialismus immerhin vierzig Jahre lang mit einem auf deutschem Boden entstandenen Sozialismus konfrontiert war. Und schließlich hat die herrschende Klasse in Deutschland umfängliche Erfahrung gesammelt, wie man mit nationalen und sozialen Parolen das Volk betrügen und es mit Antikommunismus verschrecken kann. Und ich fürchte, dass sich niemand des Grundgesetzes erinnert, wenn in der BRD eine antikapitalistische Bewegung an Einfluss gewinnen würde. Jan Korte aus der Linkspartei hat unlängst im Bundestag darauf verwiesen, dass der „Spiegel“ erst 2009 daran erinnert hatte: „Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag siebenmal so hoch wie gegen NS-Täter ..., dass von 1950 bis 1968 rund 200 000 Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten und Bürger, die verdächtigt worden waren, Kommunisten zu sein, durchgeführt wurden, ... daran erinnert kaum mehr jemand, trotz Grundgesetz“. Und ich sollte hier wohl daran erinnern, dass diese Praxis politischer Verfolgung mit der Konterrevolution im Osten Deutschlands fortgesetzt wurde.

MB: Verlust an sozialen und demokratischen Rechten, erkämpfter Errungenschaften – das ist die praktische Erfahrung der Arbeiterklasse in ganz Deutschland seit dem Sieg der Konterrevolution über die DDR. Doch ist dieser Zusammenhang nur spärlich im Denken wirksam. Könnte die Erinnerung an Leistungen der DDR dazu inspirieren, den Kampf um eine gesellschaftliche Alternative aufzunehmen? Welche hältst Du für besonders wirksam?

MH: Vielleicht sollten wir hier an die eigene Adresse gerichtet fragen, ob wir genügend dafür getan haben und tun, dies den Arbeitern bewusst zu machen. Wenn der Arbeitsplatz verloren geht, stehen die Sorgen um die Familie vor der Tür. Die Medienkampagne konnte nicht ohne Wirkung bleiben. Der Kapitalismus tut einiges dafür, dass ein solcher Zusammenhang im Denken so niedrig wie möglich gehalten wird. Zudem ist inzwischen auch im Osten eine Generation herangewachsen, die keine DDR-Erfahrungen sammeln konnte, im Westen gilt das für die Generation, die ohne den „Nachbarn“ DDR aufwuchs, auf den die BRD Jahrzehntelang „soziale Rücksichten“ nehmen musste, wenn sie ihre antisozialen Entscheidungen traf und Gesetze erließ. Die Ende der 80er Jahre den Kapitalismus erschütternde Krise konnte sie aus diese Grund nicht restlos auf die Schultern der Arbeiter abwälzen. Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz kann nun der Kapitalismus hemmungslos operieren, wie sich das gerade in der gegenwärtigen Krise zeigt.

Ja, wenn man den Kampf für eine gesellschaftliche Alternative aufnimmt, muss man über die Leistungen, die im Sozialismus mit dem Volk für das Volk geschaffen wurden, sprechen. Ich meine, es genügt jedoch nicht, nur über die sozialen Leistungen zu sprechen, sondern es ist notwendig, mehr auch darüber zu reden, was die Voraussetzungen dafür waren, dass der Sozialismus sich solche sozialen Leistungen „leisten“ konnte. Die Voraussetzung dafür, den Sozialismus zu errichten, war die Lösung der Eigentumsfrage und damit die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Ohne die Errichtung der politischen Macht – das ist nun mal unumstößliche Wahrheit -, ohne die Schaffung eines Staates der Arbeiter und Bauern lassen sich jedoch weder die Eigentumsfrage noch die Schaffung neuer Produktionsverhältnisse lösen.

Und wenn von der DDR die Rede ist, so ist auch daran zu erinnern, dass das nicht in einem Spaziergang zu machen war, sondern im harten Kampf gegen die innere und äußere Reaktion errungen werden musste. Und das alles unter den Bedingungen der faschistischen Hinterlassenschaften, einer durch den Krieg zerstörten Wirtschaft und einer faschistisch verseuchten Ideologie. Und wir waren ein Land fast ohne Rohstoffe. Wenn wir in der Lausitz statt Braunkohle Erdölfelder gefunden hätten, wäre manches leichter gewesen.

Heute wo wir mit Arbeitslosigkeit, zunehmender Leiharbeit, Lohndrückerei, Verlängerung der Arbeitszeit, konfrontiert sind, sollten wir wohl daran erinnern, dass das Recht auf Arbeit, der gesicherte Arbeitsplatz, in der DDR alltägliche Selbstverständlichkeit war und das bei gleichem Lohn für gleiche Arbeitsleistung für Männer und Frauen. Die Frauen wurden ökonomisch unabhängig - eine entscheidende Voraussetzungen für die verwirklichte Gleichberechtigung der Frau. Da ist man schon bewegt, wenn man über die Lebensgeschichte eines Arbeiters aus dem volkseigenen Obertrikotagenwerk Apolda liest, der nach der Treuhandattacke erst seine Arbeit, dann seine Wohnung und schließlich auch seine Familie verlor und nun sein Leben als Bettler in Aachen fristet.

Kürzlich las ich in einer Berliner Zeitung, dass jedes zwölfte Kind bereits Privatschüler ist; in Deutschland stieg die Zahl von 1992 bis 1910 um 55 Prozent, besagt eine Untersuchung der „Friedrich-Ebert-Stiftung“. Noch alarmierender fand ich das Ergebnis, dass mehr als die Hälfte aller deutschen Eltern ihre Kinder auf Privatschulen schicken würden, wenn sie das nötige Geld hätten. Den Kapitalismus tangieren die Missstände im Schulsystem nicht, denn der Nachwuchs der „Elite“ ist gesichert. Soll man da nicht an das in der der DDR verwirklichte Recht auf Bildung erinnern? Mit der Brechung des Bildungsprivilegs wurde der Weg frei für eine solide wissenschaftliche Bildung für alle Kinder ohne soziale Unterschiede, in Stadt und Land. Und allen war nach Abschluss der Schule ein Berufsausbildungsplatz sicher.

Auch darüber sollten wir reden – gerade weil es immer wieder geleugnet wird: das Mitbestimmungsrecht in den volkseigenen Betrieben bei der Erarbeitung der Produktionsziele, beim Arbeitschutz, zu Fragen des Erholungswesens, der Kultur im Betrieb, wurde von den Arbeitern, den Brigaden, den Gewerkschaften, entschieden genutzt. Da die bürgerliche Propaganda alles tut, Wahrheiten zu unterdrücken, müssen wir über diese Wahrheiten sprechen und ich meine, wir sollten es viel offensiver tun.

MB: Der Erkenntnis, dass die DDR eine historische Errungenschaft war, wirkt sehr stark der Niedergang des realen Sozialismus entgegen. Da wirkt es wie eine Ausflucht, wenn in einem Atemzug von Leistungen und Fehlern des Sozialismus gesprochen wird, wie es fast zur stehenden Rede geworden ist. Braucht es nicht die Erörterung, welche Fehlentwicklungen beim erneuten Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vermieden werden müssen? Das rührt an die Frage nach inneren und äußeren Faktoren für den Niedergang, welche Fehler die antisozialistischen Strategien des Imperialismus begünstigt haben.

MH: Ja, ich habe manchmal den Eindruck dass es riskant sein könnte, über die DDR zu reden und nicht mit der Formel zu beginnen, „wenn wir auch manche Fehler gemacht haben“; das gleiche trifft zu, wenn man auf die Dominanz der äußeren Faktoren hinweist, die zur Niederlage führten .

Auch wenn es eine Binsenweisheit ist, möchte ich sie wiederholen: keine Entwicklung vollzieht sich ohne Widersprüche. Beim Aufbau des Sozialismus wird Neuland betreten. Irrtümer und Fehler bleiben nicht aus, und hat man einen Gipfel erklommen, sieht man erst von oben die Umwege, die man hätte vermeiden können. Und auch das kommt mir in den Sinn, wenn wir über Fehler sprechen: sollten wir uns nicht manchmal daran erinnern, wie Marx und Engels an die „Fehler“ der Pariser-Kommune herangegangen sind? Eine wirklich wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse müsste die konkreten historischen Bedingungen, das ökonomische und politische Kräfteverhältnis in allen seinen Zusammenhängen untersuchen. Es besteht schon kein Zweifel mehr, dass die imperialistischen Hauptmächte, die sich von der Gemeinsamkeit der im Kampf gegen den Faschismus entstandenen Antihitlerkoalition lossagten, schon kurz nach Beendigung des Krieges den Kampf gegen die Sowjetunion, gegen die in Folge der Befreiung aufkommenden Volksbewegungen, gegen die Gefahr der Ausbreitung des Sozialismus aufnahmen. Die USA und deren Verbündete vereinten ihre Aktivitäten auf ökonomischem, ideologischem, politischem Feld, die schließlich in den kalten Krieg mündeten. Sie haben nie ihre Absicht verheimlicht. die sozialistischen Länder von der Landkarte streichen zu wollen. Wenn nicht durch direkte Konfrontation, so durch die Unterminierung der sozialistischen Gesellschaft, vor allem durch die Zersetzung der marxistischen Parteien durch Einflussnahme mit der bürgerlichen Ideologie. Dem Revisionismus wurde mit dem XX. Parteitag der KPdSU und dem folgenden „Tauwetter“ nicht nur ein Fenster geöffnet. Das hatte Folgen, die sich vor allem im Schwinden der internationalen Solidarität, der abnehmenden Geschlossenheit der kommunistischen Arbeiterbewegung zeigte. Schon im Jahre 1952 wurde das Ziel der „Vereinigung Europas“ bis zum Ural verkündet. So wurde also die DDR mitten in eine der härtesten politischen Auseinandersetzungen des vorigen Jahrhunderts hinein „geboren“. Muss man sich nicht all das vergegenwärtigen, wenn man über die Fehler spricht?

Aber du hast mich nach meiner Sicht auf die Fehler gefragt. Vorweg eine Bemerkung. Kann von „Fehlentwicklung“ die Rede sein? Dieser Begriff impliziert für mich das unhistorische, unwissenschaftliche Gerede vom „untauglichen Modell“, von den Fehlern als „systemeigen“, womit das sozialistische System in Frage gestellt werden soll.

Zu den Fehlern: Wir waren uns immer der Gefahr bewusst, dass der Gegner in der Lage war uns anzugreifen. Vielleicht haben wir das Kräfteverhältnis falsch eingeschätzt, unsere Kräfte überschätzt. Wir gingen davon aus, und nicht nur wir Kommunisten in der DDR, dass der Sozialismus mit einer verlässlichen Sowjetunion an der Spitze unumkehrbar sei. Wir unterschätzten, in welchem Maße die bürgerliche Ideologie große Teile der Bevölkerung erfasste und auch in die Partei eingedrungen war, die aus der westlichen Nachbarschaft und nun auch aus dem östlichen Freundesland einströmte. Die Politik der friedlichen Koexistenz, eine Notwendigkeit, solange zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme nebeneinander existieren, weckte Illusionen über „Klassenharmonie“. Daraus lässt sich folgern, dass unsere theoretische, ideologische Arbeit nicht auf der Höhe der Zeit war. Vielleicht war es auch ein Versäumnis, dass wir nicht offensiv genug die revisionistischen Theorien bekämpft haben, vom „rein menschlichen, über den Klassen Stehenden“ oder den Geschichtsrevisionismus, mit dem die Geschichte des Sozialismus seit der Oktoberrevolution entstellt wurde. Wobei uns hemmte, dass das in Jahrzehnten gewachsene Vertrauen in die SU zerstört werden könnte. Der Menschenrechtskampagne, die vom Westen mit dem in Helsinki beschlossenen Korb drei ausging, hätten wir offensiver begegnen sollen, indem wir von ihm die Wahrung von Menschrechten forderten, die er ständig verletzte. Ja, und wir hatten Probleme in der Wirtschaft. Auch die sozialistische Wirtschaft ist unweigerlich an den Weltmarkt gekoppelt, dessen Gesetze gelten auch hier noch. Wir waren für die Lieferung von Rohstoffen auf Gedeih und Verderben an die SU gekoppelt. Als die Erdölpreise auf dem Weltmarkt stiegen, erhöhte auch die SU gewissermaßen über Nacht die Preise.

Das Embargo, das die kapitalistischen Staaten hinsichtlich des Zugangs der sozialistischen Länder zu den Schlüsseltechnologien verhängten, hatte Folgen, die sich vor allem im Zurückbleiben der Arbeitsproduktivität bemerkbar machen mussten. Die DDR unternahm Anstrengungen; doch die unumgängliche Forcierung der Schlüsseltechnik bezahlten wir mit Rückständen bei Investitionen in anderen Wirtschaftsbereichen. Es gab Disproportionen in der Wirtschaft. Und je mehr Schwierigkeiten auftraten, umso bürokratischer wurden manche Leitungsmethoden; manche Vorschläge und Kritiken wurden beiseite geschoben.

Ein vorgezogener Parteitag der SED sollte sich mit der Weiterentwicklung auf allen gesellschaftlichen Gebieten befassen. Aus heutiger Sicht wäre er zu spät gekommen und aus meiner heutigen Sicht bestand unser größter Fehler darin, dass die uns bekannten und noch offen zu legenden Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus nicht offen zur Diskussion gestellt wurden. Es gab doch eine gebildete Arbeiterklasse, eine kreative Intelligenz – manches Problem wäre lösbar gewesen. Und vor allem wäre auf diese Weise das Vertrauen zwischen Partei und Volk gefestigt worden.

Was einer weiteren Vervollkommnung des Sozialismus hemmend im Wege steht, muss immer wieder neu analysiert werden. Wobei nicht zu vergessen ist, dass sich keine Revolution, und darum handelt es sich bei der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne den inneren und äußeren Widerstand der Reaktion vollzieht. Auch in der DDR gab es nicht nur Andersdenkende, auch im Sozialismus wirken vorsozialistische Bewusstseinsüberreste.

Bleibt die Frage offen, ob die DDR, wenn sie alles „richtig“ gemacht hätte, noch existieren würde, wo doch das gesamte sozialistische Lager mit der SU verschwand. Da kommt man unweigerlich darauf zurück, dass die Großmächte mit ihrer Strategie der ökonomischen Erpressung durch das Wettrüsten, ihrer „Konterrevolution auf Filzlatschen“, wie diese Politik des „Wandels durch Annäherung“ treffend vom einstigen Außenminister der DDR, Otto Winzer, genannt wurde, den Ausschlag gegeben hat. Mit der Politik der Perestroika folgte der letzte Stoß, mit dem sie ihren zeitweiligen Erfolg krönten. In Moskau und Bonn fielen Entscheidungen über die DDR, und Washington konnte sicher sein, dass man dort wusste, was zu tun sei, um die DDR aus der Welt zu schaffen.

Ich meine, die wichtigste Erkenntnis aus diesem Abschnitt unserer Geschichte ist wohl die, dass ohne eine starke marxistisch-leninistische Partei, die eng mit den Massen verbunden ist, Fortschritte und Siege nicht zu erringen sind. Für jeden Neubeginn können Schlussfolgerungen nützlich sein. Wobei zu bedenken ist, dass die historischen Gegebenheiten sich immer wieder voneinander unterscheiden. Die Länder in Lateinamerika, die einen Neubeginn wagen, unterscheiden sich schon voneinander hinsichtlich ihrer ökonomischen und geschichtlichen Entwicklung, ihrer vorhandenen Klassenstrukturen. Zu den Besonderheiten kommt die Vielfalt ethnischer Gruppen und Religionen. Es wird immer Aufgabe bleiben, unter den jeweiligen konkreten Bedingungen einen Weg zu beschreiten, von dem man die Richtung kennt, aber nicht alles was einem auf diesem Weg begegnen kann, ist voraussehbar.

MB: Ist es bis nach Chile gedrungen, welch eine aufgeregte Debatte über Kommunismus in Deutschland aufgebrochen ist, nur weil Gesine Lötzsch, die Vorsitzende der Linkspartei, den Begriff in Anlehnung an Gedanken Rosa Luxemburgs gebraucht hat? Gesine Lötzsch hat das zu Recht dahingehend gewertet, wie verunsichert das Establishment doch ist, wenn es um Alternativen zum kapitalistischen System geht. Eine Debatte darüber, die auf einer begründeten Kapitalismuskritik fußt, wird regelrecht erstickt mit exzessiven Variationen der Totalitarismus-Doktrin, die Kommunismus mit dem Faschismus gleichsetzt. Die „Verbrechen im Namen des Kommunismus“ werden zum alles beherrschenden Thema gemacht. Wie siehst du das aufgrund deiner Lebenserfahrung?

MH: Natürlich habe ich die Debatte verfolgt Der Gegner brachte seine „Totalitarismusdoktrin“ sofort wieder zum Einsatz, einschließlich der „Stalinismusorgien“. Dass und wie das politische Establishment darauf reagiert hat, hat wenig verwundert und auch nicht, dass sie es benutzen, die Linke und alles was links ist zu diffamieren. Und dass angesichts eines klaren Bekenntnisses zur Überwindung des Kapitalismus und des Gebrauchs des wissenschaftlichen Begriffs Kommunismus die Unterschiede, der in der Linken agierenden Ströme, der marxistisch orientierten und sozialdemokratisch orientierten, offen zutage treten, sollte nicht erstaunlich sein. Nicht gerade hilfreich für die Klärung von Meinungsverschiedenheiten finde ich die Haltung derer, die zwischen den „Lagern“ manövrieren. Mit „Stalinismus“ wird heute alles was links ist belegt. Man erinnert sich daran, dass der Gründungsparteitag der früheren PDS im Zeichen der Abrechnung mit dem „stalinistischen Modell“ stand.

Unentschuldbares, was in der kommunistischen Bewegung geschah, entschuldigt kein aufrechter Kommunist. Aber wir müssen uns nicht bei denen entschuldigen, die einem System huldigen, das seine Blutspuren durch Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit hinterlassen hat. Wir sollten den Kampf führen gegen die totale Verunglimpfung der Geschichte seit der Oktoberrevolution. Wir haben nichts zu verschweigen, auch nicht dass mit Lenin und Stalin einer neuen Menschheitsepoche der Weg geebnet wurde. Wir haben keinen Grund, Zurückhaltung zu üben, wenn wir die epochale Leistung würdigen, dass erstmals auf deutschen Boden Sozialismus war, dank einer geeinten Arbeiterklasse. Klar ist derzeit, dass alles was links sein könnte, verteufelt wird und dabei mit der Doktrin operiert wird, die Faschismus und Kommunismus gleichsetzt, womit Faschismus rein gewaschen und Kommunismus verketzert werden soll. Die Wurzeln von Faschismus sind noch nicht beseitigt und werden so wiederbelebt.

MB: Als positive Reaktion auf die nationalistischen und rassistischen Tendenzen im Imperialismus macht für junge Menschen eine internationalistische Haltung einen wichtigen Wert aus. Aber sie wissen kaum etwas über das internationale Ansehen, das die DDR kraft ihrer internationalen Solidarität, z. B. mit Chile nach dem Putsch Pinochets, kraft ihres Antifaschismus erworben hatte. Wie steht es darum in Lateinamerika, in deiner persönlichen Erfahrung in Chile?

MH: Ich teile diese Skepsis nicht ganz. Viele Briefe, die ich erhalte, schildern, wie noch heute weltweit die Solidarität der DDR gewürdigt wird. Auch hier ein Beispiel: Der Rowohlt-Verlag hat erst 2009 das Buch der Namibierin Stefanie Lahya Aukongo „Kalugas Kind“ mit dem Untertitel „Wie die DDR mein Leben rettete“ herausgebracht. Es ist die bewegende Geschichte einer inzwischen Mittzwanzigerin, deren Mutter nach einem südafrikanischen Bombenangriff in die DDR geflogen wurde und dort entband. Und ich wurde vom vormaligen Präsidenten und Vorsitzenden des ANC im Jahre 2005  zu den Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag der Unabhängigkeit eingeladen. Dort begegnete ich vielen jungen Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren und dort eine Heimat gefunden hatten. Sie alle sprachen mit viel Liebe und Dankbarkeit von dieser Zeit. Sie begrüßten mich mit den Worten „Wir sind die Kinder der DDR in Namibia“. In Nikaragua, wohin ich vor vier Jahren eingeladen war und eine Auszeichnung für die Solidarität der DDR aus den Händen Daniel Ortegas entgegennahm, traf ich auf Schritt und Tritt Menschen, die in der DDR studiert, gearbeitet haben oder von unseren Ärzten und Schwestern gesund gepflegt worden waren. Umsichtig werden noch heute die von der DDR geschaffenen Einrichtungen gepflegt, wie das Krankenhaus „Karl Marx“. Niemand hat vergessen, wer sie errichtet hat. In Kuba begegne ich überall den Spuren, die die DDR dort hinterlassen hat. Es berührt mich natürlich, wenn mir Kubaner erzählen, dass sie mit den in der DDR entwickelten und gedruckten Mathematik-Lehrbüchern groß geworden sind. Und nicht zu vergessen Chile, wo ich täglich die Solidarität der chilenischen Genossen und Freunde spüre, von denen viele während der Pinochet-Diktatur bei uns eine zweite Heimat gefunden hatten.