Marx, Engels, Lenin und Deng – auf Umwegen zum Sozialismus?

Dieser Artikel erschien in der November-Ausgabe 2020 ("Wege des Sozialismus") der Marxistischen Blätter. Sie können im Neue Impulse Verlag unter folgendem Link bestellt werden: 

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Marx und Engels leiteten aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus seine Vergänglichkeit ab. Aus der Lösung der grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Systems ergeben sich die allgemeinen Merkmale der künftigen, kommunistischen Gesellschaft. Der Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse ist durch die Überführung der entscheidenden Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum lösbar. Die Interessenlage der von ihren Produktionsmitteln getrennten, ausgebeuteten Arbeiterklasse verleiht dieser die Potenz, die politische Macht zu erringen, um der Bourgeoisie „nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“.1 An die Stelle der Anarchie des Marktes tritt die bewusste Planung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Menschen. Im Verlauf der ökonomischen Umwälzung werden Ware, Wert, Handel und Geld überflüssig und irgendwann verschwinden.

Die allgemeinen Merkmale des Sozialismus, (1) gesellschaftliches Eigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln, (2) politische Macht der Arbeiterklasse (Diktatur des Proletariats), (3) gesamtgesellschaftliche Planung, entsprechen der Logik einer auf die Lösung der kapitalistischen Widersprüche gerichteten Entwicklung. Marx unterschied in seiner Kritik des Gothaer Programms 1874 zudem zwischen zwei Phasen der künftigen Gesellschaft: In der ersten gelte noch bürgerliches Recht und das Prinzip der Verteilung nach der Leistung, gemessen in Arbeitszeit. In der höheren Phase, wenn „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“, gelte das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“.2 Für die beiden Phasen setzten sich die Begriffe Sozialismus / Kommunismus durch. Der Entwicklungslogik des Sozialismus / Kommunismus entsprechen weitere Veränderungen, wie die Aufhebung der Klassen, das Verschwinden der Klassenunterschiede, des Unterschieds zwischen Stadt und Land, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Zudem verliert mit der Zeit „die öffentliche Gewalt ihren politischen Charakter“ und stirbt der Staat als Instrument der Klassenherrschaft allmählich ab.

Hohes Niveau der Produktivkräfte

Die Umwälzungen betreffen die politischen Herrschaftsverhältnisse wie auch die Eigentumsverhältnisse und gehen von einem hohen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte aus. Das schließt die kulturell-geistigen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Qualifikationen der Menschen ein, die sich zusammen mit der materiell-technischen Basis der Gesellschaft bilden. Die Maßregeln zur Gestaltung der künftigen Gesellschaft, die das Manifest der Kommunistischen Partei 1848 formulierte, galten ausdrücklich „für die fortgeschrittensten Länder“. Das waren damals Länder wie England, Frankreich und Deutschland, in denen die Widersprüche am ausgereiftesten waren und die Formen ihrer Lösung sich abzeichneten. Marx und Engels nahmen an, dass diese Länder die ersten sein würden, in denen es zu Revolutionen kommen werde. Die siegreiche Arbeiterklasse der reichen Länder werde den Völkern armer Länder dann helfen, ihre Rückstände im Produktivkräfteniveau aufzuholen.

In einem Briefwechsel mit der russischen Narodniki Wera Sassulitsch antwortete Marx 1881 auf die Frage, ob sich die in Russland damals noch verbreitete Bauerngemeinde, in der es archaisches Gemeineigentum gab, in den Sozialismus „überführen“ lasse, ohne dass das Gemeineigentum zunächst einer kapitalistischen Entwicklung Russlands zum Opfer falle. In seiner knappen Antwort hielt Marx das Hinüberretten der Bauerngemeinde für möglich, vorausgesetzt, man würde „zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen“.3 In Entwürfen zu seiner Antwort reflektierte er Entwicklungsmöglichkeiten der russischen Bauerngemeinde: „Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen.“4

Friedrich Engels beschrieb 1895 die russische Bauerngemeinde als antriebslos und unfähig, aus sich selbst heraus „eine höhere Form des Gemeineigentums zu entwickeln“. Dass die Frage danach überhaupt gestellt werde, sei nur dem Umstand geschuldet, dass sie sich in einem europäischen Land so lange gehalten habe bis bereits „die kapitalistische Produktion, in Westeuropa in Widerspruch geraten ist mit den von ihr selbst erzeugten Produktivkräften, […] sich unfähig beweist, diese Kräfte fernerhin zu leiten, und […] an diesen inneren Widersprüchen und den ihnen entsprechenden Klassenkonflikten zugrunde geht“. Die Initiative zu einer sozialistischen Umgestaltung der russischen Gemeinde könne nicht von ihr selbst ausgehen, „sondern einzig von den industriellen Proletariern des Westens. Der Sieg des westeuropäischen Proletariats über die Bourgeoisie, die damit verknüpfte Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch die gesellschaftlich geleitete, das ist die notwendige Vorbedingung einer Erhebung der russischen Gemeinde auf dieselbe Stufe“.5

Die Klassiker hielten es für möglich, dass ein zurückgebliebenes Land mit vorkapitalistischen Produktionsweisen sich sozialistisch orientiert, ohne die Stufe des Kapitalismus zu durchlaufen. Bedingung war seine Fähigkeit, sich die Errungenschaften der Technik und Kultur aus den fortgeschrittensten Ländern anzueignen, um sie für die Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus zu nutzen. Ein solcher Transfer setzte normalerweise voraus, dass in den fortgeschrittensten Ländern das Proletariat schon herrschte, wie Engels 1895 klipp und klar formulierte. Engels nahm an, dass eine demokratische Revolution in Russland ein wichtiger Anstoß für die Proletarier des Westens sein könne, die sozialistische Umwälzung zu beginnen. Darauf setzten auch Lenin und die Bolschewiki in den Revolutionen 1905 und 1917. Bis 1917 hatten sich in Russland schon Elemente des staatsmonopolistischen Kapitalismus durchgesetzt, wenn auch ungleichmäßig. Trägerin der Oktoberrevolution war die Arbeiterklasse im Bündnis mit der gesamten Bauernschaft.

Nach der Oktoberrevolution gingen die Industriearbeiter relativ schnell zur Verstaatlichung von Fabriken über, während es auf dem Lande zunächst zu einer demokratischen Bodenreform kam. Der Boden wurde nationalisiert und zur Nutzung an die Bauern verteilt. Erst zu Beginn des Bürgerkriegs 1918 formierte sich das Bündnis von Arbeiterklasse und Dorfarmut gegen die Kulaken und für sozialistische Umgestaltungen.6 Der Staat förderte die Kollektivierung. Die zentrale Planung war eingeführt. Im ‚Kriegskommunismus‘ herrschte in der Praxis eine zentralistische Kommandowirtschaft vor. Überschüsse der Bauern wurden requiriert. Es gab Arbeitspflicht für alle und Lebensmittelrationierungen. Teils war der Handel durch direkte Verteilung und Naturalaustausch abgelöst. Die Abschaffung des Geldes und eine egalitäre Gesellschaft schienen nahe. Die Lage erzwang diese Maßregeln einer Kriegswirtschaft. Es gab jedoch die Neigung, sie als Schritte zum Kommunismus zu idealisieren.

1921, am 4. Jahrestag der Oktoberrevolution, schrieb Lenin rückblickend: „Wir rechneten darauf – vielleicht wäre es richtiger, zu sagen: Wir nahmen an, ohne genügend zu rechnen –, dass wir durch unmittelbare Befehle des proletarischen Staates die staatliche Produktion und die staatliche Verteilung der Güter in einem kleinbäuerlichen Land kommunistisch regeln könnten. Das Leben hat unseren Fehler gezeigt. Es bedarf einer Reihe von Übergangsstufen: Staatskapitalismus und Sozialismus, um den Übergang zum Kommunismus vorzubereiten, ihn durch die Arbeit einer langen Reihe von Jahren vorzubereiten.“ Neben revolutionärem Enthusiasmus sei das Bemühen nötig, „aufgrund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung […] zuerst feste Stege zu bauen, die in einem kleinbäuerlichen Land über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen“.7

Die NÖP

Im März 1921 hatte der 10. Parteitag der KPR die Neue Ökonomische Politik (NÖP) eingeleitet. Kennzeichnend für sie war der Einsatz ökonomischer Stimuli anstelle administrativen Zwangs. So ersetzte eine niedrigere Naturalsteuer die Requirierungen. Was die Bauern nach Steuern übrig hatten, konnten sie verkaufen. Der Reform war eine die Sowjetmacht gefährdende, politische Krise mit Arbeiter- und Bauernaufständen vorausgegangen. Die NÖP erneuerte das Bündnis mit den Bauern. Sie diente dem Wiederaufbau und der Reindustrialisierung nach 7 Jahren schwerer Kriegsverheerungen, durch die viele Fabrikanlagen zerstört und die Arbeiterklasse dezimiert war. Konzessionen an das Auslandskapital sollten den Aufbau einer Großindustrie mit modernen Maschinen beschleunigen. Internationale Handelsverträge, Förderung des privaten Handwerks und der Hausindustrie sollten den inneren Markt beleben. Der Sinn der NÖP war aber nicht nur die Beseitigung von Kriegsschäden.

Sie war auch ein Programm zur Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus in einem rückständigen Land, nachdem die Revolution im Westen immer noch ausblieb. Gemessen an den allgemeinen Merkmalen des Sozialismus war die NÖP ein Rückzug, ein Übergang „vom Sturmangriff zur Belagerung“, der unter Linken im In- und Ausland höchst umstritten war. Lenin konstatierte nüchtern, die damalige ‚Sozialistische Sowjetrepublik‘ (SSR) sei ein Land, das entschlossen sei, zum Sozialismus überzugehen, keineswegs aber könnten, „die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet“ werden. Er listete fünf Typen ökonomischer Wirtschaftsstruktur auf, die nach 1918 in Russland nebeneinander existierten: (1) die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Maße Naturalwirtschaft ist, (2) die kleine Warenproduktion, wozu die Mehrzahl der Bauern zählte, (3) der privatwirtschaftliche Kapitalismus, (4) der Staatskapitalismus, (5) der Sozialismus. Zahlenmäßig überwogen die kleinen privaten Warenproduzenten, deren zersplitterte Produktionsmittel das niedrigste Niveau der unmittelbaren Vergesellschaftung der Produktion aufwiesen.8

Der eigenartige Verlauf der Geschichte habe „im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus“ geboren, erklärte Lenin in seinem Referat ‚Über die Naturalsteuer‘. „Deutschland und Russland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen des Sozialismus.“ Sozialismus sei nicht denkbar ohne Großproduktion nach dem letzten Wort modernster Wissenschaft, wie in Deutschland, aber auch nicht ohne die Herrschaft des Proletariats im Staat, wie in Russland. Wenn in Deutschland „die Revolution mit ihrer Geburt säumt“, sei es Aufgabe der Bolschewiki, „den Staatskapitalismus der Deutschen mit aller Kraft zu übernehmen“. Russland habe im materiellen, ökonomischen, produktionstechnischen Sinn „noch nicht die ‚Vorstufe‘ des Sozialismus erreicht.“

Kapitalismus sei ein Übel gegenüber dem Sozialismus, aber ein Segen gegenüber dem Mittelalter und der zersplitterten Kleinproduktion. Sofern ein unmittelbarer Übergang der Kleinproduktion zum Sozialismus nicht organisierbar sei, sei der Kapitalismus in gewissem Maße unvermeidlich als elementares Produkt der Kleinproduktion und des Austauschs. Man müsse ihn sich zunutze machen „als vermittelndes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte“, indem man ihn „in das Fahrwasser des Staatskapitalismus“ lenke. Staatskapitalismus bedeute „allgemeine Rechnungsführung und Kontrolle“ und stehe „unendlich höher als die jetzige Wirtschaftsweise“. Staatskapitalismus unter dem Kapitalismus sei nicht dasselbe wie Staatskapitalismus unter dem Kommunismus. Setze man an die Stelle des bürgerlichen, imperialistischen Staats einen Staat von anderem sozialen Typus, einen proletarischen Staat, erhalte man „die ganze Summe der Bedingungen, die den Sozialismus ergibt.“9

Ein Jahr nach Einführung der NÖP konnte Lenin dem 11. Parteitag melden, sie habe den Zusammenschluss mit den Bauern gefördert. Einige gemischte Betriebe mit Beteiligung ausländischer Kapitalisten waren entstanden. Bei der Konferenz in Genua ging es um die Ausdehnung des Handels. Der Rückzug sei beendet. Die wichtigsten Methoden seien festgelegt, Muster vorhanden. Es gelte, sie zu vermehren und in einem qualifizierten Wettbewerb des Staates mit den Privatkapitalisten die Bauern zu überzeugen. Lenin plädierte für die Qualifizierung der Kader für die Umsetzung der NÖP.10 1927 wurde sie beendet. Bestimmte Elemente, wie Warenproduktion und Rechnungsführung oder die Nutzung ausländischer Investitionen, wurden in die folgende zentralistische Planwirtschaft eingebaut. Das zentralistische Wirtschaftsmodell ermöglichte die rasche Industrialisierung des Landes, eine Bedingung für den Sieg über den Hitlerfaschismus. Nach 1945 wurde ein relativ hohes Bildungs- und Lebensniveau der Bevölkerung erreicht. Mit dem Übergang vom extensiven zum innovations- und technologiegetriebenen, intensiven Wachstum geriet dieses Modell in den 1970er Jahren an seine Grenzen. Beim technologischen Fortschritt und in der Arbeitsproduktivität wurde der Abstand zu den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern immer größer. Das trug zu deren Sieg in der Systemkonkurrenz bei.

Eine Anfangsphase von 100 Jahren

Zwischen der NÖP und der „sozialistischen Marktwirtschaft“ im heutigen China oder den Marktöffnungen in Vietnam und in Kuba liegen Welten. Im Stellen und Lösen gewisser Probleme gibt es dennoch Ähnlichkeiten. Dies gilt vor allem für die Frage, wie einzelne am Sozialismus orientierte Länder im Umfeld einer kapitalistisch dominierten Weltwirtschaft sich Zugang zu den weltweit fortgeschrittensten Errungenschaften der Wissenschaft und Produktionstechnik verschaffen können. 1964 bildete sich im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems die UNCTAD, die in ihren jährlichen World Investment Reports Zugänge zum Fortschritt für die Entwicklungsländer erkundet. Ein möglicher Zugang zur modernen Produktion ist der Aufstieg in den internationalen Wertschöpfungsketten der Konzerne. Andere Wege des Aufstiegs von der Low-End zur High-End-Produktion sind rar.11 Gerade sozialistische Länder brauchen diesen Zugang, um ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen und immer besser in der Befriedigung der sich ändernden Bedürfnisse der Menschen zu werden. Sozialistische Länder sind gezwungen, sich in gewissem Maße mit der kapitalistischen Weltwirtschaft zu verlinken, solange diese beim technologischen Fortschritt mitredet.

Lenins Hinweis auf die Vielfalt der teils vorkapitalistischen, teils kapitalistischen, teils sozialistischen Wirtschaftsformen in Sowjetrussland und die dadurch nötige Suche nach geeigneten, die Vergesellschaftung der Produktion voranbringenden Übergängen und Vermittlungsgliedern hat ebenfalls nichts an Bedeutung verloren. Dazu können auch Teilrückzüge in den Eigentumsverhältnissen zählen, wenn sie die Vergesellschaftung insgesamt schneller voranbringen. So konnte China nicht wenige marode Staatsbetriebe mittels Umwandlung in Aktiengesellschaften, an denen der Staat die Mehrheit hält, zu modernen globalen Branchenführern machen.12 Auslandsinvestitionen in China unterliegen strengen Regeln. Sofern der Staat die Kontrolle über die Entwicklungsrichtung nicht verliert und die Schlüsselsektoren in der Hand behält, gefährdet Privateigentum noch nicht eine sozialistische Entwicklung. Die historischen Formationen existierten nie „rein“ nacheinander oder nebeneinander. Jede war von Elementen der anderen, vorhergehenden oder parallelen, durchdrungen.

Kritiker des Sozialismus chinesischer Prägung blicken oft nur auf die ökonomische Politik der Öffnung und Reform und schließen aus deren widersprüchlichen Folgen auf den Charakter der politischen Macht und des Systems. Die Politik ist aber heute noch weniger als früher der bloße, unmittelbare Ausfluss der Ökonomie. Nimmt nicht bei fortschreitender Vergesellschaftung der Produktion die Rolle des Überbaus zu und mit ihr die relative Selbstständigkeit des Staates, der zugleich für den Reproduktionsprozess immer unentbehrlicher wird? Das gilt sogar im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Es gilt erst recht im Sozialismus. Umso wichtiger ist es, den Charakter der Staatsmacht, die Staatsziele, das Programm der führenden Partei in die Beurteilung einzubeziehen. Der Öffnungspolitik ging eine gesellschaftswissenschaftliche Debatte voraus, in der sich eine Einschätzung durchsetzte, die heute zum Programm der KPCh gehört. Danach befinde sich der chinesische Sozialismus in seiner Anfangsphase, die mindestens bis 2049 (bis zum 100. Gründungsjahr der VR) dauere. Der Hauptwiderspruch dieser Phase sei der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion. Es gelte, das Niveau der Produktivkräfte massiv zu steigern und ein im globalen Vergleich hohes Einkommen der Menschen zu erreichen.

Dazu seien alle Eigentumsformen zu nutzen. Eine gewisse Ungleichmäßigkeit und soziale Polarisierung werden als Auswüchse dieser Phase in Kauf genommen und für beherrschbar gehalten. Laut Deng Xiaoping (1978) müsse verhindert werden, dass die Bourgeoisie sich zu einer zusammenhängenden und als solche auftretenden Klasse formiert. Sie soll politisch eingebunden werden. Es gebe aber weiterhin Klassenkampf, der auch durch die Hegemonie des weltweiten Imperialismus in Gang gehalten werde. An „Vier Grundprinzipien“, die den politischen Rahmen des Reformprozesses abstecken, soll eisern festgehalten werden: (1) Aufrechterhaltung des sozialistischen Entwicklungswegs, (2) Aufrechterhaltung der demokratischen Diktatur des Volkes, (3) Aufrechterhaltung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei, (4) Aufrechterhaltung der Mao-Zedong-Gedanken und des Marxismus-Leninismus.13 2011 wurde das Ziel gesetzt, bis 2025 Weltmarktführer im Hinblick auf fortgeschrittene Technologien, wie künstliche Intelligenz, Elektromobilität, digitale Städte zu werden. Der 19. Parteitag 2017 legte zwei Etappen innerhalb der Anfangsphase fest: (1) Bis 2020 soll die Armut im Lande vollständig beseitigt werden. Eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand soll entstehen. Quantitatives soll durch qualitativ hochwertiges, intensives Wachstum abgelöst werden. (2) Bis 2035 will China weltgrößte Wirtschaftsmacht sein, die grundlegende Modernisierung sichergestellt und die Umweltprobleme im Zuge der „Schaffung einer ökologischen Zivilisation“ gelöst haben.

Die bisherige Praxis spricht dafür, dass es realistische Ziele sind, vorausgesetzt, die Störmanöver der imperialistischen Mächte lassen sich begrenzen. Die KPCh verfügt mit dem „Sozialismus chinesischer Prägung“ über eine die eigene Bevölkerung mobilisierende Vision. Das zeigen schon erreichte, nicht zu leugnende Fortschritte.

Dieser Artikel erschien in der November-Ausgabe 2020 ("Wege des Sozialismus") der Marxistischen Blätter. Sie können im Neue Impulse Verlag erworben werden unter folgendem Link:

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1 MEW 4, S. 56

2 MEW 19, S. 21

3 MEW 19, S. 242f.

4 MEW 19, S. 405

5 MEW 22, S. 426f.

6 „Wer die Dinge kennt und im Dorfe war, sagt, dass unser Dorf erst im Herbst 1918 die ‚Oktoberrevolution‘ (d.h. die proletarische Revolution) selbst durchmacht.“ LW 28, S. 303

7 LW 33, S. 38

8 LW 32, S. 342ff.

9 LW 32, S. 346ff.

10 Beim Rückzug einer Armee müsse die Disziplin viel bewusster sein als bei einem Angriff, und sie sei „hundertmal nötiger“, damit der Rückzug nicht in eine „regellose Flucht“ ausarte. LW 33, S. 267f.

11 Vgl. UNCTAD, WIR 2020; Siehe auch: Michael R. Krätke, Globale Wertschöpfungsketten in und nach der Großen Krise, spw 4-2013, S. 13ff.

12 Von den 97 chinesischen unter den 500 weltgrößten Konzernen 2015 waren 82 Staatskonzerne. Vgl. Marcel Kunzmann, Theorie, System & Praxis des Sozialismus in China, 2. Aufl., Berlin, 2018, S. 67ff.

13 Vgl. Kunzmann, S. 32ff.