75 Jahre Befreiung von Faschismus und Krieg

Gegenstand geschichtspolitischer Kontroversen

Am 8. Mai 1945 unterzeichnete das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation gegenüber den Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition. Damit endete der Zweite Weltkrieg in Europa. 75 Jahre danach wird in Deutschland und Europa noch immer - bzw. wieder - darüber gestritten, ob und inwieweit es sich um "Zusammenbruch", "Niederlage" oder "Befreiung" gehandelt habe und wie das Jubiläum angemessen zu begehen sei. Ulrich Schneider plädiert für eine antifaschistische Geschichtsperspektive.

In diesem Jahr begeht Europa mit verschiedenen Großereignissen den 75. Jahrestag der Beendigung der deutschen Besetzung und damit der Befreiung der Länder von Faschismus und Krieg. Völlig zu Recht wird dabei der 8. / 9. Mai 1945 in zahlreichen Ländern, die auf der Seite der Anti-Hitler-Koalition standen, als Tag des Sieges begangen. Diese Befreiung war in den meisten Ländern Ausgangspunkt für einen antifaschistisch-demokratischen Neuanfang, an den in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erinnern ist. Die Befreiungsleistung der verbundenen Kräfte der Anti-Hitler-Koalition, der Partisanen, der Frauen und Männer im Widerstand und der Angehörigen der alliierten Streitkräfte zeigte sich in symbolischen Daten, an die öffentlich erinnert wird.

Befreiung - auch der Deutschen?

Zuerst wurde in diesem Jahr am 27. Januar an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch Einheiten der sowjetischen Armee erinnert. Auschwitz gilt weltweit als Symbol der rassistischen Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus. Nicht umsonst wurde dieses Datum vor über einem Jahrzehnt von den Vereinten Nationen zum Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust erklärt. Zu den weiteren Ereignissen gehören der 13. Februar in Budapest, der 25. April in Italien, der 4. Mai in den Niederlanden, der 5. Mai in Prag und weitere nationale Gedenktage der Befreiung.

Während in den Jahren nach 1945 eigentlich alle ehemals besetzten Staaten diese Gedenktage in Erinnerung an die Befreiung des Landes begingen, ist im deutschen historischen Narrativ der 8. Mai anders konnotiert. Tatsächlich befreit fühlen konnten sich vor allem die Verfolgten des Naziregimes in den faschistischen Haftstätten sowie die Minderheit der Nazigegner, die sich in den Haftstätten, in den illegalen Gruppen oder im Exil bereits auf einen antifaschistisch-demokratischen Neuanfang vorbereitet hatten. Das berühmteste Beispiel dieser Nachkriegsorientierung ist sicherlich der "Schwur der Häftlinge von Buchenwald" vom 19. April 1945. Getragen von den verschiedenen Widerstandsgruppen im Lager, dem Internationalen Lagerkomitee, den Gruppen der Kommunisten, der deutschen und österreichischen Sozialdemokraten und Sozialisten sowie dem Volksfrontkomitee wurde für die Befreiungskundgebung auf dem Appellplatz eine gemeinsame Verpflichtungserklärung in mehreren Sprachen verfasst. Sie mündete in der bis heute gültigen Aussage: "Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel." Zurückgekehrt in ihre Heimatregionen stellten sich die ehemaligen Verfolgten von Anfang an den Alliierten als Helfer für einen Neuanfang in den jeweiligen Besatzungszonen zur Verfügung. Dass überzeugte Antifaschisten - vor allem in den westlichen Besatzungszonen - sich nach wenigen Jahren nicht mehr an den politischen Einflusspositionen befanden, wäre ein eigener historischer Gegenstand. Das ist ein markantes Zeichen für die Politik der gesellschaftlichen Restauration.

Für die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellte sich der 8. Mai - und auch die zahllosen Daten der regionalen Befreiung im Jahre 1945, nachdem die alliierten Truppen mit Aachen die erste deutsche Stadt erreicht hatten - zuallererst als Kriegsende dar. Hatte doch die große Masse der Deutschen bis 5 nach 12 die faschistische Kriegspolitik mitgetragen. Das war weniger Resultat ideologischer Begeisterung oder aus Angst vor faschistischem Terror, auch wenn in den letzten Tagen des Krieges zahlreiche deutsche Zivilisten von den eigenen Leuten umgebracht wurden und nicht mehr durch alliierte Kriegshandlungen. Wie man heute weiß, war es vielmehr aus Sorge vor dem, was eine Besetzung durch die Alliierten bringen würde. Man war sich der tatsächlich begangenen Verbrechen durchaus bewusst und fürchtete die "Rache der Alliierten". Die größte Angst hatte die deutsche Zivilbevölkerung jedoch vor den Zwangsarbeitern, die man in den Jahren zuvor ausgebeutet und drangsaliert hatte. Wie würden sie reagieren, wenn sie nicht mehr unter der Terrorknute des Naziregimes eingekerkert waren? Befreit fühlte sich die Masse der Bevölkerung nur von einer Sorge, nämlich noch in den letzten Tagen des nicht mehr gewinnbaren Krieges Leben, Verwandte oder Hab und Gut zu verlieren.

Der politische Einfluss der Antifaschisten spiegelte sich in einigen wichtigen Zeugnissen des antifaschistisch-demokratischen Neuanfangs wider (u.a. die Hessische Landesverfassung, Rechtsgrundsätze zur Befreiung, Gründungserklärung demokratischer Organisationen), jedoch blieb das Alltagsbewusstsein der deutschen Bevölkerung geprägt durch die materiellen Einschränkungen der Nachkriegszeit und zunehmend der Verdrängung der eigenen Beteiligung an der Verwirklichung der Ziele der faschistischen Terrorherrschaft. In Westdeutschland konnten so bürgerliche und reaktionäre Politiker im öffentlichen Auftreten, unterstützt durch konservative Medien, schon seit Ende der 40er Jahre eine sprachliche Neuorientierung für den 8. Mai 1945 durchsetzen. Wer Begriffe wie "Niederlage" oder "Katastrophe" benutzte, machte in diesen Jahren auch für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich, wie eng er sich mit der NS-Zeit verbunden fühlte, was in vielen Fällen durchaus gewollt war. Weniger reaktionäre Kräfte zogen sich auf die Begriffe "Zusammenbruch" oder - wertneutral - "Kriegsende" zurück. Der Begriff "Befreiung" wurde in den 50er und Anfang der 60er Jahre nur noch von Antifaschisten benutzt.

Da dieser Begriff in der damaligen DDR in den offiziellen Medien und Verlautbarungen ebenfalls verwendet wurde, geriet er in das ideologische Kampffeld des Kalten Krieges. Die aus heutiger Perspektive absurde Logik lautet: Der Begriff "Befreiung" wird auch von der DDR verwendet. Wer also diesen Begriff für den 8. Mai benutzt, vertritt die ideologische Position der DDR. Wer die DDR unterstützt, unterstützt den Kommunismus. Also ist derjenige, der von "Befreiung" spricht, Kommunist und aus der bundesdeutschen Gesellschaft auszugrenzen.

"Tag der Befreiung" wird gesellschaftsfähig

Erst die beginnende Auseinandersetzung über die verdrängte NS-Vergangenheit durch die 68er-Bewegung und die Debatten über die "braunen Universitäten" führten dazu, dass auch für den Begriff der "Befreiung von Faschismus und Krieg" in der Bundesrepublik gesellschaftlicher Raum entstand. Sichtbar wurde dies am 10. Mai 1975, als in Frankfurt/Main auf dem Römerberg eine bundesweite Kundgebung mit etwa 40.000 Menschen unter der Losung "30 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus - 30 Jahre Kampf für ein Europa des Friedens" stattfand. Wichtig war nicht nur die Zahl der Kundgebungsteilnehmenden - es war eine der größten Demonstrationen in Frankfurt in der Nachkriegszeit - sondern auch die politische und gesellschaftliche Breite der Unterstützer dieser Aktion. Schriftsteller, Professoren und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Parteien und Organisationen aus dem gesamten linken und humanistischen Spektrum hatten dazu aufgerufen.

10 Jahre später, im Jahre 1985 hatte diese Auseinandersetzung auch die Regierenden erreicht. Noch im Herbst 1984 meinte Helmut Kohl, er wisse nicht, was er am 8. Mai feiern solle. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Alfred Dregger assistierte ihm mit dem Hinweis, der 8. Mai sei eine der größten Katastrophen Europas gewesen und Katastrophen könne man nicht feiern. Heiner Geißler sprach vom "Tiefpunkt deutscher Geschichte". Und wenige Tage vor dem 8. Mai zelebrierte Helmut Kohl mit US-Präsident Ronald Reagan in Bitburg eine "Versöhnung über den Gräbern" der SS.

Es war der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der mit seiner Rede zum 8.Mai im Deutschen Bundestag diesem Datum eine ganz andere Konnotation gab. Zum ersten Mal sprach ein Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland vom 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus". Außerdem würdigte er - ebenfalls zum ersten Mal - den antifaschistischen Widerstand in seiner tatsächlichen politischen Breite, also unter wertschätzender Einbeziehung der Frauen und Männer aus dem kommunistischen Widerstand. Es waren nicht zuletzt diese Passagen, die "die Rede", wie sie später nur noch genannt wurde, so bedeutend machte.

Als Versuch eines ideologischen Roll-backs kann der Historikerstreit betrachtet werden, der im Jahr 1986 gegen diese geschichtspolitische Neubestimmung des gesellschaftlichen Narrativs vom Zaun gebrochen wurde. Unter der Überschrift "Vergangenheit, die nicht vergehen will" veröffentliche Prof. Ernst Nolte am 6. Juni 1986 in der FAZ einen Aufsatz, der eine breite öffentliche Debatte auslöste. Seine Thesen lauteten sinngemäß: Der Holocaust stelle keine Einmaligkeit dar. Die Vernichtungslager seien nur die Reaktion auf Bedrohungsängste Hitlers durch den Bolschewismus, der "Archipel Gulag" sei daher die Voraussetzung für Auschwitz und letztlich stelle Auschwitz in diesem Rahmen nur eine Art "technische Innovation" dar. Andreas Hillgruber assistierte in seinem Buch Zweierlei Untergang mit einer Neubewertung der deutschen Wehrmacht, deren Niederlage eigentlich eine Niederlage ganz Europas gewesen sei, habe man doch gegen die "Überflutung ihrer Heimat durch die Rote Armee" gekämpft.

Bei diesem Streit ging es nur vorgeblich um historische Fakten. Prof. Michael Stürmer hatte bereits die Parole ausgegeben: "In einem geschichtslosen Land [gewinnt derjenige] die Zukunft, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet." Aus antifaschistischer Sicht kam auch Prof. Reinhard Kühnl zu dem Ergebnis: "Tatsächlich aber geht es auch und wesentlich darum, welche Konsequenzen sich aus der faschistischen Vergangenheit für uns ergeben und welchen Weg dieses Land einschlagen soll. Nicht um die Vergangenheit geht es primär, sondern um die Zukunft."

Es war ein Ausdruck des ideologischen Kräfteverhältnisses in diesen Jahren, dass die reaktionäre Geschichtsrevision nicht erfolgreich war. Vielmehr nahmen antifaschistische Perspektiven breiten Raum in der Alltagsgeschichte ein. Nicht die scientific community, aber zahllose Initiativen würdigten den antifaschistischen Widerstand, begannen mit der Aufarbeitung der Regionalgeschichte der NS-Zeit, setzten sich für Gedenkorte und andere öffentliche Erinnerungszeichen ein. Man kann also tatsächlich von einer antifaschistischen Perspektive im Alltag sprechen.

Antifaschismus und die Delegitimierung der DDR

Dies wurde mit dem Ende der DDR 1989/90 und der damit verbundenen ideologischen "Delegitimierung der DDR" (Klaus Kinkel) auch auf dem Gebiet der BRD massiv bedroht. Die Abwicklung der antifaschistischen Gedenkorte in der DDR, die Angriffe auf die ehemaligen Mahn- und Gedenkstätten, die Beseitigung von Straßennamen und anderer öffentlicher Erinnerungszeichen in den "neuen Bundesländern" sind bekannt. Die Auswirkungen auf das öffentliche Gedenken waren deutlich sichtbar. Zum 8. Mai 1990 fanden nur vereinzelt regionale Aktivitäten statt. Der Bundestag und die Volkskammer beließen es bei kurzen, belanglosen Gedenkritualen.

Interessanterweise war jedoch im Alltagsbewusstsein der demokratischen und humanistischen Kräfte Antifaschismus nicht in dieser Form diskreditiert, wie es sich die Regierenden im Gefolge des Anschlusses vorgestellt hatten. In den neuen Bundesländern hielten sich Erinnerungsrituale, die - wenn sich die staatlichen Gremien nicht mehr dafür verantwortlich zeigten - oftmals von der PDS fortgeführt wurden. In den alten Bundesländern blieben antifaschistische Organisationen, Initiativen und Netzwerke aktiv, so dass der 8. Mai als Tag der Befreiung nicht in Vergessenheit geriet.

Das Jahr 1995 wurde in dieser Hinsicht zu einem Markierungspunkt, wie zukünftig in der deutschen Gesellschaft die Befreiung von Faschismus und Krieg begangen werden sollte. Es war erkennbar, dass - anders als 1990 - dieses Datum nicht durch die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung überlagert würde. Und es war zu erwarten, dass Antifaschisten sich deutlich einbringen würden, um den 8. Mai und die Befreiung öffentlich zu begehen. Noch einmal meldete sich Alfred Dregger zu Wort, dass angesichts von Zerstörung, Vertreibung und Elend der Deutschen von Befreiung keine Rede sein könne. Die Granden des deutschen Geschichtsrevisionismus veröffentlichten in der FAZ eine Anzeige, die den 8. Mai als "Beginn des Vertreibungsterrors" uminterpretierte. Aber diese Reaktionäre bekamen politischen Gegenwind, sodass selbst ihre geplante Großkundgebung in München mit Alfred Dregger abgesagt werden musste.

Befreiungskundgebungen in den KZ-Gedenkstätten wurden von Staatsvertretern dazu missbraucht, ihre Versuche der Abwicklung antifaschistischer Perspektive zu propagieren. Während in der Gedenkstätte Sachsenhausen Polizei protestierende Antifaschisten abdrängte, antwortete in Buchenwald der KZ-Überlebende Emil Carlebach dem CDU-Ministerpräsidenten, der die Selbstbefreiung der Häftlinge als kommunistische Legendenbildung denunziert hatte. Emil Carlebach erklärte unter dem Beifall der zehntausend Kundgebungsteilnehmer: "Es soll vergessen gemacht werden, wer tatsächlich mit den Verbrechern und ihrem Terrorregime zusammengearbeitet hat."

Der damalige Bundespräsident Roman Herzog reagierte auf diese gesellschaftliche Stimmung und erklärte im kommenden Jahr den 27. Januar, den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, zum nationalen Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. In der Konsequenz wurden von nun an staatliche Formen des Gedenkens an das Jahr 1945 auf dieses Datum fokussiert. Regelmäßig finden Feierstunden im Deutschen Bundestag statt, verschiedene Zeitzeugen bekamen die Möglichkeit an diesem Datum ihre Perspektive höchst offiziell zu präsentieren. So gelang es, die gesellschaftliche Auseinandersetzung um den 8. Mai als Befreiungstag in den Hintergrund zu drängen. In den östlichen Bundesländern hat es - initiiert von der recht starken PDS, später DIE LINKE - mehrfach Vorstöße gegeben, den 8. Mai zu einem offiziellen Gedenktag zu erklären. In Mecklenburg-Vorpommern gelang dies bereits vor einigen Jahren, in Berlin ist es für das Jahr 2020 von der Landesregierung beschlossen worden. In anderen Ländern wurden bislang solche Initiativen entweder abgelehnt oder nicht behandelt.

Der geschichtliche Streit in Europa

Während im deutschen Geschichtsnarrativ eine gewisse Normalisierung eingetreten ist, verschiebt sich der ideologische Streit verstärkt auf die europäische Ebene. Natürlich werden in den vom deutschen Faschismus besetzten Ländern die eingangs genannten Befreiungstage mit großer staatlicher und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit begangen. Wie sehr aber auch die Tage der Befreiung Teil der ideologischen Auseinandersetzungen sind, konnte man schon am 27. Januar 2020 erleben. Nachdem das polnische Parlament Anfang Januar eine Resolution über "Lügen über die Gründe für den Zweiten Weltkrieg" verabschiedet hatte, lehnten in diesem Jahr alle staatlichen Stellen Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Befreiung polnischer Städte vor 75 Jahren ab. Der Grund: Man hätte dabei an die sowjetischen Streitkräfte erinnern müssen, die unter schweren Verlusten beispielsweise Warschau am 13. Januar und Krakau am 17. Januar 1945 befreiten. Die polnische Regierung ließ erklären, man sei nicht befreit worden, sondern dies sei der Anfang einer Besetzung gewesen und das könne man nicht feiern.

Da die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz keine rein polnische Angelegenheit ist, fand dazu eine internationale Gedenkfeier statt. Zu dieser wurden Staatsgäste eingeladen, wie der deutsche Bundespräsident, der israelische Ministerpräsident, Vertreter der amerikanischen Regierung und der Europäischen Union. Nicht auf der Liste fand sich der russische Präsident oder ein anderer Repräsentant des russischen Staates. Vor einigen Jahren blamierte sich ein polnischer Minister mit der Aussage, es seien gar nicht die "Russen" gewesen, die Auschwitz befreit hätten, sondern die I. Ukrainische Front, weshalb der Präsident der Ukraine einzuladen sei. Dieser Minister hatte nicht begriffen, dass dieser Name sich von dem Frontabschnitt herleitete und der Oberkommandierende der russische Marschall I. S. Konew war. Es würde den Rahmen sprengen, weitere Beispiele der Geschichtsvergessenheit in dem polnisch-russischen Konflikt um die Daten der Befreiung aufzulisten.

Entscheidend ist jedoch, dass auf polnischer Ebene die PiS-Regierung massive Anstrengungen unternimmt, durch die Beseitigung von Denkmälern im öffentlichen Raum, durch die Umbenennung von Straßen, durch die Verleugnung von historischen Ereignissen die gesellschaftliche Erinnerung an die militärischen Befreier des polnischen Territoriums zu verdrängen. Vergleichbare Bestrebungen finden sich schon seit vielen Jahren in den baltischen Republiken, wo darüber hinaus selbst die Kollaborateure mit der faschistischen Herrschaft, die Freiwilligen der SS-Einheiten, zu neuen Ehren als "Freiheitshelden" kommen. In Lettland feierte sogar das Verteidigungsministerium ganz offiziell die "Helden der Verteidiger Rigas", lettische SS-Verbände, die im Oktober 1944 den Vormarsch der sowjetischen Streitkräfte auf die Hauptstadt Riga aufhalten sollten.

Aus dieser Sicht ist es durchaus folgerichtig, dass Abgeordnete der baltischen Republiken und Polens im Herbst 2019 in den verschiedenen Fraktionen des Europäischen Parlaments eine Resolution zur Geschichte auf den Weg brachten, deren ideologischer Kern nichts anderes bedeutet als eine Neuorientierung des europäischen Geschichtsbildes. Mit großer Mehrheit beschlossen am 19. September 2019 die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, dass sich Geschichte anders abgespielt habe, als es in Wirklichkeit war. So sei der Zweite Weltkrieg durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion begonnen worden, alle Ereignisse bis zum August 1939 hätten darauf keinen Einfluss. Die Länder Osteuropas seien nicht vom Faschismus befreit worden, sondern mit dem Vormarsch der sowjetischen Streitkräfte habe eine neue jahrzehntelange Unterdrückung begonnen. Das russische Volk sei bis heute unterdrückt, weil es sich nicht von den "Geschichtsmythen" der Regierenden befreien könne. Die Liste der Geschichtsverfälschungen ließe sich noch deutlich verlängern.

Damit wird versucht, die Europäische Union und ihre Institutionen gegen eine wahrheitsgemäße Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu positionieren. So massiv wie zu Zeiten des Kalten Krieges werden auf diesem Wege Geschichte und Geschichtspolitik in anti-russischer Perspektive instrumentalisiert.

Angriffe auf antifaschistische Geschichtsperspektive

Solch Geschichtsrevisionismus ist jedoch nicht das "Privileg" von Transformationsstaaten. Auch in unserem Land erleben wir in den vergangenen Monaten und Jahren zunehmende Versuche der offenen Rechtskräfte, Antifaschismus und antifaschistische Geschichtsperspektive gesellschaftlich zu diskreditieren, zu denunzieren und zu behindern.

Es ist hier nicht der Platz, die zahllosen Vorstöße z.B. der sächsischen CDU aufzulisten, die mit Verweis auf eine "Extremismus-Klausel" zivilgesellschaftliche Initiativen und örtliche Bündnisse gegen rechts in ihrem Handeln massiv einschränken. Nachdem nun die extrem rechte AfD auf allen Ebenen des parlamentarischen Systems angekommen ist, setzt diese solche Vorstöße gegen alles, was sie unter "Antifa" subsummiert, fort. Die AfD startet parlamentarische Anfragen zu antifaschistischen Netzwerken oder zur Förderung von Aktionen gegen rechts. Anträge zur Mittelstreichung für zivilgesellschaftliche Initiativen sind an der Tagesordnung. Und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), ein zentraler Träger des erfolgreichen Netzwerkes "Aufstehen gegen Rassismus", ist in den Augen der extremen Rechten Hort links-extremistischer Betätigung. Darin deckt sich die Meinung der AfD mit der des bayerischen Verfassungsschutzes. Dessen Darstellung zur Arbeit der VVN hat zwar mit der Wirklichkeit nichts zu tun, wurde aber vom Verwaltungsgericht München mit dem Privileg einer "begründeten Meinungsäußerung" für unantastbar erklärt.

Man könnte darüber hinweggehen, wenn nicht ausgehend von dieser Verleumdung aktuell eine andere Institution die Existenz antifaschistischer Arbeit gefährde, nämlich die Finanzämter mit der Verweigerung der Gemeinnützigkeit für die älteste überparteiliche antifaschistische Organisation der BRD. Dabei geht es nicht um finanzielle "Privilegien", sondern um eine gesellschaftliche Definition, welches zivilgesellschaftliche Handeln heute und zukünftig anerkennenswert und förderungswürdig sei. Wenn der VVN-BdA tatsächlich die Gemeinnützigkeit aberkannt werden sollte, dann machen dieser Staat und seine Institutionen deutlich, dass antifaschistische Erinnerungsarbeit, aktives Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus sowie alle Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung, Einsatz gegen extrem rechte Organisationen und Strukturen nicht zur Staatsräson gehören.

Wer in Sonntagsreden zunehmenden Antisemitismus beklagt und über den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke (CDU) erschrickt, aber diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sich seit Jahrzehnten gegen solche Entwicklungen in der Gesellschaft engagieren, diskriminiert, der ist nicht nur unglaubwürdig, der leistet der Rechtsentwicklung in dieser Gesellschaft deutlichen Vorschub.

Es wäre sicherlich ein positives gesellschaftliches Signal, wenn 35 Jahre nach der eindrucksvollen Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und 25 Jahre nach dem Gedenktag am 27. Januar nun auch der 8. Mai in die Liste der offiziellen Gedenk- und Feiertage aufgenommen würde. Das wäre ein Signal auch auf europäischer Ebene, wo die Erinnerungsarbeit wie gezeigt geschichtsrevisionistisch überlagert ist. Solche symbolischen Schritte bleiben aber folgenlos, wenn es nicht gelingt, diejenigen gesellschaftlichen Kräfte zu unterstützen, die sich der politischen Rechtsentwicklung entgegenstellen.

Erfreulich ist, dass in den vergangenen Jahren an verschiedenen Hochschulen von Wissenschaftler/inne/n und Studierenden Kolloquien, Vorlesungsreihen, Forschungsgruppen zu dieser Thematik initiiert wurden. Sie leisten Verdienstvolles in der Aufarbeitung und im wissenschaftlichen Klärungsprozess der gesellschaftlichen Prozesse.

Es scheint mir aber - gerade an diesem Thema - notwendig, dass Wissenschaft sich aktiver in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selber einmischt. Denn in einigen Feldern hat es bereits den Eindruck, dass der Einfluss der extremen Rechten auch auf die Freiheit von Forschung und Lehre bereits spürbar ist. Was in den 70er und 80er Jahren der "Bund Freiheit der Wissenschaft" betrieb, wird heute von der AfD und ihren akademischen Gefolgsleuten weitergeführt. Es geht dabei um nicht weniger als die Veränderung des gesellschaftlich getragenen Geschichtsbildes.

Sich dagegen zu positionieren, ist auch Verantwortung demokratischer Wissenschaft heute. Und eine wirkungsvolle Form der Erinnerung an den 75. Jahrestag der Befreiung wäre ein Handeln, dass sich dem Vermächtnis der Überlebenden: "Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln" und "Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit" verpflichtet fühlt.

Dr. Ulrich Schneider, Historiker, Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)