Ich fange ohne langes Vorgeplänkel mit zwei Thesen an.
1. Der Marxismus ist eine polemische Theorie und Praxis, schon deshalb, weil er als Instrument für den Kampf der Arbeiterklasse und ihrer möglichen Verbündeten zur Überwindung des Kapitalismus entstanden ist.
Und darum 2. ist der Marxismus eine historische Theorie und Praxis, nicht nur, weil er die Geschichte dieser polemischen Entwicklung aufbewahrt, sondern auch, weil man nach Überzeugung des Marxismus nichts wirklich versteht, dessen Geschichte, dessen Ursprung und Entwicklung man nicht kennt, weder die Ausbeutung noch die Krisen, weder den Faschismus noch den Krieg, weder den Rassismus noch die Freiheitskämpfe.
Dieser polemische Marxismus ist, ebenfalls seines Ursprungs und Zieles wegen, selbst heftig umstritten. Es gibt die Kämpfe von rechts gegen ihn, aber es gibt auch nicht wenige Auseinandersetzung im Lager derjenigen, die Marxisten sind oder es sein wollen.
Da gibt es ein Grundmuster der Marxismus-Debatten unter den Linken. Es wird zwischen Marx und der Wirkungsgeschichte des Marxismus unterschieden. Etwa nach dem Motto: Marx, der geht in Ordnung, doch die Entwicklungsgeschichte dieses Marxismus, die sollte man am liebsten vergessen. Ganz so, wie Ingo Elbe meinte, man müsse den Schutt der hundertjährigen Reproduktionsgeschichte des Marxismus wegräumen. Wir treffen dieses Grundmuster gegenwärtig da, wo es um Marx und „Das Kapital“, also das Grundwerk von Marx geht. Ich möchte aber jetzt schon empfehlen – und werde das einige Male wiederholen – lasst den Text des Werks wenigstens zunächst einmal ganz einfach auf euch wirken, lest es und lasst euch nicht davon ablenken, „Das Kapital“ selbst zu studieren. Gerade zu Beginn dieses Studiums sollte man sich am Original orientieren, bestenfalls an guten, sich eng an das Original anschließenden Einführungen, sich aber nicht in den Urwald der „Marx-und-Marx-oder-usw.“-Debatten locken lassen.
Prüfen wir einige dieser Marx-und-Engels-Interpretationen, die von einem Widerspruch zwischen Marx und Engels ausgehen und auf dieser Behauptung Marx und seine Wirkungsgeschichte gegeneinander stellen. Und da komme ich auf Michael Heinrich zu sprechen, der in den Marx-Debatten seit Jahren eine Rolle spielt. Ich nehme seine „Kritik der politischen Ökonomie. Einführung“.
Das Buch ist im Stuttgarter Schmetterling-Verlag in kurzer Zeit in acht Auflagen erschienen. Es ist dies ein erfreuliches Zeichen dafür, dass der intellektuelle Schlaf in unserem Lande zu Ende gehen könnte.
Es geht im einleitenden Teil des Buches um die reale Geschichte der Arbeiterbewegung, zumindest eines relevanten Teils dieser Geschichte. Es ist dies aber keine wirkliche Geschichtsdarstellung, sondern nur die Wiedergabe der politischen Reflexionen Heinrichs, also eines bestimmten politischen Standpunktes. Anders ist es, wenn man seine einführenden Texte in Marxens Politische Ökonomie herannimmt. Sie sind, soweit sie am Text entlang einführen, verdienstvoll, man kann sich auf sie verlassen. Nur verbindet Heinrich diese Einführung mit einer Sichtweise, die sich nicht aus Marxens „Kapital“ selbst ergibt, sondern eine ganz klare politische Position zur Grundlage hat. Ich bin kein Gegner einer klaren politischen Position, es geht aber darum, ob man in das Werk von Marx einführt oder ob man diese Einführung benutzt, um eine bestimmte, sich nicht aus dem „Kapital“ ergebende politische Sichtweise zu verkünden.
Heinrich meint, einen Weltanschauungsmarxismus entdeckt zu haben, den er bekämpft. Ich polemisiere nicht dagegen, dass Heinrich meint, etwas entdeckt zu haben, sondern um dessen Interpretation und um die Behauptung, dieser Weltanschauungsmarxismus gehe auf Engels zurück. Der Autor macht das so: Da gab es einen Privatgelehrten – der war übrigens ein armer Teufel –, Dühring mit Namen, der in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts sich in der Sozialdemokratie einen Namen gemacht hatte. In den Augen von Marx und Engels war dieser Einfluss schädlich für die Arbeiterbewegung, man sollte ihm deshalb entgegentreten. Im Einverständnis mit Marx „trat“ Engels dem Dühring entgegen. Das Ergebnis ist das Buch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“. Und damit habe der „Weltanschauungsmarxismus“ seinen Weg angetreten. Marx wusste aber nicht nur von diesem Unternehmen des Friedrich Engels, er hatte ausdrücklich der Arbeit zugestimmt und sogar ein eigenes Kapitel zum „Anti-Dühring“ geschrieben. Er hat die von Engels unter dem Titel „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ besonders herausgegebenen Kapitel des Buches in höchsten Tönen gelobt und ins Französische übersetzt. So wäre also Heinrichs „Weltanschauungsmarxismus“ das gemeinsame Werk von Engels und Marx!
Richtig wäre es gewesen, wenn Heinrich diesen „Weltanschauungsmarxismus“ auf den zurück geführt hätte, der ihn tatsächlich begründete: Auf Karl Kautsky. Aber um das zu verstehen, muss man die Einstellung Kautskys – übrigens der gesamten deutschen Linken, also auch etwa von Franz Mehring und Rosa Luxemburg – zur Philosophie im Allgemeinen, zur marxistischen im Besonderen kennen. Kautsky verstand unter Marxismus auf dem Gebiet der Philosophie nur den historischen Materialismus, und bei Mehring war das nicht anders. Kautsky meinte, man könne diese materialistische Geschichtsauffassung mit Kant, mit dem Empiriokritizismus und noch anderem verbinden. Bei solcher Unkenntnis philosophischer Grundlagen darf man sich nicht wundern, dass die berühmten „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ des jungen Marx im SPD-Parteiarchiv unbeachtet herumlagen und erst 1931 von Rjasanow in Moskau in ihrer Bedeutung erkannt wurden.
Kautskys Verständnis der materialistischen Geschichtsauffassung war an Darwins Evolutionstheorie orientiert. Sie benutzte er, um eine mechanistische Fortschrittsauffassung zu produzieren. Kernpunkt war: Da der Kapitalismus seine Produktion ständig ausweiten muss, wächst auch das Proletariat. Man muss sich nicht um Revolution sorgen, sie kommt mit mechanischer Notwendigkeit. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“ Gegen diesen flachen, pseudo-fortschrittlichen „Weltanschauungsmarxismus“ erhob sich Widerstand. Es waren junge Intellektuelle, die nicht einverstanden damit waren, die Aktivität der Menschen so gering zu schätzen. Sie setzten auf das revolutionäre Handeln: die Anton Pannekoek, Rosa Luxemburg, etwas später Antonio Gramsci, Georg Lukács und andere. Sie verstanden den Marxismus aktivistisch. Ihre Motive waren sicher ehrenwert, Lenin hat dies beispielsweise, trotz seiner Kritik an Pannekoek, immer wieder so gesehen. Doch hatten sie Auswirkungen, die mit diesem Motiven nichts zu tun hatten.
Heinrich hätte erstens nachzuweisen, dass es diesen sogenannten Weltanschauungsmarxismus bei Engels gab. Da hätte er viele Wendungen und Windungen vornehmen müssen angesichts der berühmten achtzehn Altersbriefe, in denen Engels gegen derartige Verballhornungen des Marxismus zu Felde zog. Oder auch angesichts der durch Engels überlieferten Äußerungen von Karl Marx – er entgnete französischen Freunden, als sie ihr Verständnis des Marxismus dem Alten vortrugen : Wenn das, was ihr da erzählt, Marxismus ist, so bin ich kein Marxist. Das wird gern verfälscht zu, Marx hätte gesagt, er sei kein Marxist.
Aber statt solcher Nachweise, dass Engels dem Karl Marx Gewalt angetan hätte, liefert Heinrich nur Behauptungen hinsichtlich des Weltanschauungsmarxismus. Er hätte zu zeigen, dass dieser Weltanschauungsmarxismus in den Arbeiten von Engels etwa zum „Kapital“ solche grundlegenden Kategorien und Positionen wie die Arbeitswert-, die Mehrwert- die Reproduktionstheorie usw. revidiert, verstümmelt, gefälscht, verhunzt hätten. Dazu gibt es bei Heinrich nichts. Wenn er gesagt hätte, die Marx’schen Theorien seien in ihrer Anwendung durch den Weltanschauungsmarxismus des Engels, Kautskys, Lenins (den er auch ohne irgend einen Beweis solcher Untaten beschuldigte) verfälscht, verflacht, auch missbraucht worden, so könnte man darüber immerhin diskutieren. Oder untersuchte man nicht nur die Theorie, sondern auch ihre Anwendung etwa in der Sowjetunion, so käme man vielleicht bei manchem zu Übereinstimmung. Aber aus einer eventuell falschen Anwendung der Theorie folgt nicht die Falschheit der Theorie. Diese Art unwissenschaftlichen Vorgehens konnten wir doch in der bürgerlichen Marxismus- und Sozialismus-Kritik insbesondere seit 1989/90 verfolgen. Da wurde doch immer wieder versucht, die Niederlage des Frühsozialismus aus dem Werk mindestens von Engels, wenn nicht sogar von Marx selbst herzuleiten, also nicht erst im Wirken Stalins und Lenins die Gründe zu suchen. So etwas ist schlechte Ideologie, politischer Voreingenommenheit geschuldet.
Einer zweiten Version solcher Marx- und Marxismus-Diskussionen liegt die Unterscheidung zwischen einem esoterischen und einem exoterischen Marxismus zugrunde. Ich verweise auf eine Broschüre. Ihr Titel lautet „Defizite im Marxschen Werk“. Sie enthält Vorträge bzw. Ausarbeitungen der Arbeitsgemeinschaft Marx-Engels-Forschung des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen. In ihr sind einige der ständigen Diskutanten zum Marxschen Werk enthalten, also auch Heinrich, Mohl, Reichelt u. a. Man geht in diesen Texten zutreffend davon aus, dass weder Lenin noch Rosa Luxemburg, um nur sie zu nennen, solche Werke der Begründer des Marxismus wie Marxens „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ aus dem Jahr 1843/44, Marx und Engels‘ „Die deutsche Ideologie“ aus dem Jahre 1846/7, die naturdialektischen Studien von Engels, wahrscheinlich auch Marxens Kritik des Hegelschen Staatsrechts kannten, wozu dann noch die riesige Menge des Marxschen Nachlasses gehört.
Lenin/Luxemburg usw. haben also – um das Modewort zu benutzen – den esoterischen Marx nicht kennen können, woraus sich die Frage ergibt, ob sie denn wirklich Marxisten waren, gewesen sein konnten. Zur Klärung des Problems trägt vielleicht folgendes bei. Rudolf Hecker, einer der Mitherausgeber der neuen MEGA, schreibt in einem Aufsatz zu Marxens Geburtstag am 5. Mai 2008: „Wissen wir nun schon alles über Marx? Angesichts der 54 veröffentlichten MEGA-Bände und der noch ausstehenden 60 von insgesamt also 114 würde die Antwort lauten: 47,4 Prozent: Also Ja und Nein.“ (Aus „Junge Welt“ vom 05. 05. 2008, S. 11) Jene, die den esoterischen Marx vor dem Angriff des exoterischen Marx retten wollen, haben es also mit der Problematik zu tun, dass auch ihr esoterischer Marx nur ein esoterischer von einem noch umfangreicheren esoterischen Marx ist. Übrigens reiten einige dieser Autoren schon seit Jahrzenten ihr jeweiliges Steckenpferd, aber ich konnte nicht wahrnehmen, dass sie für die Verbreitung des Marxismus, für die Gewinnung neuer Kämpfer gegen den Kapitalismus eine Rolle gespielt hätten. Sie bewegen sich immerfort in ihren weltabgehobenen Diskussionszirkeln und verbreiten die Mär in der Nachfolge politischer Positionen der 68er und der Frankfurter Schule.
Es gibt ein Buch, es ist bereits in erster Auflage 1985 erschienen. Autor ist Dieter Wolf, das Buch mit dem Titel „Der dialektische Widerspruch im Kapital“, VSA-Verlag 2009. Schon 1985 setzte sich der Autor mit Backhaus, Reichelt, Coletti, Werner Becker usw. usf. auseinander. In Arbeiten von Wolfgang Fritz Haug, von Renate Wahsner, Holger Wendt gibt es Kritiken dieser ganzen Strömung, die aber zur Wiederbelebung der Marx-Diskussion, wie sie gegenwärtig an Universitäten stattfindet, in all den vergangenen Jahren keinen Beitrag geleistet hat, diese Widerbelebung ist vielmehr der Wahrnehmung des heutigen Kapitalismus geschuldet.
Die Methode, Werk und Wirkungsgeschichte prägender Persönlichkeiten zu trennen oder es nur selektiv darzubieten, ist nicht neu. Ich möchte dieses Verfahren an einem anderen Beispiel verdeutlichen. Nietzsche, ohne Zweifel tonangebend für die gesamte spätbürgerliche Philosophie, wird von Marxisten als eine Hauptquelle reaktionären Denkens, in seinen Verzweigungen bis hinein in den Faschismus reichend, eingeschätzt. Immer mal wieder wurde und wird versucht, ihn zu retten. Da wird dann ausgestreut, sein berüchtigter „Der Wille zur Macht“ stamme gar nicht von ihm, sondern sei ein Machwerk seiner ehrgeizigen Schwester Elisabeth. Diese Trennung von Werk – der Autor besser als sein Ruf – von der realen Wirkungsgeschichte – Nietzsches Werk als substanzgebend für den Nazismus – sollte Nietzsche entnazifizieren und es so ermöglichen, seinen Ungeist auch heute ungehemmt wirken zu lassen.
Die Analogie soll nur die Methode kennzeichnen, die bei der Trennung von Werk und Wirkungsgeschichte, bezogen auf Marx, benutzt wird, ohne dass daraus schon Werturteile abgeleitet werden sollen. Denn unbestritten ist, dass Marx (und auch Engels) „mehr“ sind als das, was wir von ihnen kennen – noch ist, ich sagte es bereits, eine ebenso große Menge ihrer Arbeiten unveröffentlicht, wie es veröffentlichte Materialien von ihnen gibt.
Wie steht es um die oft – beispielsweise auch in Lukács „Geschichte und Klassenbewusstsein“ – behauptete „Differenz“ des Wirkens von Marx und Engels?
Engels selbst hatte einige Male, beispielsweise in Vorworten zu Ausgaben des „Kommunistischen Manifests“, auf diese „Differenz“ hingewiesen, sich etwa die zweite Geige neben der ersten Geige Karl Marx genannt. Er hat wiederholt klargestellt, dass die Hauptgedanken in ihrer beider Werke von Marx stammten. Aber jahrzehntelang haben beide gleichsam Seit’´an Seit’ zusammen gearbeitet, wobei Engels oft auch als Marxens Ratgeber (etwa bei Auskünften über die Praxis kapitalistischen Wirtschaftens oder um solche in naturwissenschaftlichen Dingen) wirkte. Wir konnten nachweisen, dass Marx Material aus den eigenen Vorarbeiten zur Dissertation für die naturdialektischen Studien von Engels zur Verfügung stellte. Damit waren die einst von Lukács vorgebrachten, dann von Sartre, Alfred Schmidt und anderen nachgebeteten Behauptungen widerlegt, Marx habe diesen Studien schon seines eigenen Begriffs von Philosophie wegen fern gestanden.
Das Institut für Marxistische Studien in Frankfurt a. M. führte 1970, Lenins Geburtstag würdigend, eine Konferenz unter dem Titel „Die Frankfurter Schule im Lichte des Marxismus“ durch. Eingeladen und erschienen waren von der kritisierten Schule Alfred Schmidt, Oskar Negt, Alfred Sohn-Rethel, Ernst Theodor Mohl und andere. Es wurde eine philosophisch-theoretische (auch politische!) Debatte auf hohem Niveau ausgetragen, die bis hin zu BBC-London und in die „FAZ“ hinein große Beachtung fand und zu einem Briefwechsel zwischen Horkheimer und mir führte. Wir konnten auf noch unveröffentlichte naturwissenschaftliche Materialien Marxens verweisen, von denen einige, eingeleitet von Kurt Reiprich, damals unmittelbar vor der Veröffentlichung standen. Danach waren die Angriffe auf Engels, die sich auf die Naturdialektik, auf die philosophischen Ansichten Engels, auf deren angebliche Abweichung von Marxens Denken bezogen, zunächst erst einmal „vom Tisch“
Ich nehme ein drittes Beispiel, die Auseinandersetzung um Georg Lukács und die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ des jungen Marx. Lukács kam vom Neuhegelianismus her, stand im Banne Hegels. Der hatte 1808 an seinen Freund Niethammer geschrieben: Ist erst das Reich des Geistes revolutioniert, kann die Wirklichkeit nicht mehr lange standhalten. Das ist ja nur in der idealistischen Übertreibung falsch, denn trotz allem Geist: Letztlich ist es nicht er, der den Umsturz bewirkt, sondern es sind aktionsbereite Menschen nötig. Unter dieser hegelianischen Wirkung und angesichts der fatalistisch-mechanistischen Deutung der materialistischen Geschichtsauffassung und Politik-Theorie durch die Säulenheiligen der II. Internationale haben solche jungen Intellektuellen – ich nannte bereits einige Namen – ein voluntaristisches Philosophie- und Politik-Verständnis des Marxismus entwickelt. Lukács „Geschichte und Klassenbewusstsein“ aus dem Jahre 1923 war ein Ergebnis dessen. Sein Kerngedanke war: Mit der Erringung seines Klassenbewusstseins durch das Proletariats wälzt sich der ganze kapitalistische Bau um. Und nun kommt 1931 Lukacs nach Moskau und findet dort bei dem Herausgeber der ersten MEGA, Rjasanow, die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ des jungen Marx. Dies führt zu einer Umwälzung seines Denkens, hin zum konsequenten Materialismus. Doch das Interessante besteht darin: Unsere Lukács-Verehrer aus dem 68-Lager haben diese Revision im Denken ihres Budapester Über-Vaters nicht zur Kenntnis genommen. Das passte nicht in ihre Selbstbeweihräucherung. Sie verstanden sich doch als die Herolde eines erneuerten, westlichen Marxismus. Der sollte die moskowitische Marxismus-Version verdrängen. Und sie sollten als neues revolutionäres Subjekt an die Stelle der ins kapitalistische System integrierten Arbeitermassen treten.
Eine weitere Version der Marxismus-Debatte besteht darin, immer mal wieder die Legende zu verbreiten, Engels habe als Herausgeber von nachgelassenen Marx-Arbeiten diese ein wenig „korrigiert“. Es wäre gewissermaßen der erste Revisionist gewesen. Da kommt es gerade recht, dass Georg Fülberth umfangreich neue Bände der neuen MEGA (es handelt sich um die Bände 11 bis 14) unter die Lupe nehmen und zeigen konnte, ich zitiere das Ergebnis seiner Prüfung: „Wenn nunmehr das gesamte ökonomische Hauptwerk von Karl Marx in allen – auf den bis dahin noch ungedruckten –Varianten vorliegt, könnten zwei Fragen beantwortet werden, die die marxistische und philologische Community vorher notgedrungen unerledigt vor sich herschieben musste.
Erstens: wie verhalten sich die Anteile des Autors Marx zu denen des Herausgebers Engels? Gab es – wie immer mal vermutet – sinnverändernde Eingriffe?
Zweitens damit verbunden: lässt sich aus der nunmehr erfolgten Erschließung des gesamten Textes völlig Neues gewinnen, das bisher im Nachlass verborgen war? Das Material zur zweiten Frage ist da, die Antwort bisher ausgeblieben. Eine umfassende Auswertung der Manuskriptmasse erfolgte nicht. Zur Frage des Verhältnisses von Marx-Text und Engels-Edition haben allerdings die philologischen Bearbeiter(innen) des zweiten und dritten Bandes in ihren Einführungen und in ihren Variantenverzeichnissen der Apparat-Teile wahrscheinlich schon das Wichtigste gesagt: Engels hat Marx korrekt wiedergegeben, er hat lediglich da und dort eine innere Schlüssigkeit zwischen Textteilen hergestellt, die im Nachlass disparat herumlagen. Es dürfte unmöglich sein, aus den bislang ungedruckten Varianten einen Text zu fertigen, der etwas völlig anderes ist als die Bände 24 und 25 in der DDR einst veröffentlichten Werkausgabe (MEW).“ (Georg Fülberth. Zum Abschluss der historisch-kritischen Kapital’-Edition, in: „Marxistische Blätter, 3/09, S. 88/9)
Kommen wir nun zum bürgerlichen Umgang mit der Marxschen Politischen Ökonomie. Die Untersuchung dieser Frage wirft zugleich ein helles Licht auf den Zusammenhang der Klassenpositionen und ihrer Rolle bei der Gewinnung und Verhinderung gesellschaftswissenschaftlicher Einsichten. Als es der jungen kapitalistischen Bourgeoisie zu dumm wurde, dass in ihren Werken der Reichtum der Nation zwar erarbeitet wurde, sie diesen aber mit den adligen und fürstlichen Schmarotzern teilen sollten, die nicht arbeiteten, aber fraßen und soffen, da entdeckten ihre Wortführer, die Adam Smith & Co, dass Wert nichts anderes als Arbeit ist und dass darum nur jene aneignen dürften, die auch arbeiten. Doch als Owen und danach Marx schlussfolgerten, dass also eigentlich nur die Arbeiter aneignen dürften, da „vergaßen“ die bürgerlichen Theoretiker schnell die Arbeitswerttheorie, sie fristet seitdem in den sogenannten Wirtschaftswissenschaften unserer Universitäten nur noch in den Folterkammern für Polemik ein düsteres Dasein.
Marx jedoch ging von dieser Arbeitswerttheorie aus und fragte: Wenn Wert aus Arbeit entsteht, so liegt doch es auf der Hand, dass man sich gründlicher mit der Arbeit und dem Arbeiten auseinandersetzt. Genau das tat Marx. Dabei entdeckte er und wird dies den Springpunkt zum Verständnis aller Ökonomie nennen: dass Arbeit im Wertbildungsprozess auf zwei verschiedene Arten vorkommt. „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakter Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andererseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besonderer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.“ („Das Kapital“, Band I. S. 51) Unmerklich sind wir bei der Untersuchung gesellschaftswissenschaftlicher Themen auf den Zusammenhang von Klassen –, von politischen Positionen und dem Gewinn oder Verlust von wissenschaftlichen Erkenntnissen gestoßen. Das zeigt sich dann auch im Umgang der bürgerlichen Politischen Ökonomie mit der objektiven Wert- und der Arbeitswerttheorie. Hier sind vor allem zu nennen die Grenznutzen- und analoge subjektive Theorien. Oder die „Lehre“ von mehreren Faktoren, die, in Gestalt etwa der Unternehmenstätigkeit und der eingesetzten Technik neben der Arbeit, wertbildend sein sollen.
Um die subjektiven Theorien verstehen und kritisieren zu können, muss man beachten, dass die Politische Ökonomie nicht von Dingen und ihren Eigenschaften handelt, sondern von Beziehungen, welche die Menschen im Prozess der Erzeugung ihrer Lebensbedingungen eingehen. Die Dinge, ihre Nützlichkeit, ihren Gebrauchswert zu erforschen, ist Thema der Warenkunde, der chemischen, der physikalischen, der technischen Wissenschaft, nicht der Politischen Ökonomie. Doch die subjektiven Theorien gehen gerade vom Gebrauchswert aus, von dessen Nutzen, der aber ist – wie gesagt – kein Gegenstand der Politischen Ökonomie., sondern der Natur- und Technik-Wissenschaft oder der Warenkunde. Die Theorie heißt Politische Ökonomie und das kommt her vom Griechischen, wo Polis Gemeinschaft, Gesellschaft bedeutet. Wenn die bürgerliche Theorie diesen Gegenstand an den Universitäten Wirtschaftswissenschaft nennt, so merkt sie gar nicht, dass in dem Wort Wirtschaft der Wortteil Wert steckt und es folglich um das Wertschaffen gehen sollte. Und es ist nicht das anonyme Volk, das Werte schafft, sondern es sind jene Angehörigen des Volks, die produktive Arbeit verrichten.
Die subjektiven Wert-„Theorien“ verwechseln allesamt diese entscheidende Differenz. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass man beim Studium des Kapitalismus das Basis-Wissen des Marxismus begreift, diesen Springpunkt zum Verständnis aller Politischen Ökonomie. Und dann versteht man auch, warum bürgerliche Gesellschaftswissenschaft mit allen Mitteln versucht, solches Basis-Wissen gar nicht erst in die Hirne etwa unserer Studierenden oder Arbeitenden eindringen zu lassen.
Noch ein paar Worte zur subjektiven Wertlehre. Ausgangspunkt ist also der Gebrauchswert der Ware und das durch ihn bewirkte subjektive Empfinden (sic!) der Bedürfnisbefriedigung. Je nach dem Grade der Bedürfnisbefriedigung ist sein Wert hoch oder niedrig. Je seltener ein bestimmter Gebrauchswert ist, desto höher sei sein Wert. Nun sind Gebrauchswerte zwar Voraussetzung für die Verwandlung von Produkten in Waren, aber es gibt Gebrauchswerte, die unbeschadet ihrer Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung keine Wert haben, etwa die auf einem Bauernhof durch die Großfamilie produzierten Dinge: Sie haben Gebrauchswert, werden aber nicht unter den Familienmitgliedern des Bauernhofes getauscht, sie haben keinen Tauschwert, keinen Wert. Die subjektiven Theorien nehmen allein das subjektive Empfinden zur Wertbestimmung, klammern die im Tausch entstehenden gesellschaftlichen Beziehungen völlig aus. Das ist keine Gesellschaftswissenschaft.
Die erwähnte Mehrfaktorentheorie, wonach es neben der Arbeitskraft auch die Unternehmertätigkeit und die vom Unternehmer eingebrachte Technik ist, welche den Wert schaffen, diese weit verbreitete und auf den ersten Blick ja auch einleuchtende These, hat Marx schon widerlegt. Die Technik, die objektiven Produktionsbedingungen, die der Unternehmer kauft, enthalten in der Tat Wert. Der wurde ihnen aber durch vorherige Arbeit zugesetzt. Und der Unternehmer hat ihn auf Heller und Pfennig bezahlt. In dem folgenden Produktionsprozess überträgt diese Technik den in ihr enthaltenen Wert auf die neuen Produktionsergebnisse, es wird also kein neuer Wert erzeugt, sondern nur bereits vorhandener übertragen. In den Worten von Karl Marx: „Zieht man von dem Wert einer Ware jenen Wert ab, der Ersatz ist für den in ihr enthaltenen Wert der Rohstoffe und andern Produktionsmitteln, d. h. den Wert der in ihr enthaltnen vergangnen Arbeit, so löst sich der Rest ihres Werts in das Arbeitsquantum auf, das ihr der zuletzt beschäftigte Arbeiter zugesetzt hat.“ Was jedoch den Unternehmer anbetrifft, so geht die marxistische Politische Ökonomie davon aus, dass dieser, insofern er plant, organisiert, Arbeit verrichtet, eben auch werterzeugend ist und dass ihm folglich Lohn gebührt. Die Frage ist nur die, wie man dessen Leistung bemisst, eine gewiss schwierig zu lösende Aufgabe. Aber ob das Hundert- oder gar Tausendfache eines Arbeiter- oder Angestellten-Lohns für die Tätigkeit etwa Josef Ackermanns angemessen ist, das dürfte wohl mit einem Nein zu beantworten sein. Kein Mensch leistet das Hundert- oder Tausendfache einer einzigen Arbeitskraft.
In der „Deutschen Ideologie“, die Marx und Engels gemeinsam verfassten, sagen sie, dass letztlich alle Wissenschaft geschichtlicher Art sein müsse, und ich begann ja meinen Text mit einer entsprechenden These über den historischen Charakter des Marxismus in Theorie und Praxis. Aber ausgerechnet beim „Kapital“ sollte Marx – wenn man Michael Heinrich Glauben schenkt – diese grundlegende Erkenntnis aufgegeben haben? Engels hat in der ersten Rezension zum „Kapital“, sie erschien zu Marx’ Lebenszeit, ausführlich auf die innere Verbindung von logischer Struktur und historischer Entwicklung verwiesen – eine These, die Heinrich zugunsten des nur Logischen preisgeben möchte. Das berühmte 24. Kapitel des „Kapitals“ behandelt die Entstehung des Kapitalismus.
„Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist also nichts anderes als der historische Scheidungsprozess von Produzenten und Produktionsmitteln. Er erscheint ´ursprünglich, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.“ (ebenda, S. 753) Diese Vorgeschichte wird ausführlich dargestellt, es ist dies geradezu eine Kulturgeschichte des Prozesses der Entstehung und Entwicklung dieser Produktionsweise. Sie ist, wie Marx einen anderen Autoren zitiert: der Prozess, in dem das Kapital von Kopf bis Zeh aus allen Poren blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen ist. Es sollte geradezu Pflicht für einen gebildeten Menschen sein, diese Geschichte, ihre Darstellung durch Marx zur Kenntnis zu nehmen, damit man all den schönen, blumigen Redensarten, die zur Lobpreisung des Kapitalismus in die Welt gesetzt wurden und werden, mit der Wahrheit entgegentreten kann. Und es ist doch heutige Wahrheit, dass in jedem Jahr in der dem Kapital unterworfenen Welt fünfzig Millionen Menschen, darunter zehn Millionen Kinder unter 15 Jahren, an Hunger und vermeidbaren Seuchen umkommen, also in einem jeden dieser Jahre so viele wie während der fünf Jahre Zweiter Weltkrieg insgesamt an allen Fronten starben. Das ist das wirkliche Gesicht der Freien Welt, der westlichen Wertegemeinschaft, und dies muss man den Lobpreisern dieser Welt, diesen modernen Kannibalen tagtäglich vor Augen halten
Engels erläutert den Kern des 24. Kapitels: „Hier wird zuerst nachgewiesen, dass die kapitalistische, d. h. durch Kapitalisten einerseits und Lohnarbeiter andererseits bewirkte Produktionsmethode nicht nur dem Kapitalisten sein Kapital stets neu produziert, sondern dass sie auch gleichzeitig die Armut der Arbeiter immer wieder produziert: so dass dafür gesorgt ist, dass stets aufs neue auf der einen Seite Kapitalisten bestehen und auf der andern Seite die große Masse der Arbeiter.“ (Friedrich Engels, „Das Kapital“, in Karl Marx, Das Kapital, Band 1, Berlin 1947, S. 822) Das Kapitalverhältnis kann nicht durch Reformen – so wichtig sie auch sind, um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft an die Kapitalisten wo möglich zu mildern, zu verbessern –, nur durch die Revolution gebrochen werden. Die Akkumulation des Kapitals, der Prozess der ständigen Wiederherstellung des Kapitalverhältnisses, d. h. des Verhältnisses, in dem sich im Produktionsprozess Arbeiter und Kapitalist gegenüberstehen, diese ständige Reproduktion des Kapitalverhältnisses ist das wichtigste Merkmal der kapitalistischen Produktion. Aus diesem Verhältnis ergibt sich, dass es weder einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus noch ein reformerisches Hinüberwachsen (keine bloße „Transformation“ des Kapitalismus) aus dem Kapitalismus in den Sozialismus geben kann. Nötig ist der revolutionäre Bruch. Rosa Luxemburg: Das letzte Wort der Theorie der Akkumulation ist das von der Notwendigkeit der proletarischen Revolution.
Halten wir fest: Der Kern, der Ursprungsprozess des Kapitals ist also die Scheidung, die Trennung des persönlichen Produktionsfaktors, der Arbeitskraft, von den sachlichen Produktionsbedingungen, die erstere wird befreit von feudalen Fesseln, für ihren Besitzer frei verfügbar, aber sie muss, da Arbeitskräfte anders nicht zu ihren Lebensmitteln gelangen, dem Besitzet der sachlichen Produktionsfaktoren zur Arbeit gegen Lohn verkauft werden. Das bedeutet: Dieses System ist nur durch Aufhebung dieser Scheidung, durch Wieder-Vereinigung der beiden grundlegenden Produktionsbedingungen möglich, durch den Akt der sozialistischen Umwälzung.
Mit dem Studium des 24. Kapitels sollten Neuanfänger gemäß einem Rat von Engels beginnen.