Anschluß verloren: Alte Linke, Neue Linke, DIE LINKE?

Ulrich K. Preuß zum Siebzigsten

DIE LINKE ist für „die“ Linke hierzulande ungefähr so repräsentativ wie die CDU für die Christenheit. Großspurige Namensgebung vermag Defizite nicht zu kompensieren. Peinlich wird’s, wenn die Selbstbezeichnung nicht einmal als Selbstverpflichtung, sich der reicher Traditionen bewußt zu sein und sich konzeptionell um einen linken Pluralismus zu bemühen, verstanden wird.

Sucht man auf der Internetseite der Partei DIE LINKE nach linken Juristen, so findet die Suchmaschine den DDR-Rechtsphilosophen Hermann Klenner siebenmal, den DDR-Rechtstheoretiker Uwe-Jens Heuer sechsmal, Wolfgang Abendroth, den Ziehvater der westdeutschen Linken, immerhin noch viermal und den als neuer Brandenburger Justizminister ins Gerede gekommenen Volkmar Schöneburg zweimal mit – teilweise belanglosen – Erwähnungen. Fehlanzeige allerdings bei der Suche nach Ulrich K. Preuß, einem der bedeutendsten juristischen Theoretiker der Neuen Linken, der am 6. Dezember 2009 siebzig Jahre alt wird.

Diejenigen, die Wessis vorwerfen, bezüglich des Ostens ignorant zu sein (das sind nicht selten noch dieselben, die als SED-Mitglieder oder als „Schild und Schwert“ dieser Partei dafür sorgten, daß in der DDR nie eine Neue Linke entstehen konnte), haben keine Probleme damit, daß sie sich um Erkenntnisse und Irrtümer von Westlinken nicht scheren.

Die Leerstelle auf der Linkspartei-Homepage zeigt das juristische, man kann durchaus sagen: rechtsstaatliche Defizit dieser Linken, bei der brillante Juristen wie Gregor Gysi (Ost) oder Wolfgang Nešković (West) die Ausnahme sind, die jene Regel bestätigen. Sie zeigt auch, wie DDR-fixiert die Theoriebildung in dieser Partei auch 20 Jahre nach Untergang von SED und DDR noch funktioniert. Aber es geht nicht allein um diese Strömung der Linken – auch in anderen Abteilungen sieht es hinsichtlich des Traditions- und Reflexionsverlusts nicht viel besser aus.

Preuß, geboren im westpreußischen Marienburg, von wo er am Kriegsende mit der Familie nach Salzgitter (bis 1953), später nach Hannover kam, ging in Salzgitter-Watenstedt und Salzgitter-Lebenstedt, danach in Hannover zur Schule (Tellkampfschule bis zum Abitur 1959). Nach Studium in Kiel und an der Freien Universität im Westen Berlins wurde er 1968 in Gießen promoviert und 1972 an die als „rot“ verschrieenen Reformuniversität Bremen zum Professor für Öffentliches Recht berufen; dort lehrte er bis 1996. Übrigens – man stelle sich dies mal bezogen auf die DDR unter umgekehrten Vorzeichen vor – bekam der Systemoppositionelle Preuß 1968 in Gießen den Preis für die beste Doktorarbeit („Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen – untersucht am Beispiel des verfassungsrechtlichen Status kultureller Organisationen“, erschienen im etablierten Ernst-Klett-Verlag Stuttgart 1969); so durchgängig reaktionär und undemokratisch war also diese Bundesrepublik seinerzeit...

Preuß war ein Vordenker linker Jurisprudenz nach der ’68er Studentenrevolte, wie sein Aufsatz „Zur Funktion eines Zusammenschlusses gesellschaftskritischer Juristen“ in Heft 4/1971 von „Kritische Justiz“ zeigte. Zur Wendezeit 1989/1990 engagierte er sich für das Neue Forum am Verfassungsentwurfs des Runden Tisches; 1992/1993 saß er auf Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen im Landesverfassungsausschuß Thüringens. 1992 wurde der einstige Militante des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. 1996 kehrte er als Professor an der Freien Universität Berlin zurück, an der er linker Student gewesen war; bis zur Emeritierung 2005 lehrte er Öffentliches Recht und Politik an der FU. Preuß war Gastprofessor in den USA an der Princeton University, der New School University in New York und der University of Chicago Law School. Wie sich Ende des 20. Jahrhunderts eine noch nicht begriffene Dimension von Krieg und Verbrechen herausgebildet hat, untersuchte Preuß nach dem New Yorker Twin-Towers-Attentat in dem 2002 erschienen Buch „Krieg, Verbrechen, Blasphemie – Zum Wandel bewaffneter Gewalt“ (selbstverständlich – im Gegensatz zu irgendwelchen Ergüssen abgewickelter DDR-Professoren – unbeachtet geblieben in der „Sozialistischen Tageszeitung“ namens „Neues Deutschland“, während ein anderer Vordenker der Westlinken, Otto Kallscheuer, es in der keineswegs sozialistischen Wochenzeitung „Die Zeit“ in höchsten Tönen loben konnte).

In Frankfurt am Main erlebte ich, ein linker Jurastudent, der damals selbstverständlich schon standesgemäß einige seiner Schriften studiert hatte, Preuß als Verteidiger im RAF-Prozeß gegen Astrid Proll 1979/1980. Der Prozeß unter der Vorsitzenden Richterin Johanna Dircks paßte so gar nicht ins Weltbild verbohrter Linker: Gleich zu Prozeßbeginn kam Proll, die sich vom linksterroristischen Irrweg losgesagt hatte, ohne wortreich als geläuterter Wendehals aufzutreten und ohne zur Verräterin einstiger Genossen zu werden, frei. Proll fand es „unwürdig, einem Menschen in einer Zwangssituation öffentliche Bekenntnisse abzuverlangen“. Am Ende erhielt sie eine Strafe, die nur geringfügig den Mindeststrafrahmen überschritt. Das war instruktiv für einen jungen Juristen, der gleichzeitig erlebte, wie jenseits der Mauer in der DDR dem Altkommunisten (seit 1925) Götz Berger (Spanienkämpfer 1936-39 gegen Franco) die Rechtsanwaltszulassung entzogen wurde, weil er es gewagt hatte, den unter Hausarrest gestellten DDR-regimekritischen Altkommunisten Robert Havemann zu verteidigen.

In dem 1976 erschienen Wagenbach-Taschenbuch zu den RAF-Prozessen „Politische Prozesse ohne Verteidigung?“ erschienen, neben Beiträgen von Claus Croissant, Kurt Groenewold, Christian Stroebele und Otto Schily, Preuß’ „Anmerkungen zum Begriff des politischen Gefangenen“. Wer von den heute gegen die ‚Bologna’-Verschulung des Studiums protestierenden Studenten kennt Preuß’ 1975er Fischer-Taschenbuch „Bildung und Herrschaft – Beiträge zu einer politischen Theorie des Bildungswesens“ oder sein edition-suhrkamp-Taschenbuch von 1969 „Das politische Mandat der Studentenschaft“? Wer hat sich beim Siemens-Korruptionsskandal erinnert, was Preuß 1979 auf Seite 78 seiner Studie „Die Internalisierung des Subjekts – Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts“ geschrieben hat? Wünschenswert wäre, griffe in heutigen Auseinandersetzungen um Atomkraft, Klimaschutz, NPD, Ministerverantwortung oder Friedenssehnsucht der eine oder andere zum Preuß-Buch von 1984 „Politische Verantwortung und Bürgerloyalität – Von den Grenzen des Verfassung und des Gehorsams in der Demokratie“.

Derzeit lehrt Preuß an der Hertie School of Governance. Es ist denkwürdig, daß einer der theoretisch führenden Köpfe der Revolte von 1968 – und des „roten Jahrezehnts“ (Gerd Koenen) danach – nun an einer 2003 gegründeten privaten Hochschule (die Studiengebühren betragen zwar 10 000 Euro pro Jahr, die Mehrheit der Studenten erhält aber Stipendien; Unterrichtssprache ist Englisch) die Führungskräfte von morgen im einstigen Staatsratsgebäude der DDR, da wo die Elite von gestern residierte, fürs Regieren ausbildet. (Angemerkt sei, daß zu seinen Kollegen dort der ebenfalls der ’68er Studentenbewegung und der Frankfurter Schule entstammende Claus Offe gehört, der auf dem Deutschen Soziologentag 1968 das aufsehenerregende Referat über Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus hielt und heute, trotz seiner andauernden Theorieproduktion, ebenfalls im Linkspartei-Milieu weitgehend unbekannt ist).

Da wird mancher ‚aufrechte Linke’ reflexartig wie ein Pawlowscher Hund gleich ‚Verrat’ wittern. Er könnte sich aber auch fragen, ob er vielleicht den Anschluß verloren hat. Wer legt eigentlich fest, daß Linke stets die Avantgarde bilden? Vielleicht findet man ‚Ewiggestrige’, so etikettierte man einst verstockte Rechte, heute auf der Linken? Keiner wirft Picasso vor sich zu verleugnen, weil er die blaue Periode zugunsten der rosa aufgegeben hat. Waren diejenigen Verräter, die sich vis-à-vis der Moskauer Prozesse in den dreißiger Jahren von linken Genossen abwandten, oder diejenigen, die blind ihnen die Treue hielten – und die Sache verrieten?

Schon länger gab es einen opportunistischen Umgang mit dem Recht. Das Motto „Legal – illegal – scheißegal“ stammt schließlich nicht vom Innenminister Schäuble oder Ministerpräsident Koch, sondern kommt von links. Darin ist sich das linke mit dem rechten juste milieu einig: das Rechtssystem als Selbstbedienungsladen mißzuverstehen, aus dem man sich nur das einem jeweils Passende meint rauspicken zu können, obwohl Demokratie die Allgemeinheit und Gleichheit des Gesetzes verlangt.

So entstehen bizarre Widersprüche sowie unerwartete Koalitionen. Während die Linke jahrzehntelang den weitreichenden Einsatz des Strafrechtstatbestands „kriminelle Vereinigung“ als Verpolizeilichung des Strafrechts kritisierte – Preuß nannte dies nach dem Proll-Strafverfahren in einem Artikel für die Zeitschrift „Kritische Justiz“ (Heft 2/1981) die „Vorverlagerung des Strafrechts in den Bereich der geistigen Auseinandersetzung“, bejubeln heutzutage Linke die Einführung von Meinungsäußerungsdelikten (ein nicht geringer Anteil rechter Kriminalität besteht daraus) oder Entscheidungen wie das Urteil des Bundesgerichtshofs dieser Tage, das den Begriff „kriminelle Vereinigung“ gegenüber der Dresdner Vorinstanz ausweitet. Es geht ja gerade gegen Neonazis, denken kurzsichtige Linke und ignorieren, welche Waffen sie dem Staat schmieden helfen. Als „Die Grünen“ in den Bundestag eingezogen waren, gehörte zu ihren ersten parlamentarischen Initiativen der Antrag auf Streichung der Paragraphen 129, 129a Strafgesetzbuch (kriminelle, terroristische Vereinigung), da sie nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügen (Bundestagsdrucksache 10/2396).

Das Landgericht Dresden hatte den Kautschukbegriff zurückhaltend interpretiert und die Neonaziorganisation „Sturm 34“ nicht als „kriminelle Vereinigung“ verurteilt, sondern als „Bande“ eingestuft – wobei selbstverständlich deren richtige Straftaten abgeurteilt wurden (drei Angeklagte erhielten wegen schwerer Körperverletzung Strafen zwischen zwei und dreieinhalb Jahren). Das Zusammentreffen an sich wurde noch nicht inkriminiert, denn es habe keinen anerkannten Anführer, keine Pflicht zur Teilnahme an den Taten, keine festen Versammlungsterminen, Abstimmungen oder Uniformen gegeben. Aber wehe, wenn solche Instrumente gegen Linke eingesetzt werden!

Ähnlich schizophren bzw. inkonsequent ist der Umgang mit der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Man echauffiert sich, wenn dem grünen Minister Joschka Fischer seine gewalttätige Vergangenheit in der linken Frankfurter „Putztruppe“ oder wenn einer Handvoll Linksparteiabgeordneten zum Auftakt der rot-roten Koalition in Brandenburg ihre Stasispitzelei-Vergangenheit vorgehalten wird, bedient sich aber gern unter anderem Vorzeichen derselben Keule, wenn es gegen den politischen Gegner geht. Man entrüstet sich nach Jahrzehnten, egal was einer inzwischen geleistet hat, wenn irgendeiner als nationalrevolutionärer rechter Student Mitte der siebziger Jahre im NHB die deutsche Teilung überwinden wollte; aber man reagiert wehleidig, wenn Rechte die links-studentische Vergangenheit im MSB Spartakus der Siebziger von einem ausgraben, der damals das Abknallen seiner Landsleute wie Hasen, beim Fluchtversuch aus der DDR, rechtfertigte (und der selbstverständlich in den Semesterferien lieber an die Strände von Franco-Spanien trampte als eine Aufenthaltsgenehmigung für einen realsozialistischen Ferienplatz auf der DDR-Insel Rügen zu beantragen).

Wer linkem Kitsch à la „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ huldigt (als ob Klassenkampf und internationale Beziehungen ein Wohngemeinschafts-Kuschel-Event wären), der brabbelt auch gedankenlos den modischen Spruch eingebildeter alternativer Verfassungsschützer „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“. Die politischen und juristischem Implikationen solcher Gedankenpolizei (selbstverständlich waren und sind Faschismus oder Marxismus zuerst einmal Meinungen – über die „idéologie fasciste“ immer noch lesenswert ist Zeev Sternhells Studie „Ni droite, ni gauche“; später wurden sie unter Hitler und Stalin auch Verbrechen), die Selbstentwaffnung, all das bleibt undurchdacht. Vielleicht auch unbekannt: Wer weiß noch, daß Ulbricht Januar 1931 im Saalbau Friedrichshain in die Redeschlacht mit Goebbels zog? Wer weiß, daß diese Denkfigur zuerst im französischen Parlament der Zwischenkriegszeit Linken von rechten Antidemokraten vorgehalten wurde (Sozialismus sei keine Meinung, sondern ein Verbrechen)!?

Als Einstieg in Preuß’ Denken sei empfohlen „1968 von heute aus gesehen – Kritische Bilanz der APO und ihre Wirkungsgeschichte: Erfolge und Sackgassen“. Der Vortrag über die außerparlamentarische Opposition auf der Rudi-Dutschke-Konferenz am 21./22. Januar 2000 in Berlin (anläßlich des 20. Todestages des Studentenführers am 24. Dezember 1999) ist im Internet unter http://www.isioma.net/sds00200.html ebenso zugänglich wie ein Teil von Preuß’ einst vielgelesene Arbeit über „Legalität und Pluralismus“ (Untertitel: „Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland“, edition suhrkamp 1973), unter http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Preuss_Legalitat.pdf herunterzuladen. Weitere seiner Veröffentlichungen online: http://www.hertie-school.org/content.php?nav_id=1490