Andrea Hünnigers Kindheit im Plattenbau Weimar-West
Nach den Zonenkindern schreiben nun die Wendekids. Die 1984 Geborenen wuchs im Plattenbau Weimar-West auf. Ihr kurz vor dem Auftauchen des ebenfalls in Thüringen beheimateten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ erschienenes Buch beantwortet die Frage, wie Kindheit und Jugend in jenen Jahren aussahen, als ringsum sich alles änderte, auch wenn man sich nicht von der Stelle bewegte. Sie habe gewissermaßen Migrationshintergrund, bekennt Hünniger im Gespräch, das Land ist weg, aber die Prägungen, mit aller Fremdartigkeit, sind noch da.
Laut Untertitel: ein „Sachbuch“. Etwa der Art wie Ingo Schulzes „Simple Storys“ (Untertitel: Roman) eines über die Nachwendezeit ist. Was Hünniger über Siedlung, Mütter, Freiheit, Drogen, Funktionäre, Westdeutsche, Glaube, Psychotherapeuten und Ausland schreibt, ist brillant recherchiert. Natürlich erinnert sie sich nicht an das bürokratische Festtagsdatum 3. Oktober 1990. Jahrelang glaubte sie, die Eröffnung von Eurodisney in Paris, die man in Weimar auf dem Bildschirm verfolgte, wäre der Mauerfall gewesen. Ein Frankreichurlaub wird zum Horrortrip als an der Péage ihr Vater sich einem Grenzbeamten gegenüber wähnt. Wie durch die Brille kindlicher Naivität wird auf merkwürdige und absonderliche Vorgänge jener Jahre geschaut, ohne ideologischen Rechtfertigungsschweiß.
Eine Zeit, in der Stasiakten „wie Wertpapiere gehandelt“ werden, in der mancher Frankfurter Schule und Zeugen Jehovas für Sekten hält, in der aus der SED-Kreisleitung zu Coca-Cola gewechselt wird und die Geschäftsidee eines Pilzhandels zum Strafverfahren wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz führt, in dem ein Linksanwalt aus dem Westen die noch verunsicherte Neufünflandjustiz vorführt. In solch irren Zeiten landet die Siebenjährige in der Kinderpsychiatrie: dort soll sie von Albträumen geheilt werden.
Manchmal verläßt sie die Beobachterperspektive für zornige Kommentare der Endzwanzigerin: über ahnungslose Westanpassung als „Verkauf des Selbst“, und zwar „ganz ohne Drohungen" („so wie der Indianer das Feuerwasser nimmt“), oder über die „Rollplatzaffäre", die gescheiterte Stelen-Installation im Kulturstadtjahr 1999 („Zehn Jahre hat man alles geschehen lassen... aber als es um den Parkplatz ging, gab es plötzlich 'ne ganz große Bürgerbewegung").
Latent der Konflikt mit den Eltern, die als Agraringenieure am Ende der DDR es in einem Weimarer Institut gerade zu etwas gebracht hatten. Eine ungenießbare Mixtur aus Anpassung und Schweigen der Eltern (aber auch der Lehrer – da muß erst einer von der Friedrich-Naumann-Stiftung kommen, „um uns über die DDR aufzuklären") läßt das Kind ihnen gegenüber zwischen Pranger und Mitleid schwanken. So stellt sich auch Hünniger die Frage, „ob das Schweigen über die DDR vergleichbar sei mit dem Schweigen über die Nazivergangenheit". In dieser orientierungslosen Zeit, in der die Eltern erst mal sich selbst beruflich, politisch und privat neu sortieren müssen, bleiben die Kinder sich selbst überlassen. Starke Identifikationsangebote sind rar. Die einen werden Kiffer, die anderen Neonazis. „Meine Theorie ist, daß der Neonazi nur eine Mode Richtungen der Neunziger im Osten ist."
Zur Radiowerbung für’s Karibik-Paradies sagt eine Gurkenschälende: das Paradies ist hier! Da weiß der Leser bereits, daß das Paradies nicht nur Bahnhalt und Park in Jena, sondern auch eine Kleingartensiedlung in Weimar ist, und sinniert über den Paradiesbedarf dieser Region.
Zuerst in: PALMBAUM - Literarisches Journal aus Thüringen; Nr. 1/2012