Die Geschichte hinter dem Song von Yaak Pabst
- Serie beim marx21: Die Geschichte hinter dem Song (mit Videos)
Gerade
einmal 12,9 Kilometer trennen Spanien an der Meerenge von Gibraltar von
Nordafrika. Bei guten Wetterbedingungen ist die jeweils andere Küste zu
sehen - trotzdem liegen Welten dazwischen. Über jene, die für ein
besseres Leben diese kurze Strecke überwinden müssen, schrieb einer der
kreativsten Solokünstler der letzten Jahrzehnte ein Lied. Er schuf
damit einen charismatischen Soundtrack für eine weltweite
globalisierungskritische Bewegung.
Wenn ein Boot untergeht oder gerammt wird, wenn die Leichen an die
Strände gespült werden, sind die Unsichtbaren plötzlich sichtbar. Wie
jetzt. Sie nennen es die "Tragödie von Tripolis": "Über 300 Flüchtlinge
ertrunken". Der Aufbruch in ein vermeintlich besseres Leben endet
tödlich. Doch trotz der Toten werden weltweit die Mauern immer höher,
die solche Dramen verursachen.
Seit 1988 sind an den EU-Außengrenzen nach Angaben des Europäischen
Flüchtlingsrats 13.444 Menschen ums Leben gekommen. Dabei werden nur
die registrierten Toten auflisten. Wer das rettende Ufer erreicht, lebt
ein Leben ohne Pass, ohne Aufenthaltsgenehmigung und meist mit dem
Ausweisungsbefehl in der Tasche. In Frankreich heißen diese Menschen
"Sans Papiers", zu Deutsch: ohne Papiere. In Deutschland sprechen die
Behörden von »Illegalen«- als seien sie Verbrecher. In Spanien heißen
sie »Clandestinos«, weil sie sich im Verborgenen durchschlagen, eben
klandestin, heimlich.
Als der Musiker Manu Chao 1998 ein Lied über sie schreibt, ahnt er noch
nicht, dass es in den folgenden Jahren bei Demonstrationen und
Kundgebungen zum Klassiker des »Volks von Seattle« wird. Es ist eine
freundliche Ballade, wehmütig aber nicht rebellisch, nicht verzweifelt.
Traurig ja, aber von einer Traurigkeit ohne Klagen: Was wie eine
Grenzsituation erscheint, wie eine ständige Flucht, eine andauernde
Unsicherheit, eine bedenkliche Lage, ist stattdessen unbestrittene
harte Wirklichkeit für Millionen von Menschen. Das Lied "Clandestino"
dagegen ist wie eine hübsche Ansichtskarte, ein freundlicher Rhythmus,
der eine kleine Geschichte begleitet von einem der da ist, aber nicht
da sein darf, den man sieht, aber nicht sehen sollte, der existiert,
aber nicht auf dem Papier, nicht in den Dokumenten der Behörden, nicht
in den Genehmigungen.
"Pa' una ciudad del norte / Yo me fui a trabajar / Mi vida la dejé /
Entre Ceuta y Gibraltar / Soy una raya en el mar / Fantasma en la
ciudad / Mi vida va prohibida / Dice la autoridad"
(In eine Stadt im Norden / Bin ich gegangen um zu arbeiten / Mein Leben
ist zurückgeblieben / Zwischen Ceuta und Gibraltar / Ich bin ein Strich
im Meer / Geist in der Stadt / Mein Leben läuft verboten / Sagen die
Behörden).
Der "Clandestino" ist einer der unter hohem Risiko die Grenze zwischen
zwei Staaten überwindet, jedoch Mühe hat, die Grenzen der Bürokratie,
den Stumpfsinn der Regeln des Kapitalismus zu überwinden und alleine
mit seinem Schicksal ist. Die Strophe geht weiter:
"Solo voy con mi pena / Sola va mi condena / Correr es mi destino /
Para burlar la ley / Perdido en el corazón / De la grande Babylon / Me
dicen el clandestino / Por no llevar papel"
(Allein gehe ich mit meiner Strafe / Allein geht meine Verurteilung /
Zu laufen ist mein Schicksal / Um das Gesetz zu täuschen / Verloren im
Herzen / Des großen Babylon / Man nennt mich den Gesetzeswidrigen /
Dafür dass ich kein Papier habe).
Mit seinem Lied fängt Manu Chao die Tristesse eines solchen Lebens ein.
Trotzdem vermittelt der Song Stolz und Würde - darüber die Reise nach
»Babylon« geschafft zu haben, darüber am Leben geblieben zu sein, den
Behörden und der Polizei Widerstand zu leisten.
"Clandestino" ist der namensgebende Eröffnungssong der ersten Platte
von Manu Chao. Sie erscheint Mitte April 1998. "Ich schrieb diesen Song
über die Grenze zwischen Europa und denjenigen, die aus ärmeren Ländern
kommen. Schau dich um - vielleicht 30 Prozent der Menschen in den
Straßen haben keine Papiere. Es ist über zehn Jahre her, dass ich
dieses Lied geschrieben habe und die Dinge haben sich verschlechtert.
Die Berliner Mauer fiel und wir alle jubelten, aber jetzt werden neue
Mauern gebaut: in Palästina, den USA und in der EU." Manu Chao will,
dass sich die Dinge ändern. Nicht nur für seine Musik gilt: So
vielschichtig der Sound, so eingängig die Melodien. Dieses Prinzip
findet seine Fortsetzung auch auf inhaltlicher Ebene: So komplex die
Zusammenhänge, so klar die Botschaften. Eine Kunst, die Chao von seinen
beiden Vorbildern, The Clash und Bob Marley, gelernt hat.
"Clandestino" ist ein Album, das sich langsam und misstrauisch bewegt,
das nicht sofort einschlägt, an das die Plattenfirma Virgin nicht
besonders glaubt. Zu beginn des Sommers 2000, zwei Jahre nach ihrem
Erscheinen - nach dem die Platte Preise eingeheimst hat, nachdem
Interviews veröffentlicht worden sind und sie bei der Kritik einhellige
Begeisterung ausgelöst hat - wurden von "Clandestino" weltweit 2,5
Millionen Kopien verkauft, beinahe eine Million in Frankreich, knapp
300.000 in Italien, Hunderttausende in Südamerika, in Deutschland
erreichte sie Gold-Statuts.
Manu Chao vereint in seiner Musik vieles. Die Attitüde des Punk, den
Charme des Reggae und Ska, der in einen französischen Chanson übergehen
könnte und dabei immer kraftvoll und schnell bleibt. Er ist ein
militanter Musikbegeisterter, der von einer Platte mehr erwartet als
eine Handvoll Songs: Mut, Kampfgeist, Prinzipientreue und Widerstand
gegen die Konditionierung durch die Auslese der Musikindustrie. Manu
Chao wuchs in Paris auf und lebt heute in Barcelona. Von 1987 bis 1995
war er Mitglied und kreativer Kopf der Band Mano Negra. Nach deren
Auflösung startete er seine Solokarriere. Er ist einer der wenigen
Musiker, die Stadien füllen und trotzdem politisch geblieben sind.
"Jeder sollte ein Aktivist sein", meint er: "Die Welt wird immer
schlechter und wir alle müssen uns engagieren, die Dinge besser zu
machen." Das politische Engagement ist ein integraler Bestanteil seines
Lebens als Musiker. Beim G8-Gipfel in Genua 2001 spielt er vor
Zehntausenden. Die Hälfte der Einnahmen kam der "Bar Clandestino"
zugute, die während der Proteste Wasser und Sandwichs an die Aktivisten
verteilte. In Chile spielte er im Hochsicherheitsgefängnis vor
politischen Gefangenen. Live-Auftritte in Stadtteilradios und vor der
Zentrale von HIJOS - Hijos por la identidad y la justicia contra el
olvido y el silencio (eine Organisation, die mit Demonstrationen und
spektakulären Aktionen an die 30.000 Verschleppten während der
Militärdiktatur erinnert) begeisterten seine Fans in Argentinien. Und
in Chiapas traf er sich mit dem Guerillaaktivisten Marcos und spielte
im Flüchtlingslager von Polhó. Dort fanden die Vertriebenen des
Massakers von Acteal eine karge Zuflucht - das mexikanische Militär
hatte damals unter der indigenen Bevölkerung von Chiapas Hunderte
ermordet. Mittlerweile verweigert der mexikanische Staat Manu Chao die
Einreise.
Außerdem ist der Sänger Mitglied des globalisierungskritischen
Netzwerkes Attac. Er lehnt es aber ab, als Repräsentant dieser Bewegung
bezeichnet zu werden, vielmehr sieht er sich als Teil von ihr. "Der
Austausch zwischen Menschen weltweit ist gut. Ich lehne die Diktatur
der ökonomischen Globalisierung ab, nicht Globalisierung an sich. Diese
Entwicklung, die sie uns aufzwingen, ist kollektiver Selbstmord. Aber
zum Glück gibt es immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, die das in
Frage stellen. Ich wurde oft gefragt, warum ich in Genua war. Genau
deshalb. Hasta siempre."
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