Ein radikaler Bruch mit der Autogesellschaft ist nötig, meint der Verkehrsexperte Winfried Wolf. Er erklärt, wie umweltfreundliche Mobilität funktionieren und zugleich neue Arbeitsplätze schaffen kann.
Vor zwanzig Jahren drehte der damals noch
unbekannte Michael Moore den Film »Roger & Me«. Er dokumentierte
dort das zerstörerische Agieren des Autokonzerns General Motors (GM),
während er dessen Boss Roger Smith mit wackeliger Handkamera verfolgte.
Damals hätte es niemand auf der Welt für möglich gehalten, dass GM zwei
Jahrzehnte später in Konkurs gehen würde.
Im Juni 2009 kommentierte der inzwischen Oscar prämierte Moore die
Pleite des Automobilherstellers mit den Worten: »Die einzige
Möglichkeit, GM zu retten, besteht darin, GM zu zerstören.« Er führte
weiter aus: »Wir befinden uns in einer Art Kriegszustand: dem Krieg
gegen das Ökosystem, der von unseren Industriekonzernen geführt wird.
Dieser Krieg findet an zwei Fronten statt. Die eine hat ihr
Hauptquartier in Detroit. Die Produkte, die dort von GM, Ford und
Chrysler hergestellt werden, gehören zu dem höchst wirksamen
Kriegsgerät, dem wir die Erderwärmung und das Abschmelzen der Pole zu
verdanken haben. (...) Autos weiterhin zu produzieren, muss irgendwann
zum Untergang unserer Art und zur Zerstörung der Erde führen. An der
anderen Front kämpfen die Ölkonzerne gegen Sie und mich. Sie schröpfen
uns, wo sie nur können, und sie gehen unverantwortlich mit den
begrenzten Ressourcen um. Rücksichtslos beuten sie die Vorkommen aus und
lassen die Öffentlichkeit darüber im Unklaren, dass die Vorräte an
nutzbarem Erdöl in einigen Jahrzehnten erschöpft sein werden. Dann kann
man sich darauf gefasst machen, dass die Leute sich gegenseitig für ein
paar Liter Benzin umbringen. Zusammengefasst: Nach der Übernahme von GM
sollte Präsident Obama die Fertigungsanlagen sofort umstellen auf die
Herstellung von umweltfreundlichen Produkten.«
Leider ist das Gegenteil passiert. Nicht nur die Obama-Administration,
sondern alle nationalen Regierungen bedienen - u.a. durch Abwrackprämien
und die direkte Finanzierung der Autokonzerne aus Steuermitteln - die
Interessen der Autoindustrie. Während relevante Umweltauflagen abgebaut
werden (so das Ziel von maximal 120 Gramm CO2-Ausstoß je Kilometer)
findet ein »green washing« der Branche statt, indem Agrosprit und
Elektro-Pkw als innere Reformen gepriesen werden. Jedoch erhöhen
Kraftstoffe aus agrarischen Produkten die Preise für Lebensmittel und
verschärfen damit die Hungerkrise. Zudem tragen sie, beispielsweise
durch Regenwaldzerstörung, zur stark erhöhten CO2-Bilanz bei. Auch
Elektro-Pkw haben grundsätzlich keine bessere CO2-Bilanz als
konventionelle Kraftfahrzeuge.
Mit dieser Politik wird die Klimakrise verstärkt und der Zeitpunkt einer
gefährlichen Ölknappheit, mit explosionsartig ansteigenden Ölpreisen,
vorgezogen. Eine alternative Mobilitäts- und Transportpolitik muss -
zusammen mit einer alternativen Energiepolitik - im Zentrum eines
Konjunkturprogramms stehen, das auch den Anforderungen einer
verantwortlichen Umwelt- und Klimapolitik gerecht wird. Ein solches
Programm könnte die folgenden »sieben Tugenden« beinhalten:
1. Strukturpolitik der Dezentralität. Notwendig sind Investitionen und
Maßnahmen, die Dezentralität und Nähe fördern. Auf diese Weise können in
großem Maßstab Verkehre vermieden (unnötig gemacht) und Verkehrswege
verkürzt werden. 50 Prozent der im Jahr motorisiert zurückgelegten
Kilometer sind Freizeitverkehr (Fahrten ins Grüne, in die »Schwimmoper«,
in die Disco auf dem Land usw.). Sie entstehen vor allem, weil die
Städte nicht bzw. zum Teil nicht mehr für die Menschen da sind. Oder mit
Bert Brecht: »Die Schwärmerei für die Natur / Kommt von der
Unbewohnbarkeit der Städte«.
2. Klassische Verkehrsträger neu entdecken. Die dann vielfach kürzeren
Wege des Alltagsverkehrs können zu einem erheblichen Teil au die
klassischen Verkehrsträger, auf Füße und Pedale, verlagert werden.
3. Öffis ausbauen. Der größte Teil des verbleibenden Verkehrs kann in
Städten und größeren Siedlungen mit öffentlichen Verkehrsträgern -
Straßenbahnen, S-Bahnen und Bussen (optimal wären Trolley- oder
Oberleitungs-Busse) - realisiert werden.
4. Flächenbahn statt Höchstgeschwindigkeitswahn. Erforderlich ist eine
Bahn in öffentlichem - demokratisch kontrolliertem - Eigentum, mit einem
integralen Taktverkehr: Alle halbe Stunde fahren Bahnen in allen
Städten (ab beispielsweise 25.000 Einwohner) in alle Richtungen. Eine
solche Bahn benötigt bereits aus strukturellen - und erst recht aus
energiepolitischen - Gründen ein Tempolimit von rund 220 km/h. Tempo 350
auf der Strecke Frankfurt am Main-Köln hatte die logische Folge, dass
Bonn und Koblenz vom Fernverkehr weitgehend abgekoppelt wurden. Doch
selbst bei einem Tempolimit wäre München-Berlin in einer Fahrtzeit von
knapp viereinhalb Stunden (anstelle der aktuellen gut sechs Stunden) zu
bewältigen.
5. Flugverkehr drastisch reduzieren. Mit einer Flächenbahn auf
europäischer Ebene können 100 Prozent der Binnenflugverkehre und 50
Prozent des innereuropäischen Verkehrs auf die Schiene verlagert werden.
Wenn ergänzend die externen Kosten des Flugverkehrs (z.B. Kosten
resultierend aus Lärmschäden, Umweltzerschneidung, Verletzten und Toten,
Klimaschäden), die in den Transportpreisen nicht enthalten sind, in die
Ticketpreise eingerechnet werden, reduziert sich der Flugverkehr auf 15
bis 20 Prozent des aktuellen Niveaus.
6. Güterverkehre radikal reduzieren - regionale Ökonomien stärken. 50
Prozent des globalen Verkehrs sind »Intra-Firm-Trade« (Transporte
innerhalb ein- und desselben Konzerns). GM z.B. kann natürlich ein Auto
an einem Standort (Detroit oder Rüsselsheim oder Seoul etc.) komplett
herstellen. Da die Transportkosten jedoch gegen Null tendieren, lohnt
sich im Extremfall eine Arbeitsteilung, wo Motorblöcke, Reifen, Chassis
und Armaturenbretter in jeweils einem anderen Kontinent hergestellt und
dann zusammengeführt werden. Insgesamt hat sich die
»Transportintensität« (die in einer Ware von ein- und derselben Qualität
steckenden Tonnenkilometer) seit 1970 verdoppelt. »Südtiroler Schinken«
besteht zu 90 Prozent aus niederländischen Schweinehälften, die per Lkw
nach Südtirol gekarrt wurden. Alle Walnüsse im Walnuss-Eis von
Mövenpick stammen aus China. Wenn die externen Kosten der Transporte in
die Transportpreise eingerechnet werden, verdreifachen sich die
Transportpreise. Zusammen mit ordnungspolitischen Maßnahmen
(Nachtfahrverbote und Tonnage-Begrenzungen für Lkw, generelles Verbot
von Luftfracht mit Ausnahme bei spezifischen Produkten wie Medikamenten
und Post) lassen sich die weltweiten Transporte auf weniger als 20
Prozent reduzieren. Eine solche Politik ist gleichbedeutend mit der
Stärkung von regionalen wirtschaftlichen Strukturen, indirekt auch mit
dem Erhalt von Jobs und der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze.
7. Viele Exempel statuieren und Mosaike bilden. Die bisher ausgeführten
sechs Elemente einer Politik der Verkehrswende gibt es bereits - wenn
auch oft isoliert. In Münster (Westfalen) und Groningen (Niederlande)
werden mehr als 50 Prozent der Wege zu Fuß und per Rad zurückgelegt.
Dort wo die Natur dem Autoverkehr im Wege stand, gibt es noch die
»Struktur der kurzen Wege« - so in Cinque Terre an der Italienischen
Riviera und in Venedig. In der Lagunenstadt kann es zwar keine Pkw
geben, doch es gibt auch keine größere Zahl von Motorbooten in
individuellem Eigentum. Die Stadt »funktioniert« zu Fuß und mit den
»vaporetti« - den Wasser-Bussen. Die Struktur des
»Bruttoinlandsprodukts« von Venedig unterscheidet sich dabei kaum von
derjenigen Heidelbergs - beides sind Universitätsstädte mit viel
Tourismus. Doch während Venedig vom Fußgänger- und öffentlichen Verkehr
mit Wasserbussen geprägt ist, wird Heidelberg vom Autoverkehr dominiert.
Ein weiteres Beispiel: Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben
einen Halbstunden-Integralen-Taktverkehr - wobei dieser Luxus die
Steuerzahlenden weniger kostet als das miserable Angebot der Deutschen
Bahn AG. Bereits zwei Dutzend Orte in den Alpen werben - erfolgreich! -
damit, dass sie »autofrei« sind oder dass in diesen privater Autoverkehr
kaum stattfindet und nicht erwünscht ist. Es gibt bereits ein Dutzend
autofreie Quartiere in europäischen Großstädten.
Es existieren zwei Standardargumente gegen eine solche Verkehrs-Vision:
Jobs und Mehrheiten. Diese Repliken sind jedoch nicht überzeugend. Zum
Arbeitsplatz-Argument: Weltweit gibt es in der Autobranche acht
Millionen Arbeitsplätze. Doch weltweit sind weit mehr Menschen bei der
Eisenbahn und in der Bahntechnik als in der Autoindustrie beschäftigt.
Die Ausweitung der Automotorisierung muss diese umweltpolitisch
akzeptablen Arbeitsplätze zerstören. Im übrigen werden die Jobs in der
Autoindustrie durch die Autoindustrie selbst zerstört. In Deutschland
sind seit einem Vierteljahrhundert immer rund 800.000 in der
Autoindustrie beschäftigt (derzeit 750.000). Im gleichen Zeitraum hat
sich der Output (die Zahl der erstellen Pkw) verdreifacht. Eine
Autoindustrie fast ohne Arbeitsplätze - eine roboterisierte
Autofertigung - ist durchaus vorstellbar. Das oben skizzierte
7-Punkte-Programm einer Verkehrswende würde hingegen allein in
Deutschland zwei bis drei Millionen neue und gesellschaftlich sinnvolle
Arbeitsplätze schaffen.
Eine alternative Verkehrspolitik ist mehrheitsfähig: Das zeigen bereits
heute Teilaspekte dieser Alternative. Mehr als 80 Prozent der
bundesdeutschen Bevölkerung wollen eine Bahn in öffentlichem Eigentum.
Die Forderung nach einem allgemeinen Tempolimit wird auch im Land der
nach oben offenen Raserskala von einer klaren Mehrheit unterstützt. In
den Stadtquartieren gibt es jeweils Mehrheiten für Tempo 30. Bei
mehreren repräsentativen Umfragen mit dem Tenor »Wie entscheiden Sie im
Fall eines Zielkonflikts: Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder Ausbau
von Straßen?« wählt die Mehrheit die erste Option. Eine überzeugend
ausgearbeitete Politik der Verkehrswende, die auch die sozialen und die
Klimaaspekte benennt, ist also durchaus mehrheitsfähig. Dafür gibt es
auch praktische Argumente: In Berlin hat die Mehrheit der Haushalte
keinen Pkw (in Hamburg liegt dieser Anteil bei 42 Prozent, in New York
immer noch bei rund 25 Prozent). In den Industriestaaten gilt die
Formel: je ärmer die Region, desto höher die Pkw-Dichte. Oder auch: Je
mieser der öffentliche Verkehr, desto mehr Autoverkehr gibt es.
Den realen - zukünftigen - Sozialismus hat man als Linker meist »nur« im
Herzen oder man träumt von demselben. Die Verkehrswende lässt sich
jedoch zusammenfügen - aus real existierenden Mosaik-Bausteinen.
Zum Autor:
Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik
der globalen Ökonomie und Sprecher der Bahnfachleutegruppe »Bürgerbahn
statt Börsenbahn«. Er ist zudem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat
von Attac und Autor zahlreicher Bücher zum Thema.
Weiterlesen:
Unter dem Titel »Weltwirtschaftskrise & Krise der weltweiten
Autoindustrie« umreißt das zweite Sonderheft von Lunapark21 Entwicklung
und Stand eines der wichtigsten kapitalistischen Industriezweige - von
der historischen Betrachtung der "Autokrisen" bis zum aktuellen
Machtkampf um Opel. Bestellungen zum Preis von 4,50 € pro Heft plus
Porto bitte per Mail an
extra@lp21.de
Winfried Wolf: Verkehr.Umwelt.Klima - Die Globalisierung des Tempowahns (2. Auflage, Promedia-Verlag 2009).
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