Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“
Wagners Tetralogie ist ein Sonderfall des Musiktheaters. Allein die Ausmaße des Werks markieren den Anspruch auf Außerordentlichkeit. Drei Abende, dazu ein Vorspiel, das allein die Spieldauer manch anderer Oper übertrifft – die etwa fünfzehn Stunden Musik und Handlung verlangen vom Publikum, sich ganz auf die Welt dieses Werks einzulassen. Sich darauf einzulassen heißt, seine Bedeutung herauszufinden oder es doch wenigstens in bestem Glauben mit Bedeutung zu versehen; und das betrifft auch die Darstellung des Kapitalismus, die sich im Werk findet
Wagner hatte besonders im materiellen Elend seines ersten Pariser Aufenthalts 1840/41 den Opernbetrieb seiner Zeit als profitorientierte Vergnügungsanstalt hassen gelernt und die wohldotierte Position eines königlich-sächsischen Kapellmeisters an der Dresdener Hofoper nach seiner Beteiligung an der 1848er Revolution verloren. In den unmittelbaren Folgejahren entwarf er als Exilant in der Schweiz die Konzeption eines Musikdramas, das im Anschluss an die attische Tragödie eine Veranstaltung des Volkes werden sollte. Stellte die herkömmliche Oper die Virtuosität der Einzelkünste Komposition, Gesang, Tanz und Bühnenbild aus, so sollten diese Bestandteile im Musikdrama zu einer Gefühlseinheit verschmolzen werden. War die herkömmliche Oper das Vergnügen der Reichen, so sollte das Musikdrama die Kunst des Volkes sein. Entsprechend wählte Wagner für seine Tetralogie (wie auch für fast alle anderen seiner Werke) einen deutschen oder zumindest für deutsch erklärten Stoff.
Man muss heute nicht mehr betonen, dass Wagners Kompositionen wie „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“ oder „Parsifal“ auf Stoffen eines europäischen Mittelalters beruhen, das von Nationen noch kaum etwas wußte; dass das Nibelungenlied und gar skandinavische Quellen wie die Edda und die Wälsungensage, der Wagner wichtige Motive für seine Konzeption der Tetralogie entnahm, nicht – wie damals als selbstverständlich gesetzt – als deutsch-germanisch zur nationalen Geschichte gehörten.
Trotz völkischer Grundlage konnte „Der Ring des Nibelungen“ offensichtlich keine Volksoper werden. Wagner wollte sie aus dem durchkapitalisierten Opernbetrieb heraushalten und ließ sich zuletzt vom bayrischen König Ludwig II. für die Uraufführung des Gesamtwerks 1876 das Festspielhaus Bayreuth teilfinanzieren. Einen anderen Teil übernahmen die zu diesem Zweck gegründeten (und bis heute fortbestehenden) Richard-Wagner-Vereine, die Geld sammeln und dadurch freien Eintritt garantieren sollten. Am Ende mussten die Besucher doch zahlen. Doch wäre es ohnedies sogar der musikinteressiertesten Dienstmagd unmöglich gewesen, eine gute Woche Urlaub zu nehmen und eine Bahnfahrt nach sowie ein Hotel in Bayreuth zu bezahlen. Die Kunstform Oper war für die ganze Bevölkerung allenfalls in Großstädten zugänglich, allenfalls für einen Abend und allenfalls für kürzere Werke, die nicht wegen ihrer Spieldauer wie die drei Hauptteile des „Rings“ bereits am späten Nachmittag beginnen mussten.
Das von Wagner gewählte Format schloss also entgegen seiner Absicht den größten Teil der Bevölkerung zunächst aus (und nur sehr widerstrebend gestattete er dem Leipziger Opernintendanten Angelo Neumann 1878 die Übernahme der Musikdramen in den dortigen Repertoirebetrieb, und auch nur, weil die ersten Bayreuther Festspiele mit großem Defizit abgeschlossen hatten und Wagner – wieder einmal – Geld brauchte). Wenn auch die Bevölkerung fehlt, steht doch das Volk vor der Tür. Die vorgeblich nationale Quelle des Stoffs, die Monumentalität der Ausführung, das in vielen Passagen auskomponierte Pathos erleichterten eine völkische Rezeption. Die Bayreuther Festspiele als Machtzentrum förderten diese Lesart. Cosima Wagner als Witwe des Komponisten, der rassistische Ideologe Houston Stewart Chamberlain als ihr Hausideologe, in der folgenden Generation die Hitler-Verehrerin Winifred Wagner als Leiterin der Festspiele bestimmten mindestens bis 1945 die Machtverhältnisse in Bayreuth, und dies im Einklang mit den nationalistischen Überzeugungen einer Mehrheit des deutschen Bürgertums, die auch die Mehrheit der Besucher in den Opernhäusern stellte.
Daneben gab es immer die Minderheit, die den „Ring des Nibelungen“ als Kritik an Kapitalismus und Geldherrschaft verstand. George Bernard Shaw stellte in „The Perfect Wagnerite“ 1898 (deutsch zuerst 1908) den Wagner der 1848er Revolution als Sozialisten vor und begriff das Bergwerk, in dem die Nibelungen schuften müssen, als zeitgenössische Fabrikhölle.[1] Für Thomas Mann war Wagner von einer „revolutionären Umgestaltung“ der bürgerlichen Gesellschaft überzeugt und ist der „Ring“ Resultat dieser Überzeugung.[2] Joachim Herz brachte die Tetralogie in seiner Leipziger Inszenierung ab 1973 als Analyse von Klassenverhältnissen auf die Bühne. Patrice Chéreau ließ in der von Pierre Boulez dirigierten Bayreuther Inszenierung von 1976 das Personal in Kostümen aus dem 19. Jahrhundert auftreten und zeigte so, dass Wagner den Mythos zur Zeitkritik nutzte – damals zur Empörung des Festspielpublikums.[3]
Tatsächlich geht es um Antikapitalismus – fragt sich, um welchen. Tatsächlich sieht Shaw den positiven Helden Siegfried als Verkörperung der anarchistischen Ideale Bakunins (und gleichzeitig als „Vorahnung von Nietzsches Übermensch“).[4] Thomas Mann beruhigt das bürgerliche Publikum in der zitierten Festrede zu einer Zürcher Aufführung 1937 mit der Versicherung, Wagner sei kein „eigentlich politischer Mensch“ gewesen und habe „aus seinem Widerwillen gegen das Treiben politischer Parteien nie ein Hehl gemacht“. Vielmehr habe er „sozial-sittlich“ über die bürgerlich-kapitalistische Ordnung hinaus auf eine „von Machtwahn und Geldherrschaft befreite, auf Gerechtigkeit und Liebe gegründete brüderliche Menschenwelt“ gezielt.[5] Doch ist gerade, wo allgemeine Sittlichkeit von Parteien nichts wissen will, Misstrauen angebracht.
Ein biographisches Herangehen hilft hier nicht. So unstreitig Wagner auf der Seite der Revolution in Dresden an den 1848er Auseinandersetzungen teilgenommen hat und von seinen Überzeugungen auch in den folgenden Jahren, in denen er den „Ring“ ausführte, nicht abgerückt ist – damit ist nur belegt, dass er gegen die bestehende Herrschaft, wie er sie auffasste, protestierte, nicht aber, wofür er war. Geradezu hoffnungslos ist der Versuch, aus seinen Schriften ein konsistentes Weltbild herauszuarbeiten. Wagner wendete sich in unzähligen Formulierungen gegen Geldherrschaft, christlich-repressive Religion und sinnenfeindliche bürgerliche Moral. Aus all den politisch-programmatischen, ästhetischen, autobiographischen oder einfach brieflich-kommunikativen Äußerungen ein geschlossenes, progressives Programm herauszuarbeiten[6], scheitert nicht nur an der unklaren Begrifflichkeit fast aller dieser Texte. So konsequent Wagner als Komponist seine Ästhetik entwickelte, so taktisch beweglich war er in der Ansprache von Adressaten.
Ebensowenig hilft der Rekurs auf politische Theorie und Philosophie. Der Dresdner Kontakt mit Bakunin und die Lektüre des Frühsozialisten Proudhon haben sicher Spuren im „Ring“ hinterlassen. Möglich ist auch, dass die resignative Philosophie Schopenhauers, die Wagner 1854 kennenlernte, die Gestaltung des Endes im Detail beeinflusste. Doch war die Einheit von Tod und Erlösung im „Ring“ schon zuvor skizziert. Sie findet sich zudem bereits in Wagners vorangegangenen Opern.
Ohnehin ist der politische Gehalt eines Kunstwerks nicht der der Theorien, die ins Werk eingegangen sind, sondern er entsteht erst in der ästhetischen Gestaltung. Diese Gestaltung ist auch bei einem theoretisierenden Künstler wie Wagner selten die von der Theorie vorgegebene. In „Oper und Drama“ (1851) entwarf Wagner seine Konzeption des Musikdramas, das sich von den zuvor komponierten Opern radikal unterscheiden sollte. Statt der Trennung von Musik, Wort und Handlung zielt Wagner auf eine Einheit, die vom Gefühl unmittelbar nachzuvollziehen ist. Musikalische Wendungen sollen mit Lautfolgen und Bedeutungen verschmelzen; Sprache und Klang sollen mit szenischen Eindrücken identisch werden.
All das ist zum Scheitern verurteilt. Dass die Wahrnehmungen verschiedener Sinne, ungestört vom Verstand, zu einem Ganzen verschmelzen, ist angesichts einer künstlerischen Aufführung nur für Momente zu haben, doch nicht über 15 Stunden hinweg. Im günstigsten Fall sitzt da ein Hörer, der sich nicht mehr mit der selbstzweckhaften Freude an einer virtuosen Gesangsleistung begnügt, sondern z.B. die Tonfolge, die zu bestimmten Worten erklingt, im Gedächtnis behält und sie später wiedererkennt. Das ist eine Leistung des Verstands. Eine angemessene Rezeption des „Rings“ bedeutet, der Theorie des Komponisten entgegen, eine Intellektualisierung des Hörens und stellt damit eine Frage, auf die zurückzukommen sein wird: die nach dem Verhältnis von Ganzem und Detail.
Die Handlung
In „Das Rheingold“ raubt der Nibelungenzwerg Alberich das Gold, und weil er auf Liebe verzichtet, vermag er aus dem Gold einen Ring zu schmieden, der die Weltherrschaft garantiert. Wotan, das Oberhaupt der Götter, hat sich von den Riesen Fasolt und Fafner die Burg Walhall bauen lassen und diesen zum Lohn die Göttin Freia versprochen, die er aber nicht herauszurücken gedenkt. Weil er durch Verträge herrscht, kann er die Riesen nicht einfach um ihren Lohn prellen. Der Feuergott Loge berichtet Wotan von Alberichs Raub und lenkt ihn auf den Gedanken, die Burg mit dem Gold zu bezahlen. Wotan und Loge fahren hinab in Alberichs Unterwelt, wo der Zwerg mittlerweile die anderen Nibelungen gezwungen hat, für ihn im Bergwerk Gold zu sammeln. Durch List stehlen Wotan und Alberich den angehäuften Schatz, den Ring und einen Tarnhelm, den Alberich seinen Bruder Mime anzufertigen gezwungen hat. Alberich belegt den Ring mit einem Fluch, der sich auch sogleich bewahrheitet: Als sich die Riesen mit dem Diebesgut bezahlen lassen, bricht unter ihnen ein Streit um das Erworbene aus, und Fafner erschlägt seinen Bruder Fasolt.
Die Götter ziehen am Ende dieses „Vorabends“ in Walhall ein. Freilich weiß Wotan, dass ihre Macht verloren wäre, sollte Alberich irgendwann den Ring wiedererlangen. Wotan steht vor der paradoxen Aufgabe, den Ring zu bekommen, ohne die Legalität, auf der sein System beruht, zu verletzen. Die Folgen dieses Versuchs sind in den drei Hauptteilen der Tetralogie geschildert.
Wotan zeugt neun Walküren, die ihm die gefallenen Helden nach Walhall bringen sollen; doch weiß er selber, dass die Helden vor der weltbeherrschenden Kraft des Ringes nicht bestehen könnten. Eher setzt er Hoffnungen auf das heldische Geschwisterpaar Siegmund und Sieglinde, dessen Schicksal das Zentrum von „Die Walküre“ bildet. Als die Geschwister eine inzestuöse Liebesbeziehung eingehen, muss sich allerdings Wotan als Hüter der Moral gegen Siegmund wenden. Siegmund fällt, doch Wotans Lieblingswalküre Brünnhilde rettet die schwangere Sieglinde. Der zürnende Gott bestraft Brünnhilde, doch begreift er die neue Chance: der kommende Held soll frei die Tat begehen, die jedem seiner Gefolgsleute verwehrt bliebe. Brünnhilde wird für diesen Siegfried als Braut vorbereitet, indem sie in Schlaf versenkt und mit einem Feuer umgeben wird, das nur der stärkste Held zu durchschreiten wagt.
Das ist das Ziel des zweiten Abends, „Siegfried“. Sieglinde starb bei der Geburt, und der Titelheld wächst elternlos in einer Höhle des Zwergs Mime auf, der seine eigenen Pläne mit ihm hat: Siegfried soll Fafner erschlagen, der mithilfe des Tarnhelms die Gestalt eines Drachen angenommen hat. Danach will Mime Siegfried töten, um sich selbst in den Besitz der Beute zu setzen. Der erste Teil gelingt, der zweite nicht: Siegfried tötet zwar den Drachen, erobert den Ring, durchschaut aber Mimes Absicht und schlägt ihn tot. Auf dem Weg zu Brünnhilde tritt Siegfried Wotan entgegen, der als „Wanderer“ die Welt durchstreift und Respekt von Siegfried einfordert. Der menschliche Held aber, der völlig regellos aufwuchs, zerhaut mit seinem Schwert den Speer Wotans, der die Vertragsherrschaft symbolisiert. Wotan hat die Niederlage, die zugleich seinem geheimen Wunsch entspricht: Siegfried agiert tatsächlich unabhängig von ihm.
Siegfried durchschreitet Loges Flammen, findet Brünnhilde und erfährt die große Liebe, wobei freilich nur die Frau die Zusammenhänge kennt. Dies wird Siegfried in der „Götterdämmerung“ zum Verhängnis, als er zu neuen Abenteuern aufbricht. Auch Alberich hat inzwischen einen Sohn gezeugt: Hagen, der in der Menschenwelt am Hof der Gibichungen seine Intrigen spinnt. Qua Zaubertrank läßt er Siegfried Brünnhilde vergessen und bewegt ihn dazu, mit dem Tarnhelm die Gestalt des Gibichungen-Königs Gunther anzunehmen und für diesen Brünnhilde ein zweites Mal zu erobern. Dass die gewaltsam an den Königshof geschleppte Brünnhilde die Täuschung durchschaut, nicht aber deren Hintergründe, hat Hagen einkalkuliert. Sie beteiligt sich an einem Komplott, das zur Ermordung Siegfrieds führt. Zu spät begreift sie, dass auch Siegfried getäuscht wurde. Sie nimmt den Ring an sich, gibt ihn den Rheintöchtern zurück und stürzt sich in ein hochaufloderndes Feuer, das zugleich Walhall, wo die Götter seit langem auf ihren Untergang warten, verbrennt.
Klassenordnung und Mythos
In der Handlung geht es offenkundig um die mythische Verdichtung realer Erfahrungen. Offenkundig sind Herrschaft und ihre verschiedenen Ebenen und Techniken ein Thema: durch Vertrag, Moral und eine punktuelle Gewalt, die mit den grundlegenden ideologischen Werten nicht in Widerspruch geraten darf (Wotan), durch Besitz, Tarnung und Gewalt (Alberich). Zu fragen ist zunächst, ob dabei bestimmte Figuren oder Figurengruppen Klassen zugeordnet werden können.[7]
„Walhall ist Wall Street“ – dieses Bonmot des Komponisten-Enkels Wieland Wagner anlässlich seiner Bayreuther „Ring“-Inszenierung von 1965 findet in der Handlung nur zum Teil seine Entsprechung. Wahr ist daran, dass Wotan seine Herrschaft auf bürgerliche Weise durch Verträge gesichert hat und dass sie auf eine Familienmoral angewiesen ist, wie sie das aufsteigende Bürgertum für seine Repräsentation einsetzte. Zwar hält er sich selbst nicht an diese Moral – die Walküren sind ebenso wie Siegmund und Sieglinde außerhalb der Ehe mit der Göttin Fricka gezeugt. Doch erzwingt ebendiese Fricka in der „Walküre“, dass sich Wotan von dem Geschwisterpaar abwendet. Die Wotanskinder mussten kräftig und moralfrei sein, um den Ring zu stehlen; als sie entsprechend moralfrei sich paarten, war die Weltordnung erschüttert und musste Wotan ihrer Vernichtung zustimmen.
Bis hierhin entspricht Wotans Zwickmühle, stehlen zu müssen und nicht stehlen zu dürfen, dem Problem der bürgerlichen Herrschaft, sich durch allgemeinmenschliche Ideale zu legitimieren, die anfallende Gewalt darum qua Ethik erklären zu müssen und manchmal, wo die Erklärung zu dünn ausfällt, Rückzugsmanöver auszuführen. Doch ist Wotan ökonomisch alles andere als ein Kapitalist. Er hat sich zwar, insofern der Klasse entsprechend, die Burg Walhall bauen lassen, ohne bereits über die Bezahlung dafür zu verfügen. Grund war aber, ganz privat und der Geschlechterideologie verhaftet, das Drängen des Eheweibs Fricka, dass der allzu umherschweifende Mann sich ein Heim bauen möge.[8]
Investiert wird nichts, ökonomischer Gewinn fällt nicht an. Die Götterherrschaft beruht nur auf der Rechtsordnung, die sie gefährdet. Nebengötter wie Donner, die die Probleme durch Gewalt lösen wollen, treten nur im „Rheingold“ (und musikalisch im Vorspiel zur „Walküre“) auf und werden schnell auf ihren minderen Rang verwiesen.
Eine Zwischenstellung nehmen die Riesen ein, die zuerst wie das Proletariat erscheinen, indem sie Walhall erbauen. Doch schnell zerfällt die Einheit der Brüder: Fasolt will die Göttin Freia für sich und zielt auf sinnlichen Genuss, liebt sie vielleicht wirklich – Fafner, der zunächst bereit gewesen wäre zurückzutreten, will bei der Verteilung der Beute den größeren Teil und vor allem den Ring. Mit Reichtum und Weltherrschaft vermag er allerdings nichts anzufangen. Mithilfe des Tarnhelms verschafft er sich die abschreckende Drachengestalt, die es ihm erlaubt, den Besitz zu verteidigen. „Ich lieg und besitz / – laßt mich, schlafen“ (696), verkündet er gähnend kurz vor seinem Tod in „Siegfried“. Der Schatz trägt keine Zinsen, Fafner wirkt wie eine Karikatur eines die Grundrente verzehrenden Adels. Freilich hatte diese Klasse zu Wagners Zeit auch in Deutschland längst schon gelernt, sich an den Kapitalismus anzupassen.
Am einfachsten scheint Alberich zuzuordnen. Vom Entschluss an, das Rheingold zu rauben, wirkt sein Handeln wie die kapitalistische Praxis ohne ideologische Beschönigungen. Der Verzicht auf Liebe fällt ihm leicht, da er – wenigstens aus Sicht der Rheintöchter – ohnehin zu hässlich ist. Pragmatisch überlegt er: „Erzwäng / ich nicht Liebe, / doch listig erzwäng‘ ich mir Lust?“ (534) Während die Götterwelt, bei durchaus unordentlicher Lebensweise, doch das Eheprinzip hochhält, bekennt sich Alberich zur Prostitution.
In der dritten Szene von „Rheingold“ wird dann deutlich, wie eine von Alberich beherrschte Welt aussieht. Schon die Verwandlungsmusik, zu der Wotan und Loge zwecks Ringraub in sein Bergwerk hinabsteigen, lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Fabrik handelt: für einige Momente unterbricht monoton klirrendes Hämmern den Fortgang der Musik; zwar immerhin im Rhythmus des Leitmotivs, das für die Nibelungen steht, aber immerhin eine Verdrängung von Musik durch Lärm, die für die Entstehungszeit des Werkes ganz außerordentlich ist.
In Alberichs Unterwelt herrschen denn auch schlimmste Arbeitsbedingungen. Durch Schläge werden die anderen Zwerge dazu gezwungen, das Gold zusammenzuraffen, mit dem Alberich in Zukunft die Welt beherrschen will. Die klangliche Modernität hat Interpreten dazu verführt, in dieser Szene eine Anklage gegen den Frühindustrialismus zu sehen. Doch ist gemessen daran Alberichs Methode, die Nibelungen zur Arbeit zu zwingen, archaisch. Er beschäftigt nicht freie Lohnarbeiter, sondern prügelt Sklaven.
Man sollte den Widerspruch nicht auflösen. Zum einen ist der freie Lohnarbeiter dem Zwang unterworfen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und lebte er darum unter zeitgenössischen Umständen nicht viel besser als ein Sklave, so dass ein naiver Kritiker der Verhältnisse den rechtlichen Fortschritt übersehen konnte. Zum anderen wird hier zum Problem, mit den Mitteln des überkommenen Mythos moderne Verhältnisse zu erfassen. Ein Mythos, der die Zeiten überdauert hat, bietet künstlerisch den Vorteil, komplexe Verhältnisse in einprägsame Bilder oder Szenen zu bannen. Der Nachteil besteht in der Gefahr, dass gegenüber dem Dauernden das Neue verloren geht.
Doch geht im Mythenmotiv des Tarnhelms auch ein Moment ins Werk ein, das in die Zukunft vorausgreift und erst heute real wird. Der Tarnhelm kann seinem Träger jede beliebige Gestalt verschaffen oder ihn unsichtbar machen. Letztere Funktion würde es Alberich erlauben, selber ungesehen jeden Nibelungen bei seiner Goldsuche zu überwachen, das heißt potenziell allgegenwärtig zu sein und auf diese Weise jeden Schlendrian verhindern zu können. Die Vervielfältigung der Macht ist im Werk nicht durchgeführt und wäre auch szenisch problematisch (weil Unsichtbarkeit im Theater nur mittelbar zu spielen möglich ist). Sie verweist aber auf eine der interessantesten und modernsten Figuren im „Ring“, Alberichs Bruder Mime, der seine Falschheit schon in seinem Namen vor sich herträgt.
Antisemitismus
Mime ist in „Rheingold“ ein Handwerksmeister mit außerordentlichen technischen und mit minderen geistigen Fähigkeiten. Er kann den Tarnhelm schmieden, versteht aber nicht dessen Funktion – beschränktes Spezialistentum also, das auch gleich bestraft wird, indem der unsichtbar gewordene Alberich ihn prügelt.
Auch in „Siegfried“ ist Mime derjenige, der sich mit einer beschränkten Schläue in Lagen bringt, die ihm schaden. Glaubte man ihm aber in „Rheingold“ noch, ein Opfer seines Bruders zu sein, so erscheint er nun als Täter. Er kümmert sich zu dem einzigen Zweck um Siegfried, dass der für ihn den Ring stiehlt. In einer Art von groteskem Wiegenlied plärrt er dem Zögling immer wieder dieses eigennützige Verdienst ins Ohr: „Als zullendes Kind / zog ich dich auf“ (665). Der Mime des „Siegfried“ hat, indem er für Siegfried auch die Stelle der Mutter einnimmt, als einzige Figur der Tetralogie keine eindeutige Geschlechtsidentität, was hier im Kontrast zu dem fröhlichen Naturburschen Siegfried als defizitär gilt.
Mehr noch: Der technische Spezialist Mime wird in „Siegfried“ auf seinem ureigensten Feld gedemütigt. Es geht im ersten Aufzug unter anderem darum, das von Wotan in Stücke zerschlagene Schwert von Siegfrieds Vater Siegmund wieder zusammenzuschweißen. Mimes Versuche scheitern. Dagegen gelingt es dem Laien Siegfried, das väterliche Schwert auf unkonventionelle Art wiederherzustellen. Mag seine Methode kulturhistorisch technisch auf der Höhe der Zeit sein[9] – werkimmanent, aus Sicht des konservativen Mime, ist es revolutionär, wenn Siegfried die Teile des Schwerts zerspänt, um aus dem geschmolzenen Metall das neue Schwert zu schmieden.
Mime ist mehrfach als Judenkarikatur interpretiert worden. Das ist nicht über den üblen Gegensatz von (positivem) schaffendem versus (negativem) raffendem Kapital möglich, denn schaffendes Kapital kommt im „Ring“ nicht vor, und gerafft wird nirgends über Kredit und Zins und Wucher, sondern bühnentauglich sichtbar stets durch Gewalt. Antisemitischen Stereotypen entspricht Mime aber über eine defizitäre Männlichkeit – musikalisch kein Heldentenor, sondern eine karikiert hohe Stimme; über den Kontrast zwischen einer im besten Falle Konservierung der bestehenden Kultur und Siegfrieds Fähigkeit, das Neue zu tun; einer Geschwätzigkeit, welche die Lüge nur notdürftig verbirgt.
Ihren Höhepunkt findet die Karikatur, wenn die Brüder Mime und Alberich in einem scherzohaften Zwischenspiel sich keifend gegenseitig beschuldigen und Anspruch auf den Ring erheben. Dies wirkt wie das Klischee von der Judenschule, an der es angeblich denkbar unordentlich zugeht. Hier schlägt die antisemitische Ideologie Wagners durch, der nicht nur 1850 eine Streitschrift gegen „Das Judenthum in der Musik“ anonym publizierte, sondern 1869, nun mit Verfassernennung, eine erweiterte Fassung vorlegte. Man kann musikalisch argumentieren, dass dies in den „Ring“-Musikdramen nur ein Einsprengsel ist und Alberich sowie später sein Sohn Hagen auch Passagen singen, die die Würde der Personen nicht beschädigen; dass Wotans gemütvoller Kommentar: „Alles ist von seiner Art: / an ihr wirst du nichts ändern“ (697) zwar Rassengrenzen akzentuiert, jedoch andernorts musikalisch unterlaufen ist.
Der Musik Alberichs entgegen können jedoch gerade jene Personen, die dem modernen Kapitalismus am nächsten stehen, am ehesten antisemitisch aufgefasst werden. Ein entsprechend eingestelltes Publikum, wie es die Mehrheit in Bayreuth bis mindestens 1945 war, dürfte sich von keiner Werklogik irritieren lassen. Als Siegfried den Drachen Fafner erschlagen hat und, von Blut bespritzt, fähig wird, das eigentlich Gemeinte hinter dem Gesagten zu verstehen, da plaudert Mime unfreiwillig aus, dass sich hinter seiner angeblichen Fürsorge die böse Absicht versteckt, Siegfried zu töten. Es ist eine der bühnenwirksamsten Szenen der ganzen Tetralogie: wie einmal Heuchelei hörbar wird, zur Irritation des Heuchlers; und wie jeder Versuch, das Gemeinte zu vertuschen, doch dazu führt, dass die Wahrheit noch einmal betont wird. Doch ist dieses gesellschaftlich fast Allgemeine hier eben der antisemitisch diffamierten Zwergenrasse zugeschoben und schlägt dann zur emotionalen Zufriedenheit des Zuschauers der unkomplizierte Held Siegfried den Lügner tot.[10]
Es ist hier und für die Kapitalismuskritik im „Ring“ weniger interessant, dass auch die Identifikationsfigur Siegfried zum Scheitern verurteilt ist. Als freier Mensch soll er für Wotan den Ring beschaffen, ohne seine Aufgabe zu kennen – ein unlösbarer Widerspruch. Er muss der furchtlos dreinschlagende Anarch sein, der eben wegen seiner Eindimensionalität den Intrigen Alberich-Hagens schutzlos ausgeliefert ist. Und auch die Liebe, als Gegenmotiv zu dem Ring, der die Macht bedeutet, trägt den weltbedrohenden Egoismus in sich. Brünnhilde weigert sich im ersten Aufzug der „Götterdämmerung“, den Ring den Rheintöchtern zurückzugeben. Als Geschenk Siegfrieds ist er für sie das Symbol ihrer Liebe; so vertut sie die Chance, den umfassenden Untergang abzuwenden.
In solchen Konstellationen siegt der Dramatiker Wagner, der die Probleme seiner Figuren konsequent durchführt, über den Ideologen, der eine außergesellschaftliche Liebe der großen, freien Individuen herbeiphantasiert. Der Komponist aber stattet die problematischen Figuren mit einer Musik aus, die die Probleme überdeckt und zur Identifikation mit Größenphantasien einlädt, auch mit der Größe im Untergang.[11]
Die musikalische Zeit
Dies verweist auf die Bedeutung der Komposition. Die bisherige Argumentation war fast ausschließlich an der Handlung orientiert – fast als wäre der „Ring des Nibelungen“ ‚nur’ ein Theaterstück. Musik wäre natürlich unabdingbar, weil das mythisch Grobe mancher Figurenzeichungen auch im damaligen Sprechtheater lächerlich gewirkt hätte. Doch ist der Blick auf den „Ring“ als Musiktheater aus mehreren Gründen unabdingbar. Zum einen ist Wagners Konzeption tatsächlich insofern moderner als die vorangegangene Oper: Im angestrebten Gesamtkunstwerk soll jeder einzelne Beitrag nur in Hinsicht auf das Ganze zählen, wird also die Arbeitsteilung auf die Spitze getrieben. Das gilt auch für den Orchesterklang[12], der zumeist auf die Verschmelzung von Klangfarben abzielt und das individuelle Spiel höchstens im Falle von Fehlern, nicht aber beim Gelingen wahrnehmbar macht. Was der Hörer als unmittelbares Gefühl erleben soll, ist auf der Ebene der Produktion Resultat eines gegenüber dem Opernbetrieb, wie Wagner ihn vorfand, sogar noch zugespitzten Intellektualismus.
Auch auf der Werkebene führt die musikalische Dimension im Falle angemessener Wahrnehmung nur über den Verstand zum Gefühl. Das zeigt der Einsatz der „Leitmotive“, die Personen, Dinge oder Situationen bezeichnen. Entsprechende Listen wurden nachträglich erstellt, mit Billigung Wagners. Doch nach seiner ursprünglichen Konzeption in „Oper und Drama“ sollte eine Abfolge von Tönen, die zu bestimmten Worten in einer bestimmten Situation erklungen war, einen Gefühlswert annehmen und beim Wiedererscheinen abrufen.
Einen Gefühlswert abzurufen heißt indessen, das Gefühl zu denken. Das Leitmotiv führt zur musikalisch-szenischen Präzision. Man kann das gegenüber der Moderne kritisch wenden, mit der Bemerkung, dass die Personen ihre musikalischen Motive wie ein Werbebanner vor sich hertrügen.[13] Das gilt denn auch für einige fanfarenartige Wendungen wie das Siegfried- oder das Schwert-Motiv. Doch stehen insgesamt die Motive nicht so isoliert gegeneinander wie Adidas und Nike. Vielmehr gehen sie ineinander über oder sind sie doch so eingesetzt, dass sie den gesungenen Inhalt infragestellen.[14]
Zwei Beispiele: Das Motiv der Nibelungen hat einen markanten Rhythmus, der scheinbar unmotiviert im Vorspiel zum zweiten Aufzug der „Walküre“ wiederholt wird. Aus diesem Rhythmus geht dann aber das Walkürenmotiv hervor, dass Wotans Lieblingstochter Brünnhilde bezeichnet wie auch die ganze Gruppe der Töchter, die die toten Helden einsammeln. Es ist blutige Schreckensarbeit, und zwar so sinnlos wie das Tun der von Alberich gezwungenen Nibelungen. Wotan mag eine Armee von Kämpfern aufstellen – doch bekommt Alberich, wenn er den Ring zurückerhält, auch die Verfügung über die Welt und damit auch über die toten Helden, die ihn abwehren sollen.
Zentral ist das „Entsagungsmotiv“, das die Rheintöchter verkünden. Das natürliche Rheingold zum Ring der Herrschaft verwandeln könne nur, „wer der Minne Macht versagt“ (533) – so singen sie, als sie noch nicht glauben, dass dies Alberich wirklich tun könnte. Das Motiv gehört aber nicht nur zu dem bösen Zwerg, sondern auch zu den Göttern. Bereits in der zweiten Szene des „Rheingold“ prägt ebendiese Tonfolge den Auftritt von Wotan, der Freia den Riesen versprochen hat, um die Burg Walhall zu bezahlen. Die scharfe Trennung der Arten, die Wotan als Wanderer gegen die Judenkarikaturen in „Siegfried“ zu singen hat, scheint hier durch eine Kommentarfunktion der Musik vorab dementiert. An solchen Stellen möchte man glauben, dass die Tetralogie eine Vorform des epischen Theaters ist.
Dem entspricht der Umgang mit der Zeit. Wagner zielt, wie gezeigt, auf Gegenwärtigkeit, indem jede Tonfolge bei ihrem ersten Erklingen mit einer konkreten Bühnenerscheinung, häufig auch mit einem Text verknüpft ist. Nun ist dieses Prinzip auf zweifache Art durchbrochen. Zum einen gibt es Vorausdeutungen wie das Schwert-Motiv, das am Ende des „Rheingold“ erklingt und auf Wotans Handlungen im folgenden Teil verweist, oder das Siegfried-Motiv, das am Schluss der „Walküre“ die Absichten Wotans und Brünnhildes bezeichnet. Die musikalische Ebene verrät die Gedanken der Figuren – hier: Wotans Pläne – und schafft so in gewissem Maße eine Distanz; in gewissen Maße, weil sie, bei aller Modernität im Detail, klanglich mit Blechfanfare und Streichergesang auf etablierte Klischees zurückgreift und diese zu einem Pathos übersteigert, das die bürgerliche Hörerschaft, deren Wendung zum Imperialismus bald nach der Uraufführung der Tetralogie 1876 einsetzt, zur Identifikation einlädt.
Zum anderen gibt es von der „Walküre“ an umfangreiche und dramaturgisch nicht immer zwingend begründete Dialogstellen, in denen das Vorangegangene nacherzählt wird. Dadurch werden zwar die reichhaltig erklingenden Leitmotive der Hörerschaft eingeprägt, die auf diese Weise eine deutlichere Verbindung zwischen vielen Tonfolgen und einem konkreten Inhalt herzustellen vermag als in den anderen drei Bühnenwerken, die Wagner nach seiner Konzeption des Musikdramas komponiert hat – „Tristan und Isolde“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Parsifal“ sind verglichen mit dem “Ring“ auf der musikalischen Ebene weitaus schwieriger mit Elementen der Handlung zu verknüpfen. Diese Deutlichkeit mittels Wiederholung im „Ring“ ist freilich erkauft mit einer Potenzierung der Zeitebenen.
Was heißt das? Werkgenetisch bedeutete die musikdramatische Forderung, alles einmal gegenwärtig gehabt zu haben, dass sich an den zunächst konzipierten Schlussteil „Siegfrieds Tod“ – jetzt also die „Götterdämmerung“ – wie an jeden Teil der Vorgeschichte notwendig ein noch früherer anlagerte. Für das fertige Werk bedeutet es umgekehrt, dass die späteren Teile von den früheren okkupiert werden. Alles, was geschieht, ist vorherbestimmt. Der bewusste Hörer der „Götterdämmerung“ erlebt das Geschehen nur noch wie eine Erinnerung. Das erzeugt den Eindruck von Notwendigkeit und Pathos, der nun nicht mehr durch das unmittelbar Gesehene oder Gehörte, sondern reflexiv durch die Evidenz des Unausweichlichen entsteht.
Darum können die beiden positiven Hauptfiguren mögliche Auswege ablehnen, ohne dass dies den Gesamteindruck störte. Die wohlinformierte, doch auf ihre Liebe fixierte Brünnhilde behält im ersten Aufzug der „Götterdämmerung“ den Ring; der ganz unwissende Siegfried wäre im dritten Aufzug sogar bereit, ihn den Rheintöchtern zu schenken, was die aber entgegen der Handlungslogik ablehnen, weil eben Siegfried nicht wüsste, was er tut. Die tragischen Folgen sind unausweichlich; Brünnhilde wird nach ihrem Fehler von Siegfried in der Tarnhelm-Maske Gunthers entführt, Siegfried dann von Hagen getötet.
Die Musik verbietet gerade dem mitdenkenden Hörer die Frage: Warum sind die so dumm? Vom Ende zurück an den Anfang. Das Vorspiel zum „Rheingold“ wurde vielfach sowohl als Naturmusik wie auch als Entstehung der Welt gedeutet. Wirklich erlaubt der zunächst diffuse Klangeindruck in den dunkelsten Registern des Orchesters, aus dem sich erst allmählich identifizierbare musikalische Motive herausschälen, sowohl die Interpretation, dass da etwas fließt, was durch den Titel des Vorabends bereits als der deutsch-urtümliche Strom Rhein bezeichnet ist, als auch den Eindruck, dass aus etwas nicht Fassbarem eine Welt entstehe.
Die Pointe ist allerdings, dass in dieser Ursuppe die Rheintöchter herumschwimmen, die eine feste (und, wie uns die Musik zeigt: fragwürdige) Abstufung der Arten im Kopf haben und nur leider das Selbstbewusstsein der Natur, dass sie durch Liebesentsagung gefährdet sei, unzureichend verinnerlicht haben. Auch hat Wotan bereits vor diesem Beginn seine Vertragsherrschaft begonnen und dabei ebenfalls die Natur gestört und ausgebeutet. Hier liegt ein dramaturgisches Problem, das auch eines der subjektiv aufrichtigen Kritik Wagners an der Herrschaft des Goldes und des Rings ist, der in Alberichs Hand das Gold vervielfachen kann. Ausgerechnet der Anfang von Wotans Herrschaft, die in jedem Teil der Tetralogie eindringlicher als dem historischen Verfall ausgesetzt erscheint, wird nie gezeigt. Erst in einer Nornen-Erzählung ganz am Beginn der „Götterdämmerung“ ist der Vorgang, der als einziger nie szenische Gegenwärtigkeit erlangt, nachgeliefert.
Das Verhältnis von musikalischer Gegenwart, szenischer Präsenz und Handlungslogik ist im „Ring“ grundsätzlich spannungsvoll, und zwar derart, dass eine bruchlose Auflösung nicht möglich ist. Und genau dies führt zur Kritik an dem Geschichtsbild in der Tetralogie, die auch eine Kritik ihrer Variante des Antikapitalismus ist.
Politisch beschränkter Antikapitalismus
„Der Ring des Nibelungen“ zeigt ökonomische Vorgänge nur sehr skizzenhaft. Nun ist dies auf der Bühne ohnehin nur schwer möglich, und sogar ein auf Wirtschaft bezogenes Theaterstück wie „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ des Marxisten Brecht hat falsche Ideologien über die Beseitigung des Übels als zentrales Thema. Wagner unterscheidet sich von Brecht bei seiner Anklage von Herrschaft nicht in seiner Konzentration auf Politik, sondern darin, dass er nicht der falschen Politik eine richtige gegenüberstellt. Vielmehr ist für ihn Politik überhaupt das Übel – sei es Alberichs unvermittelte Gewalt, sei es Wotans Vertragssystem.
Seine Sehnsucht richtet sich deshalb auf einen Urzustand vor jeder Zerspaltung. Selbstverständlich ist ein solcher Zustand für einen Künstler bereits des 19. Jahrhunderts weder denkbar noch gestaltbar. Vielmehr führt der als kunstrevolutionär ausgegebene Versuch, die musikalische Oberschichtsgattung Oper mit all ihrem Spezialistentum und ihrer Geschäftsorientierung zu überwinden, zu der noch arbeitsteiligeren und zuschussbedürftigeren Gattung Musikdrama.
Diese Gattung führt potentiell zu einem neuen Zeitbegriff, das heißt auch: einem Geschichtsbild, das sich von dem der früheren Opern unterscheidet. Dieser Zeitbegriff ist in dem „Ring“ als Gründungswerk der Gattung reiner entfaltet als in späteren Konzeptionen Wagners und dann anderer Komponisten, die wieder Opernmomente ins Musikdrama integrieren. Es handelt sich um das Paradox einer reflexiven Unmittelbarkeit, bei der das Wiedererscheinen von Motiven, die ehemals Gegenwartsstatus hatten, zwar gegenwärtige Gefühle und Gedanken auslöst. Doch zielt all dies darauf, das spätere Bühnengeschehen mit dem Attribut des Unausweichlichen auszustatten.
Dabei ist nicht der Gedanke problematisch, dass das Vergangene gegenwärtige Abläufe bestimmt, und nicht einmal die Darstellung von Unausweichlichem, die sich seit der attischen Tragödie als ästhetisch wirksam erwiesen hat und tatsächlich von bestimmten Punkten eines Geschehens an realistisch ist. Vielmehr wird die punktuelle Kritik an Einzelphänomenen des Kapitalismus dadurch reaktionär ausdeutbar, dass sie an den Gedanken des Verzichts geknüpft ist.
Vor allem Wotan ist, vom zweiten Aufzug der „Walküre“ an, Protagonist des Verzichts. Nachdem er begriffen hat, dass sein Plan mit Siegmund zum Scheitern verurteilt ist, will er trotz gelegentlichen Aufbäumens nur noch „das Ende“ (616). Negatives Gegenbild ist die Brünnhilde des ersten Aufzugs der „Götterdämmerung“, die ein nicht katastrophales Ende verhindert, indem sie ‚egoistisch’ den Verzicht verweigert. Nun besteht gerade der Zugewinn durchs bürgerliche Zeitalter in der Konzeption eines Individuums, das etwas will, und brächte die Überwindung dieser Epoche gerade die Umdeutung dieses Wollens ins Gesellschaftstaugliche.
Wagner dagegen komponiert die Vergeblichkeit, indem er auf der Handlungsebene individuelles Wollen als verwerflich zeigt, auf der musikalischen Ebene Geschichte in Reflektion auflöst. Es bleibt dann eine Sehnsucht nach dem Urtümlichen, die für die tatsächliche deutsche Rezeption mindestens bis 1945 in all den mehrheitsfähigen mythisch-nationalen, antisemitischen, sich gewaltbereit am klanglichen Pathos berauschenden Hör- und Sehweisen manifestiert hat – eine ganz moderne Sehnsucht nach dem Undifferenzierten.
Diese primitive Lösung tut dem weitaus differenzierteren Werk Gewalt an und ist dennoch in ihm begründet. Der auskomponierte Verzicht zugunsten des Spiels der Rheintöchter, die sich am Ende freuen dürfen, ist der Verzicht auf jede Frage, zu wessen Nachteil der Kapitalismus agiert und wie – und zu wessen Gunsten – seine Vorteile zu wenden wären. Stattdessen hat Wagner mit seiner Tetralogie das Paradox eines revolutionären Konformismus auf die Bühne gebracht.
[1] Vgl. George Bernard Shaw: Wagner-Brevier. Frankfurt a. M. 1989, S. 51f., S. 39.
[2] Thomas Mann: Richard Wagner und „Der Ring des Nibelungen“. In: Ders.: Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a.M. 1990, S. 502-527, hier S. 511.
[3] Die Empörung der Zuschauer über die – verglichen mit manchem heutigen Regieirrsinn – genau gearbeitete und werknahe Inszenierung ist dokumentiert bei Sven Oliver Müller: Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Haß und Hingabe. München 2013, S. 221ff.
[4] Shaw, a.a.O., S. 72; Marx‘ Theorie fertigt er konsequent in seinem Wagner-Buch als weltfremd ab (S. 138f.).
[5] Mann, a.a.O., S. 511f.
[6] So etwa Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. Frankfurt a.M. 1994.
[7] Vgl. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik: Arbeitsheft 21. Joachim Herz inszeniert Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ am Opernhaus Leipzig. I. Teil: Das Rheingold, Die Walküre. Berlin 1980, bes. S. 20ff. Dies ist bis heute der gründlichste Versuch, den „Ring“ mit materialistischen Kriterien zu analysieren, wobei die Beteiligtenbei Wagner ein weitaus fortschrittlicheres Gesellschaftsbild finden als dieser Beitrag. Ein neuerer Sammelband: Udo Bermbach (Hg): Alles ist nach seiner Art. Figuren in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Stuttgart, Weimar 2001, ist ganz auf gattungshistorische und psychologische Fragestellungen beschränkt. Klassenkategorien haben in dieser Wissenschaft keinen Stellenwert mehr.
[8] Vgl. Richard Wagner: Die Musikdramen. München 1978, S. 536f.; Nachweise nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Haupttext.
[9] So der Hinweis von Joachim Herz, in: Akademie, a.a.O., S. 30.
[10] Bereits Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner, in: Ders.: Gesammelte Schriften 13. Frankfurt a.M. 1971, S. 7-148, hier S. 21f., hat Mime als Judenkarikatur interpretiert. Adornos Schrift ist bis heute unverzichtbare Grundlage einer ideologiekritischen Wagner-Forschung. Aus der reichhaltigen Literatur zum Antisemitismus bei Wagner und in dessen Figurengestaltung vgl. auch Paul Lawrence Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus. Zürich 1999, sowie Marc A. Weiner: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Gegenargumente bei Hermann Danuser: Universalität oder Partikularität? Zur Frage antisemitischer Charakterzeichnung in Wagners Werk. In: Dieter Borchmeyer, Ami Maayani, Susanne Will (Hg.): Richard Wagner und die Juden. Stuttgart, Weimar 2000, S. 79-102.
[11] Die Ambivalenz von Handlungslogik, Szene und Musik ließe sich, wozu hier der Raum fehlt, auch anhand der Natur aufzeigen, die in der Tetralogie einen zentralen Platz beansprucht.
[12] Vgl. dazu Adorno, a.a.O., S. 68ff.
[13] So Adorno, ebd., S. 29.
[14] Vgl. Carl Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas. In: Ders.: Gesammelte Schriften 7. Laaber 2004, S. 11-140, hier S. 85ff.