Was für eine Art von Politik soll eine revolutionäre Partei in nichtrevolutionären Zeiten verfolgen? Mit dieser Frage sah sich in den frühen 1920er Jahren die KPD konfrontiert.
Als sich vom 22. bis 26. August 1921 in Jena 279 Delegierte zum 7. Parteitag der KPD versammelten, standen sie vor der Aufgabe, eine der veränderten Situation angemessene Strategie zu entwickeln. Der durch die Novemberrevolution ausgelöste Kampfzyklus war an sein Ende gekommen, die Räterepubliken niedergeschlagen worden. Die parlamentarische Republik hatte sich durchgesetzt und der Kapitalismus stabilisierte sich vorübergehend wieder. In ihrer »Märzaktion« hatte die Partei 1921 erfahren müssen, zu welch bitteren Niederlagen das Festhalten an einer Politik der »revolutionären Offensive« in einem nicht mehr revolutionären Umfeld führen kann: Berauscht von einem Gefühl der Stärke, dass die kurz zuvor durch ihre Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD plötzlich zu einer Massenpartei gewordene KPD erfasst hatte, hatte sie im März 1921 versucht, aus eigener Kraft heraus eine Revolution zu erzwingen. Der Aufstandsversuch scheiterte dramatisch. Zahllose Mitglieder betrachteten die Aktion als Putschversuch und verließen die Partei wieder. Unter dem Eindruck von Lenin und Trotzki Die Diskussionen der Parteitagsdelegierten im August 1921 standen noch ganz unter dem Eindruck des kurz zuvor beendeten III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Nach hitzigen Debatten hatten sich Lenin und Trotzki dort mit einer neuen Linie durchgesetzt, die sie in dem Slogan »Heran an die Massen« zusammenfassten: Es reiche nicht mehr aus, den bestehenden Verhältnissen einfach nur abstrakt radikale Forderungen entgegenzuhalten, auf die Revolution zu warten oder diese - unabhängig von den realen Kräfteverhältnissen - selbst zu starten. Stattdessen müsse das Ziel kommunistischer Politik in nichtrevolutionären Zeiten »die Eroberung des ausschlaggebenden Einflusses auf die Mehrheit der Arbeiterklasse, das Hineinführen ihrer entscheidenden Teile in den Kampf« sein. Dieses könne aber nur durch eine unbedingte Teilnahme der Kommunisten an allen alltäglichen Kämpfen des Proletariats, auch wenn diese für sich genommen keineswegs auf die Überwindung des Kapitalismus abzielen, geschehen: »Nicht darauf kommt es an, dem Proletariat nur die Endziele zuzurufen, sondern den praktischen Kampf zu steigern, der allein in der Lage ist, das Proletariat zum Kampfe um die Endziele zu führen [...] Nur indem die Kommunisten sich an die Spitze der praktischen Kämpfe des Proletariats zu stellen verstehen, nur indem sie diesen Kampf fördern, können sie in Wirklichkeit große Massen des Proletariats [...] gewinnen«, so legten die Thesen des Weltkongresses fest. Aus dieser strategischen Neuausrichtung ergab sich notwendigerweise eine Veränderung im kommunistischen Herangehen an reformistische Arbeiterorganisationen wie etwa der SPD. Statt sie wie bisher vor allem als Gegner zu begreifen und frontal zu bekämpfen, mussten künftig Formen einer Zusammenarbeit mit ihnen gefunden werden, wollte man tatsächlich an allen Teilkämpfen der Arbeiterschaft teilnehmen können. Feindschaft gegenüber der SPD Gerade den deutschen Kommunisten bereitete die neue Linie große Schwierigkeiten. Viele prägte eine tiefempfundene Feindschaft bis hin zu offenem Hass auf die SPD. Diese hatte in ihren Augen mit der Unterstützung des Ersten Weltkrieges alle sozialistischen Prinzipien verraten und war mitverantwortlich für die Niederschlagung der Räterepubliken nach der Novemberrevolution und für die Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und tausenden weiteren Kommunisten. Nun sollte man gemeinsam mit dieser SPD für konkrete Verbesserungen kämpfen? Nur gegen starken Widerstand des linken Flügels der KPD konnte sich die bald als »Einheitsfrontpolitik« bezeichnete neue Ausrichtung auf dem Jenaer Parteitag durchsetzen. Die Kommunisten, so wurde beschlossen, müssten gegenüber allen Angriffen auf die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft gemeinsame Abwehrkämpfe aller Arbeiterorganisationen unterstützen und offensiv für eine Einheitsfront eintreten. Entscheidend dürfe dabei nicht die Radikalität einer Forderung an sich sein, wie Ernst Meyer, der bei der Wahl zur neuen Parteiführung in Jena die meisten Delegiertenstimmen erhielt und im folgenden Jahr die Rolle des Parteivorsitzenden übernahm, betonte: »Diese Forderungen sind für uns nur Mittel zum Zweck und nicht Zweck selbst - Mittel zur Sammlung des Proletariats zum Kampfe.« Im Zentrum dieser Annahme stand das Potenzial, das in dem Aufstellen von (an sich noch reformistischen) Forderungen lag, deren Durchsetzung aber nur in Form von breiten Massenkämpfen gegen Bürgertum und Regierung gelingen konnte. Denn solchen gemeinsamen Kämpfen wohne eine radikalisierende Dynamik inne, die über den Rahmen reformistisch-parlamentarischer Politik hinausweisen könne. Das zum Auslösen solcher Kämpfe notwendige Angebot zur Zusammenarbeit an die SPD bedeutete für die Kommunisten aber keineswegs die Aufgabe ihres eigentlichen Zieles: Sturz des Kapitalismus und Aufbau einer sozialistischen Räterepublik. Im Gegenteil, gerade durch die Einheitsfront sollte die Gewinnung einer Mehrheit der Arbeiterklasse für diese Ziele ermöglicht werden. Auf dem Jenaer Parteitag wurden zunächst die groben Umrisse der neuen Linie festgelegt. Ihre konkrete Ausgestaltung sollte in der Praxis der Partei in den folgenden Monaten entwickelt werden. Serie "An den Quellen der Einheitsfrontpolitik": Dieser Artikel bildet den Auftakt zu einer bis Sommer 2012 unregelmäßig erscheinenden Reihe zur Geschichte der KPD, die außerdem in der Tageszeitung Neues Deutschland veröffentlicht wird.