Gefährliche Utopien?

in (25.09.2008)

Ende September kommt der Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" in die Kinos. Für Yaak Pabst ein willkommener Anlass, sich mit den Mythen über die RAF zu befassen.

„Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht waren", titelt der Spiegel anlässlich des Kinostarts von „Der Baader-Meinhof-Komplex". Der Film von Regisseur Uli Edel, der Ende September in die Filmhäuser kommt, soll den „Mythos der RAF" zerstören. Ob er dies wirklich tut wird sich zeigen.

Der Spiegel gibt aber vorab schon mal sein Bestes, um einen anderen Mythos zu pflegen: Denn er stellt die Gründung der Rote-Armee-Fraktion (RAF) und den von ihr ausgeübten Terror als logische Konsequenz der 68er-Bewegung dar. Die Hoffnungen vieler damals Beteiligter auf eine Weltrevolution und den Sturz des Kapitalismus werden als „gefährliche Utopien" betrachtet, die zwangsläufig in den Terror der RAF münden mussten.

Mit  dieser These steht das Magazin nicht alleine da. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte im vergangenen Oktober im Rahmen einer Rede zum Gedenken an die Opfer der RAF: „Der bundesdeutsche Terrorismus entstand nicht durch Aktivitäten von Randfiguren der einstigen ‚Außerparlamentarischen Opposition' (APO), war also kein spätes Zerfallsprodukt aus den Ausläufern der APO, sondern der so genannte ‚bewaffnete Aufstand' und das ‚Stadtguerilla-Konzept' waren schon sehr früh, Mitte der 60er Jahre, im Zentrum der APO diskutiert worden". Daran anschließend stellt er - mittels der RAF - die gesamte 68er-Bewegung in Frage: „Die immer wieder aufgestellte Behauptung, erst und nur die Protestbewegung habe Deutschland zu einem liberalen, lebenswerten Land gemacht, ist anmaßend und muss vielen bitter aufstoßen - übrigens nicht nur Angehörigen der Opfer. Die Journalistin Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof, meint, es sei an der Zeit für eine andere Betrachtungsweise. Sie stellt die Frage, ob die Bundesrepublik ohne diese Bewegung heute nicht in mancherlei Hinsicht besser da stünde als mit ihr."
Die Kontroverse um die RAF und die Bedeutung von 1968 ist mehr als nur eine Debatte in den Feuilletons: Sie stellt eine politische Auseinandersetzung über die Legitimität radikaler Gesellschaftskritik und die Hoffnung auf eine andere Welt dar - ein Grund, die Gründungsgeschichte der RAF und das Verhältnis der 68-Bewegung zu ihr genauer unter die Lupe zu nehmen.  

"Die Freiheit des Polizeiknüppels"

Die Entstehung der „Baader-Meinhof-Gruppe", der späteren RAF, ist unter anderem von zwei Ereignissen geprägt: Der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten am Rande einer Demonstration im Jahr 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke durch einen von der BILD-Zeitung aufgehetzten Hilfsarbeiter. Eines der prägenden Elemente der APO vor 1968 war der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung gewesen. Die verabschiedeten Notstandsgesetze sahen eine beträchtliche Erweiterung der Befugnisse des Staatsapparats vor - bei gleichzeitiger Einschränkung der Freiheitsrechte. Nach den Schüssen auf Ohnesorg und Dutschke schien es so, als ob die in den Notstandsparagraphen implizite Drohung an die Linke in die Tat umgesetzt worden sei - die Drohung, dass der Staat mit Gewalt gegen die Opposition vorgehen würde. Brutale Polizeieinsätze gegen Demonstrationen rundeten das Bild ab. Ulrike Meinhof schrieb damals: „Da begriffen wir, dass die Freiheit in diesem Staat die Freiheit für den Polizeiknüppel ist und Pressefreiheit im Schatten des Springer-Konzerns die Freiheit, den Knüppel zu rechtfertigen."

Zu dieser Zeit entstand die so genannte „Faschisierungsthese" - die Annahme, dass der westdeutsche Staat sich auf dem Weg von einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft zu einem autoritären, in Teilen sogar faschistischen Staat wandle. Diese These ließ in den Augen mancher Aktivisten den Widerstand, auch den bewaffneten, nicht nur als politisch und moralisch legitim, sondern sogar als geboten erscheinen. In der 68er-Bewegung gab es durchaus Kritiker: Sie argumentierten richtigerweise, dass die Faschisierungsthese eine doppelte Verharmlosung beinhalte: Zum einen verharmlose sie den Faschismus selbst. Zwar ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Demonstrierende vor. Dies sei jedoch nicht gleichzusetzen mit einem System, in dem Millionen Menschen in Konzentrationslagern ermordet wurden. Zum anderen würde aber auch der „Normalbetrieb" des bürgerlichen Staates verharmlost, indem man so tue, als ob die Einschränkung von Freiheitsrechten und Polizeigewalt schon immer zum Repertoire des bürgerlichen Rechtsstaats gehört hätte. Dieser Kritik zum Trotz war die Faschisierungsthese weit über den Kreis der RAF-Gründer verbreitet.

Studierendenbewegung und der bewaffneter Kampf

Die Aktivisten der 68er-Bewegung standen von Anfang an vor einem politischen Dilemma. Sie sahen im brutalen Krieg der US-Armee in Vietnam mehr als nur die Verbrechen individueller Mitglieder der US-Regierung: Im Vietnamkrieg offenbarte sich die Brutalität des westlichen Kapitalismus. Der Kapitalismus war das Problem, seine Abschaffung das Ziel.

Doch wie? In der APO wurden die sozialistischen Klassiker eifrig gelesen - beispielsweise Karl Marx. Dieser hatte auf die Arbeiterklasse, die lohnabhängig Beschäftigten, als den potentiellen Totengräber des Kapitalismus verwiesen. Die gesellschaftliche Realität, mit der die 68er konfrontiert waren, sah aber anders aus: Die Arbeiterklasse schien durch die sozialpartnerschaftlichen Strukturen der Nachkriegszeit fest ins System eingebunden zu sein. Sie machte keine Anstalten, den Kapitalismus zu Grabe zu tragen. Rudi Dutschke folgerte daher im Oktober 1967: „Und da meine ich, dass dieses Arbeitermilieu als bestimmte Negation des bestehenden Systems bei uns nicht existiert. Ich gehe davon aus, dass die Schaffung eines solchen Milieus erst als Resultat der Revolutionierung von Randschichten gelingen und nicht strategischer Ausgangspunkt der Transformierung sein kann."

Dies knüpfte durchaus an die Erfahrungen der Studierenden in den Jahren vor 1968 an. In der Nachkriegszeit fanden in vielen Ländern der „Dritten Welt" Aufstände und Revolutionen gegen den westlichen Kolonialismus statt - zumeist getragen von bewaffneten Widerstandsbewegungen. Herausragendes Beispiel hierfür war der Kampf der vietnamesischen National Liberation Front (NLF) gegen die US-Armee. Die Solidarität und Unterstützung für den Befreiungskampf der Vietnamesen wurde zu einem zentralen Bezugspunkt der Studierendenbewegung: Beim Anti-Vietnamkriegs-Kongress im Februar 1968 in Berlin wurde Geld für Waffen für die NLF gesammelt. Auf einem übergroßen Banner im Hauptsaal des Kongresses war zu lesen: „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen."

Der Gedanke, dass Revolutionäre nicht auf eine gesellschaftliche Situation warten sollen, in der die Mehrheit der Bevölkerung eine revolutionäre Veränderung wolle, war weit verbreitet. Stattdessen gingen viele davon aus, dass sie durch ihr Handeln selber eine revolutionäre Phase erzwingen könnten. In einer Rede auf dem SDS-Kongress im September 1967 sagte Rudi Dutschke, dass „die Propaganda der Schüsse" in den Ländern der „Dritten Welt" verbunden werden müsse mit der „Propaganda der Tat" in Deutschland. In der Rede versuchte er, Che Guevaras Kampftaktik der Guerillakriege in Südamerika auf Europa und Deutschland zu übertragen. Den Begriff der „Propaganda der Tat" hatte er vom russischen Anarchisten Michael Bakunin übernommen.

Eine Gruppe aus dem Umfeld des SDS folgerte aus solchen Analysen, dass der bewaffnete Kampf in Gestalt eines Guerillakriegs notwendig sei, um das System zu stürzen. In dem „Konzept Stadtguerilla", ihrem inoffiziellen politischen Gründungsdokument vom April 1971, formulierte die RAF: „Wir haben mit diesen Schwätzern, für die sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts zu tun. Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Dass es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen."

Marxismus und Terrorismus


Die Stadtguerillataktik der RAF orientierte sich stark an Mao Zedongs Buch „Theorie und Praxis des Guerillakrieges". Sie übertrugen dessen Konzept auf den Westen: „Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist."

Das Gegenteil war jedoch der Fall. Der Terror der RAF stiftete Verwirrung in der Linken und gab Politikern, Staatsanwälten und Journalisten eine willkommene Legitimation für Attacken auf die gesamte Linke. Auch die Niedergang der Klassenkämpfe - sprich: die deutliche sinkende Zahl von Streiks Ende der 1970er Jahre - wurde durch die Aktionen der RAF nicht aufgehalten. Das eine war eben nicht eine Vorrausetzung für den Erfolg des anderen - vielmehr war der Terrorismus für die Linke schädlich. Durch die Ermordung von Politikern oder Großindustriellen wird Ausbeutung, Unterdrückung, Armut und Krieg nicht beseitigt. Sie sind lediglich Repräsentanten eines globalen Kapitalismus, egal wie brutal oder widerwärtig sie auch handeln mögen.

Der Marxist und Revolutionär Leo Trotzki setzte sich schon sehr früh mit diesen Phänomen auseinander. 1911 verfasste er in einem Aufsatz „Über den Terror". Dort hieß es: „Der kapitalistische Staat selbst stützt sich nicht auf Minister und kann nicht mit ihnen beseitigt werden. Die Klassen, denen er nützt, werden immer neue Leute finden." Terroristische Anschläge sind „sehr auffällig in ihrer äußeren Form (Mord, Explosion usw.), aber vollkommen harmlos, was den Bestand der sozialen Ordnung angeht (...) der Rauch einer Explosion verzieht sich, die Panik verschwindet, der Nachfolger des ermordeten Ministers tritt in Erscheinung, das Leben verläuft wieder im alten Trott, das Rad der kapitalistischen Ausbeutung dreht sich wie zuvor; nur die Unterdrückung durch die Polizei wird grausamer und dreister".

Wenn Unterdrückte sich mit Gewalt gegen ihre Unterdrücker wehren, dann aus dem Grund, weil die herrschenden Eliten ihre Macht, ihren Reichtum und ihre Privilegien selbst mit Gewalt, Terror und Krieg verteidigen. Trotz dessen bleibt Terrorismus nicht einfach eine andere Form des Kampfes gegen Unterdrückung, sondern er behindert diesen Kampf. Methoden und Mittel, die zum Ziel haben, künstlich die Entwicklung der Gesellschaft voranzutreiben und Sprengstoff an die Stelle ungenügenden revolutionären Bewusstseins der Bevölkerung setzen, müssen versagen, weil sie dem Kampf für gesellschaftliche Veränderungen unter kapitalistischen Bedingungen nicht gerecht werden.

Auch Rudi Dutschke konnte der RAF nichts abgewinnen und schrieb in einem Artikel während des Deutschen Herbstes über sie: „Denn in ihren Argumentationen und Diskussionen, soweit sie überhaupt von außen durchschaubar und erkennbar sind, gibt es die Frage der sozialen Emanzipation der Unterdrückten und Beleidigten schon lange nicht mehr. Der individuelle Terror ist der Terror, der später in die individuelle despotische Herrschaft führt, aber nicht in den Sozialismus. Das war nicht unser Ziel und wird es nie sein. Wir wissen nur zu gut, was die Despotie des Kapitals ist, wir wollen sie nicht ersetzen durch Terrordespotie."

Wie Dutschke lehnte die überwältigende Mehrheit der 68er den individuellen Terror als politische Strategie ab. Das Jahr 1968 hat Hunderttausende politisiert, aber nur eine Handvoll von ihnen ist in den Terrorismus gegangen. Dass konservative Politiker wie Lammert und die Journalisten des Spiegel trotzdem eifrig an dem Mythos „68er = RAF" stricken, hat mehr mit heute zu tun als mit den Ereignissen damals. Mit der Behauptung, die 68er-Bewegung habe zum Terror der RAF geführt, sollen heutige Bestrebungen angegriffen werden, sich wieder positiv auf die 68er zu beziehen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film dabei nicht mitmacht.