Ende September kommt der Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" in die Kinos. Für Yaak Pabst ein willkommener Anlass, sich mit den Mythen über die RAF zu befassen.
„Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht
waren", titelt der Spiegel anlässlich des Kinostarts von „Der
Baader-Meinhof-Komplex". Der Film von Regisseur Uli Edel, der Ende
September in die Filmhäuser kommt, soll den „Mythos der RAF" zerstören.
Ob er dies wirklich tut wird sich zeigen.
Der Spiegel gibt aber vorab schon mal sein Bestes, um einen anderen
Mythos zu pflegen: Denn er stellt die Gründung der Rote-Armee-Fraktion
(RAF) und den von ihr ausgeübten Terror als logische Konsequenz der
68er-Bewegung dar. Die Hoffnungen vieler damals Beteiligter auf eine
Weltrevolution und den Sturz des Kapitalismus werden als „gefährliche
Utopien" betrachtet, die zwangsläufig in den Terror der RAF münden
mussten.
Mit dieser These steht das Magazin nicht alleine da.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte im vergangenen
Oktober im Rahmen einer Rede zum Gedenken an die Opfer der RAF: „Der
bundesdeutsche Terrorismus entstand nicht durch Aktivitäten von
Randfiguren der einstigen ‚Außerparlamentarischen Opposition' (APO),
war also kein spätes Zerfallsprodukt aus den Ausläufern der APO,
sondern der so genannte ‚bewaffnete Aufstand' und das
‚Stadtguerilla-Konzept' waren schon sehr früh, Mitte der 60er Jahre, im
Zentrum der APO diskutiert worden". Daran anschließend stellt er -
mittels der RAF - die gesamte 68er-Bewegung in Frage: „Die immer wieder
aufgestellte Behauptung, erst und nur die Protestbewegung habe
Deutschland zu einem liberalen, lebenswerten Land gemacht, ist anmaßend
und muss vielen bitter aufstoßen - übrigens nicht nur Angehörigen der
Opfer. Die Journalistin Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof,
meint, es sei an der Zeit für eine andere Betrachtungsweise. Sie stellt
die Frage, ob die Bundesrepublik ohne diese Bewegung heute nicht in
mancherlei Hinsicht besser da stünde als mit ihr."
Die Kontroverse um die RAF und die Bedeutung von 1968 ist mehr als nur
eine Debatte in den Feuilletons: Sie stellt eine politische
Auseinandersetzung über die Legitimität radikaler Gesellschaftskritik
und die Hoffnung auf eine andere Welt dar - ein Grund, die
Gründungsgeschichte der RAF und das Verhältnis der 68-Bewegung zu ihr
genauer unter die Lupe zu nehmen.
"Die Freiheit des Polizeiknüppels"
Die Entstehung der „Baader-Meinhof-Gruppe", der späteren RAF, ist unter
anderem von zwei Ereignissen geprägt: Der Erschießung des Studenten
Benno Ohnesorg durch einen Polizisten am Rande einer Demonstration im
Jahr 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke durch einen von der
BILD-Zeitung aufgehetzten Hilfsarbeiter. Eines der prägenden Elemente
der APO vor 1968 war der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung gewesen.
Die verabschiedeten Notstandsgesetze sahen eine beträchtliche
Erweiterung der Befugnisse des Staatsapparats vor - bei gleichzeitiger
Einschränkung der Freiheitsrechte. Nach den Schüssen auf Ohnesorg und
Dutschke schien es so, als ob die in den Notstandsparagraphen implizite
Drohung an die Linke in die Tat umgesetzt worden sei - die Drohung,
dass der Staat mit Gewalt gegen die Opposition vorgehen würde. Brutale
Polizeieinsätze gegen Demonstrationen rundeten das Bild ab. Ulrike
Meinhof schrieb damals: „Da begriffen wir, dass die Freiheit in diesem
Staat die Freiheit für den Polizeiknüppel ist und Pressefreiheit im
Schatten des Springer-Konzerns die Freiheit, den Knüppel zu
rechtfertigen."
Zu dieser Zeit entstand die so genannte „Faschisierungsthese" - die
Annahme, dass der westdeutsche Staat sich auf dem Weg von einer
bürgerlich-liberalen Gesellschaft zu einem autoritären, in Teilen sogar
faschistischen Staat wandle. Diese These ließ in den Augen mancher
Aktivisten den Widerstand, auch den bewaffneten, nicht nur als
politisch und moralisch legitim, sondern sogar als geboten erscheinen.
In der 68er-Bewegung gab es durchaus Kritiker: Sie argumentierten
richtigerweise, dass die Faschisierungsthese eine doppelte
Verharmlosung beinhalte: Zum einen verharmlose sie den Faschismus
selbst. Zwar ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Demonstrierende
vor. Dies sei jedoch nicht gleichzusetzen mit einem System, in dem
Millionen Menschen in Konzentrationslagern ermordet wurden. Zum anderen
würde aber auch der „Normalbetrieb" des bürgerlichen Staates
verharmlost, indem man so tue, als ob die Einschränkung von
Freiheitsrechten und Polizeigewalt schon immer zum Repertoire des
bürgerlichen Rechtsstaats gehört hätte. Dieser Kritik zum Trotz war die
Faschisierungsthese weit über den Kreis der RAF-Gründer verbreitet.
Studierendenbewegung und der bewaffneter Kampf
Die Aktivisten der 68er-Bewegung standen von Anfang an vor einem
politischen Dilemma. Sie sahen im brutalen Krieg der US-Armee in
Vietnam mehr als nur die Verbrechen individueller Mitglieder der
US-Regierung: Im Vietnamkrieg offenbarte sich die Brutalität des
westlichen Kapitalismus. Der Kapitalismus war das Problem, seine
Abschaffung das Ziel.
Doch wie? In der APO wurden die sozialistischen Klassiker eifrig
gelesen - beispielsweise Karl Marx. Dieser hatte auf die
Arbeiterklasse, die lohnabhängig Beschäftigten, als den potentiellen
Totengräber des Kapitalismus verwiesen. Die gesellschaftliche Realität,
mit der die 68er konfrontiert waren, sah aber anders aus: Die
Arbeiterklasse schien durch die sozialpartnerschaftlichen Strukturen
der Nachkriegszeit fest ins System eingebunden zu sein. Sie machte
keine Anstalten, den Kapitalismus zu Grabe zu tragen. Rudi Dutschke
folgerte daher im Oktober 1967: „Und da meine ich, dass dieses
Arbeitermilieu als bestimmte Negation des bestehenden Systems bei uns
nicht existiert. Ich gehe davon aus, dass die Schaffung eines solchen
Milieus erst als Resultat der Revolutionierung von Randschichten
gelingen und nicht strategischer Ausgangspunkt der Transformierung sein
kann."
Dies knüpfte durchaus an die Erfahrungen der Studierenden in den Jahren
vor 1968 an. In der Nachkriegszeit fanden in vielen Ländern der
„Dritten Welt" Aufstände und Revolutionen gegen den westlichen
Kolonialismus statt - zumeist getragen von bewaffneten
Widerstandsbewegungen. Herausragendes Beispiel hierfür war der Kampf
der vietnamesischen National Liberation Front (NLF) gegen die US-Armee.
Die Solidarität und Unterstützung für den Befreiungskampf der
Vietnamesen wurde zu einem zentralen Bezugspunkt der
Studierendenbewegung: Beim Anti-Vietnamkriegs-Kongress im Februar 1968
in Berlin wurde Geld für Waffen für die NLF gesammelt. Auf einem
übergroßen Banner im Hauptsaal des Kongresses war zu lesen: „Die
Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen."
Der Gedanke, dass Revolutionäre nicht auf eine gesellschaftliche
Situation warten sollen, in der die Mehrheit der Bevölkerung eine
revolutionäre Veränderung wolle, war weit verbreitet. Stattdessen
gingen viele davon aus, dass sie durch ihr Handeln selber eine
revolutionäre Phase erzwingen könnten. In einer Rede auf dem
SDS-Kongress im September 1967 sagte Rudi Dutschke, dass „die
Propaganda der Schüsse" in den Ländern der „Dritten Welt" verbunden
werden müsse mit der „Propaganda der Tat" in Deutschland. In der Rede
versuchte er, Che Guevaras Kampftaktik der Guerillakriege in Südamerika
auf Europa und Deutschland zu übertragen. Den Begriff der „Propaganda
der Tat" hatte er vom russischen Anarchisten Michael Bakunin
übernommen.
Eine Gruppe aus dem Umfeld des SDS folgerte aus solchen Analysen, dass
der bewaffnete Kampf in Gestalt eines Guerillakriegs notwendig sei, um
das System zu stürzen. In dem „Konzept Stadtguerilla", ihrem
inoffiziellen politischen Gründungsdokument vom April 1971, formulierte
die RAF: „Wir haben mit diesen Schwätzern, für die sich der
antiimperialistische Kampf beim Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts zu
tun. Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten
Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und
Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Dass es
richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla
zu machen."
Marxismus und Terrorismus
Die Stadtguerillataktik der RAF orientierte sich stark an Mao Zedongs
Buch „Theorie und Praxis des Guerillakrieges". Sie übertrugen dessen
Konzept auf den Westen: „Wir sagen nicht, dass die Organisierung
illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische
Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und
nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und
im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die
Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist."
Das Gegenteil war jedoch der Fall. Der Terror der RAF stiftete
Verwirrung in der Linken und gab Politikern, Staatsanwälten und
Journalisten eine willkommene Legitimation für Attacken auf die gesamte
Linke. Auch die Niedergang der Klassenkämpfe - sprich: die deutliche
sinkende Zahl von Streiks Ende der 1970er Jahre - wurde durch die
Aktionen der RAF nicht aufgehalten. Das eine war eben nicht eine
Vorrausetzung für den Erfolg des anderen - vielmehr war der Terrorismus
für die Linke schädlich. Durch die Ermordung von Politikern oder
Großindustriellen wird Ausbeutung, Unterdrückung, Armut und Krieg nicht
beseitigt. Sie sind lediglich Repräsentanten eines globalen
Kapitalismus, egal wie brutal oder widerwärtig sie auch handeln mögen.
Der Marxist und Revolutionär Leo Trotzki setzte sich schon sehr früh
mit diesen Phänomen auseinander. 1911 verfasste er in einem Aufsatz
„Über den Terror". Dort hieß es: „Der kapitalistische Staat selbst
stützt sich nicht auf Minister und kann nicht mit ihnen beseitigt
werden. Die Klassen, denen er nützt, werden immer neue Leute finden."
Terroristische Anschläge sind „sehr auffällig in ihrer äußeren Form
(Mord, Explosion usw.), aber vollkommen harmlos, was den Bestand der
sozialen Ordnung angeht (...) der Rauch einer Explosion verzieht sich,
die Panik verschwindet, der Nachfolger des ermordeten Ministers tritt
in Erscheinung, das Leben verläuft wieder im alten Trott, das Rad der
kapitalistischen Ausbeutung dreht sich wie zuvor; nur die Unterdrückung
durch die Polizei wird grausamer und dreister".
Wenn Unterdrückte sich mit Gewalt gegen ihre Unterdrücker wehren, dann
aus dem Grund, weil die herrschenden Eliten ihre Macht, ihren Reichtum
und ihre Privilegien selbst mit Gewalt, Terror und Krieg verteidigen.
Trotz dessen bleibt Terrorismus nicht einfach eine andere Form des
Kampfes gegen Unterdrückung, sondern er behindert diesen Kampf.
Methoden und Mittel, die zum Ziel haben, künstlich die Entwicklung der
Gesellschaft voranzutreiben und Sprengstoff an die Stelle ungenügenden
revolutionären Bewusstseins der Bevölkerung setzen, müssen versagen,
weil sie dem Kampf für gesellschaftliche Veränderungen unter
kapitalistischen Bedingungen nicht gerecht werden.
Auch Rudi Dutschke konnte der RAF nichts abgewinnen und schrieb in
einem Artikel während des Deutschen Herbstes über sie: „Denn in ihren
Argumentationen und Diskussionen, soweit sie überhaupt von außen
durchschaubar und erkennbar sind, gibt es die Frage der sozialen
Emanzipation der Unterdrückten und Beleidigten schon lange nicht mehr.
Der individuelle Terror ist der Terror, der später in die individuelle
despotische Herrschaft führt, aber nicht in den Sozialismus. Das war
nicht unser Ziel und wird es nie sein. Wir wissen nur zu gut, was die
Despotie des Kapitals ist, wir wollen sie nicht ersetzen durch
Terrordespotie."
Wie Dutschke lehnte die überwältigende Mehrheit der 68er den
individuellen Terror als politische Strategie ab. Das Jahr 1968 hat
Hunderttausende politisiert, aber nur eine Handvoll von ihnen ist in
den Terrorismus gegangen. Dass konservative Politiker wie Lammert und
die Journalisten des Spiegel trotzdem eifrig an dem Mythos „68er = RAF"
stricken, hat mehr mit heute zu tun als mit den Ereignissen damals. Mit
der Behauptung, die 68er-Bewegung habe zum Terror der RAF geführt,
sollen heutige Bestrebungen angegriffen werden, sich wieder positiv auf
die 68er zu beziehen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film dabei nicht
mitmacht.