Noam Chomsky im Gespräch mit Stefan Bornost über den neuen US-Präsidenten und dessen Pläne für Afghanistan, Irak und Nahost
marx21: Noam, in erster Linie haben arme und junge Menschen Obama ihre Stimme gegeben, doch seine Wahlkampagne wurde massiv von Großkonzernen und der Wall Street finanziert. Warum unterstützen diese einen eher linken Kandidaten?
Noam Chomsky: Die Großkonzerne, vor allem aber die Wall Street,
sind der Meinung, dass Obama ihre Interessen am besten vertritt. Er
wird sie nicht enttäuschen: Der Mann seiner Wahl für das Team von
wirtschaftspolitischen Beratern ist Robert Rubin, Bill Clintons
ehemaliger Finanzminister. Es war Rubin, der die Beseitigung des
Glass-Steagall-Gesetzes aus der Zeit des New Deal durchboxte. Das
Gesetz sollte Banken mehr Sicherheit gewähren und sie vor riskanten
Spekulationen schützen, indem es die Trennung zwischen Geschäftsbanken
einerseits und Investmentbanken, Versicherung oder ähnlichem anderseits
vorschrieb. Es abzuschaffen hat die derzeitige Finanzkrise
mitverschuldet. Nachdem die Gesetzesänderung durchgesetzt worden war,
verließ Rubin die Regierung und wurde Direktor der Citigroup.
Unmittelbar darauf kaufte diese mit großem Gewinn
Versicherungsgesellschaften auf. Rubin blieb auf seinem Posten bis die
Citigroup zusammenbrach. Erst kürzlich trat er zurück. Die Bank wurde
mit einem riesigen staatlichen Rettungspaket bedacht, das sie dazu
verwendete, all den Ballast, den Rubin ihr aufgebürdet hatte, wieder
loszuwerden. Dieser Rubin berät nun den Präsidenten in
Wirtschaftsfragen.
Obamas erste Wahl als Stabschef des Weißen Hauses, ein sehr wichtiger
Posten, ist Rahm Emanuel, einer der eifrigsten Verfechter des
Irakkriegs im US-amerikanischen Kongress. Emanuels Wurzeln liegen
ebenfalls im Investmentbanking - ich vermute, dass er von der
Finanzwelt mehr Gelder bekommt als irgendein anderes Kongressmitglied.
Wir können also sicher sein, dass die Interessen der Finanzindustrie,
Obamas wichtigstem Sponsor, gut vertreten werden.
Viele Menschen, die von der Wirtschaftskrise akut bedroht sind,
hoffen dennoch, dass Obama ihnen helfen wird. Kann der neue
amerikanische Präsident beiden dienen, den unteren Schichten und der
Geschäftswelt?
Jeder ist sich der Tiefe der Finanzkrise bewusst. Ökonomen aller
Couleur sind sich darin einig, dass es einer Staatsintervention
außerordentlichen Ausmaßes bedarf, um das Finanzsystem zu retten. Die
Großbanken haben in Gestalt der Regierung sozusagen ihre eigene private
Versicherung. Sie trägt den Namen "too big to fail" ("zu groß, um
fallengelassen zu werden"). Citigroup, die etliche Male in eine
bedrohliche Schieflage geraten ist, hat immer gewusst, dass sie auf
staatliche Hilfe zählen kann. Sogar die Reagan-Regierung griff ihr
unter die Arme. Diese Sicherheit verleiht den Großbanken einen
Wettbewerbsvorteil vor ihren Konkurrenten. Sie können risikoreiche
Geschäfte tätigen, weil sie sich darauf verlassen können, dass ihnen
die Regierung zu Hilfe eilen wird, wenn etwas schief läuft. Das erleben
wir momentan. Ein Ende dieser milliardenschweren Rettungspakete ist
nicht in Sicht. Ist das gut für das Land? Wohl kaum.
Interessant ist, zu beobachten, dass die Krisenintervention der reichen
Länder, der USA und ihrer Verbündeten, im krassen Widerspruch zu jener
Politik steht, die sie stets von den armen Ländern einfordern. Der
Internationale Währungsfonds verordnet ihnen Kürzungen der
Staatsausgaben, Zinserhöhungen und Privatisierungen - mit wahrhaft
katastrophalen Folgen. Sich selbst verordnen sie das genaue Gegenteil:
massive Staatsausgaben, Zinssenkungen und die Verstaatlichung von in
Not geratenen Unternehmen. So sorgen die Reichen für sich selbst - das
ist die Fortsetzung der Geschichte des Imperialismus. Die reichen
Länder greifen auf üppige Staatshilfen zurück, um die Wirtschaft zu
stützen, während den armen Ländern ein neoliberaler Kurs, wie es heute
so schön heißt, aufgezwungen wird.
Um auf die Armen in den USA zurückzukommen: Wahrscheinlich werden auch
sie etwas abbekommen, aber nicht viel. Sehen wir uns beispielsweise die
Immobilienkrise an. Der jetzt eingeschlagene Weg sieht Gelder für die
Banken und Zwangsenteignungen für zahlungsunfähige Hausbesitzer vor. Es
ginge aber auch anders: Die Zwangsvollstreckungsgesetze könnten so
geändert werden, dass die Menschen in ihren Häusern bleiben und
Staatshilfen erhalten - so lange, bis ihre finanzielle Lage es ihnen
ermöglicht, ihre Hypothekenzahlungen wieder aufzunehmen. Das wäre aus
Regierungssicht sogar billiger und aus der Sicht der Bevölkerung
sowieso besser. Aber davon hätten die Reichen nichts, also wird es
nicht einmal in Erwägung gezogen. Das ist in allen Bereichen so.
Gebetsmühlenartig wird beteuert: "Wir müssen Arbeitsplätze sichern".
Das ist ein Euphemismus. Es gibt ein Wort mit sieben Buchstaben, ein
wirklich obszönes Wort, das man nicht aussprechen darf. "Profite" heißt
es. Keiner nimmt dieses Wort in den Mund. Also redet man davon, „Jobs"
zu retten - und meint doch eigentlich "Profite". Wenn sie Jobs abbauen,
dann tun sie das, um Jobs zu retten. Vielleicht wird die
Obama-Regierung geringfügig andere Akzente als ihre Vorgängerin setzen,
aber ich würde nicht zu viel erwarten.
Weltweit hoffen die Menschen auf eine Veränderung der
US-Außenpolitik, vor allem auf ein Ende der Kriege im Irak und in
Afghanistan. Glaubst du daran?
Obama ist der Ansicht, dass die USA die Vereinbarung über den Status
der Streitkräfte (Status of Forces Agreement) respektieren sollten.
Diese Vereinbarung wurde den USA aber von den Irakern aufgezwungen. Es
ist wohl kaum bekannt, dass es neben dem bewaffneten Widerstand auch
einen massiven gewaltfreien Widerstand im Irak gibt, der die USA zwang,
Schritt für Schritt von ihren ursprünglichen Plänen abzurücken. Erst
setzten die Iraker freie Wahlen durch, dann setzten sie sich bei den
Verandlungen über die Streitkräfte-Vereinbarung durch. Wenn Obama nun
zu ihrem Wortlaut steht, bedeutet das, dass die USA von den meisten
ihrer Kriegsziele Abschied nehmen müssen: keine Militärbasen mehr,
keine Kontrolle über die irakische Regierung, keine Handhabung über die
irakische Ölindustrie. Ob Obama die einzelnen Punkte wirklich
respektieren wird, ist eine andere Frage, aber so steht es zumindest
auf dem Papier.
Im Fall Afghanistans verfolgt Obama einen gegenteiligen Kurs. Während
der afghanische Präsident Hamid Karsai einen Zeitplan für den Rückzug
der Truppen verlangt, eine breite Bewegung in Afghanistan ein Ende der
Besatzung und des Krieges fordert und 75 Prozent der Bevölkerung
Verhandlungen mit den Taliban, Entwicklung statt Bomben und ein Ende
der Angriffe auf zivile Ziele wollen, spricht sich Obama für
Truppenverstärkungen und die Erlaubnis aus, auch Pakistan zügellos zu
bombardieren.
Die Rechtfertigungen hierfür sind bemerkenswert. Kommentatoren sprechen
davon, dass die USA und die NATO mit einem "hausgemachten, sich selbst
tragenden Aufstand" konfrontiert werden und wir deshalb mehr Truppen
zur Verfügung stellen müssen, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Das
hätte auch 1985 in der "Prawda" stehen können. Als die Russen in
Afghanistan einmarschierten, sahen sie sich ebenfalls mit einem
"hausgemachten Aufstand" konfrontiert, der sich nicht nur selber trug,
sondern von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien massiv unterstützt
wurde. Deshalb behaupteten die Russen, sie müssten noch mehr Truppen
schicken.
Obamas Vorschlag, den Krieg auf die pakistanischen Grenzgebiete
auszudehnen, ist besonders gefährlich. Erst vor kurzem wurde eine
dieser Provinzen von einem massiven Aufstand, gefolgt von großen
Kämpfen, erschüttert. Laut einheimischer Bevölkerung war dies eine
Reaktion auf die Bombardierung einer Schule im vergangenen Jahr, bei
der 85 Menschen starben. Die Menschen mögen es nicht, bombardiert zu
werden, deshalb reagieren sie.
Obama unterstützte letztes Jahr auch den israelischen Angriff auf
Syrien, der von der irakischen Regierung scharf kritisiert wurde. Es
scheint, Obama akzeptiere die Bush-Doktrin, wonach die USA das Recht
besäßen, jeden Beliebigen anzugreifen, solange sie selbst davon
ungeschoren bleiben.
Aber die künftige Außenministerin Hillary Clinton sagt doch, die USA
würden sich in Zukunft mehr auf "kluge Macht", auf Diplomatie,
verlassen - um beispielsweise einen Frieden im Nahen Osten zu erreichen.
Das sind nur Worte. Die gesamte Obama-Kampagne bestand fast nur aus
solchen Worthülsen. Was machen wir mit "kluger Macht"? Das stellte
Obama kürzlich auf einer Pressekonferenz klar. Er lobte die
Friedensinitiative der Arabischen Liga wegen ihrer "konstruktiven
Elemente". Die konstruktiven Elemente beschränken sich für ihn auf die
Bereitschaft der arabischen Staaten, ihre Beziehungen mit Israel zu
normalisieren. Mehr sagte er nicht. Das ist aber lediglich eine Fußnote
am Rande der Initiative. Die Initiative fordert an erster Stelle ein
Ende der Besatzung und eine Zweistaatenlösung im Rahmen der Grenzen von
1967. Das ist und war seit nunmehr 30 Jahren der internationale Konsens
in dieser Frage. Obama erwähnte ihn nicht einmal - womit er klar zum
Ausdruck brachte, dass er gar nicht vorhat, ihn weiter zu verfolgen.
Die arabischen Staaten sollen eine Politik der Normalisierung
verfolgen, während die USA und Israel, die die ganze Zeit den
internationalen Konsens blockiert haben, gar nichts zu tun brauchen.
Auf der gleichen Pressekonferenz sagte er: "Israel hat das Recht, sich
gegen Terror selbst zu verteidigen - jede Demokratie hat dieses Recht."
Für sich genommen stimmt das. Das ist aber nicht die Frage. Die Frage
lautet: Hat Israel das Recht, sich mit Gewalt gegen Terror zu
verteidigen? Dieses Recht steht keinem Staat zu, wenn es andere
Alternativen gibt. Israel könnte sich stattdessen durch Beendigung von
Aggression und Gewalt verteidigen. Sie haben offensichtlich diese
Möglichkeit. Sie könnten der fortwährenden Übergriffe gegen Gaza und
den kriminellen Aktivitäten in der Westbank ein Ende setzen. Der
Siedlungsbau, der Mauerbau - all das ist absolut kriminell. Die
israelischen Regierungen wurden seit 1967 wiederholt davon in Kenntnis
gesetzt, dass sie internationales Recht und grundlegende
Menschenrechtsprinzipien grob verletzen, aber sie fahren damit fort.
Das erwähnte Obama mit keinem Wort. Also: Israel hat ein Recht auf
Selbstverteidigung gegen Gewalt, aber ist nicht verpflichtet, seine
eigenen kriminellen Aktivitäten einzustellen - das scheint Obamas
Position zu sein.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird als unlösbares Problem
betrachtet. Das ist er nicht. Wenn die USA ihre extreme
Ablehnungshaltung aufgeben und den internationalen Friedenskonsens
akzeptieren würden, hätten wir schon gute Voraussetzungen. Israel würde
sich dann einer solchen, gar nicht so komplizierten Verhandlungslösung
fügen. Solange aber die USA den Bau von Siedlungen und
Infrastrukturmaßnahmen unterstützen, die das Ziel haben, die Westbank
derart zu zerstückeln, dass ein palästinensischer Staat keine
Lebensperspektive hat, und solange Israel gestattet wird, arabische
Gebiete und Wasserressourcen an sich zu reißen, wird es keine
Vereinbarung geben. Es gibt traurigerweise bislang keine Anzeichen
dafür, dass die Obama-Regierung umschwenken wird.
Die europäische Friedensbewegung bereitet sich vor, gegen den
NATO-Gipfel Anfang April zu protestieren. Welchen Platz nimmt die NATO
im Rahmen der US-Außenpolitik ein?
1990 machte Gorbatschow eine unglaubliche Konzession. Er stimmte zu,
dass das vereinte Deutschland einem feindlichen Militärbündnis - der
NATO - angehört. Das ist nahezu unglaublich, wenn man bedenkt, dass die
deutschen Armeen Russland im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche
gelegt haben. Er bestand aber auf einer Gegenleistung, die ihm auch
gewährt wurde. Die Regierung von George Bush Senior versprach ihm, dass
sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen würde, so dass Russland
eine Art Pufferzone um sich behalten konnte. Der Westen nahm später
Abstand von dieser Vereinbarung und begann doch, sich nach Osten
auszudehnen.
Das war eine ernsthafte Sache, und es lag auf der Hand, dass eine
Reaktion Russlands - beispielsweise in Form eines neuen
Rüstungsprogramms - nicht ausbleiben würde. James Jones, Obamas
Sicherheitsberater, ist ein ausgesprochener Verfechter der
NATO-Osterweiterung. Das Bündnis wird gleichzeitig nach Süden
ausgedehnt und eine neue Eingreiftruppe aufgestellt. Die NATO steht
unter US-Kommando. Sie kann behaupten, sie sei unabhängig, aber das
stimmt nicht. Die NATO-Armeen sind lediglich eine Art erweiterte
US-Streitkraft. Das ist eine außerordentlich gefährliche Entwicklung -
sie könnte das Ende der Menschheit bedeuten. Sie erhöht die Gefahr
eines Nuklearkriegs ganz erheblich, und sei es nur aus Zufall. Es ist
unerhört, aber das war schon seit eh und je eine der Hauptaufgaben der
NATO: Als Instrument der USA deren Kontrolle über Europa zu sichern.
Diese Aufgabe erfüllt sie heute noch.
Zur Person:
Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Instiute of
Technology (MIT). Neben seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit, für die
er zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, gilt Chomsky als einer der
bedeutendsten linken Intellektuellen Nordamerikas. Seit dem
Vietnamkrieg ist er als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außen-
und Wirtschaftspolitik bekannt. Dem "Arts and Humanities Citation
Index" von 1992 zufolge ist Chomsky im Zeitraum zwischen 1980 und 1992
die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt gewesen. Der
80-Jährige bezeichnet sich selbst als libertären Sozialisten. Er ist
Mitglied der „Industrial Workers of the World".
Zahlreiche seiner Werke sind auch auf Deutsch erschienen - zuletzt
unter anderem "Media Control. Wie die Medien uns manipulieren" (Piper
2006), „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen: Zentrale Schriften
zur Politik" (Verlag Antje Kunstmann 2008) und „Interventionen"
(Edition Nautilus 2008).
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Schwerpunkt des Heftes: Kampf um jeden Arbeitsplatz. Gegenwehr, Mitarbeiterbeteiligung, Verstaatlichung – Strategien gegen die Jobkrise. Mit Beiträgen von Wolfgang Schaumberg über Opel, Rainer Thoman über die erfolgreiche Betriebsbesetzung bei Officina in der Schweiz und Volkhard Mosler über die Widersprüche der Verstaatlichung. 20 Jahre Mauerfall: Des weiteren startet mit der Ausgabe eine Serie zu 20 Jahre Mauerfall mit Stimmen aus der Linken unter anderem mit Gregor Gysi, Sybille Stamm, Alexis Passadakis, Klaus Wolfram und Julia Bonk. Außerdem Edeltraut Felfe über den schwedischen Sozialstaat – ein Modell für die Linke?
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Weitere Themen des Heftes: Weltwirtschaftskrise: Jeder gegen Jeden?;Afghanistan: Obamas Offensive; 60 Jahren Grundgesetz: Umkämpftes Recht; Frankreich: Die Gründnung einer neuen Linken
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