Vom Putsch zum Bürgerkrieg

In Myanmar radikalisiert sich der Widerstand

Seit 1962 ist das Militär de facto der zentrale politische und wirtschaftliche Akteur in Myanmar. Die Generäle leiteten 2010 zwar einen Demokratisierungsprozess ein, welcher freie Wahlen, Pressefreiheit und die Bildung einer zivilen Regierung mit sich brachte. Doch dann rissen die Militärs am 1. Februar 2021 die Macht wieder an sich, nachdem die von Aung San Suu Kyi geführte Nationale Liga für Demokratie (NLD) die Wahlen im November des Vorjahres haushoch gewonnen hatte. Bereits während der Dekade der Demokratisierung zwischen 2010 und 2021 war Myanmars Demokratie immer sehr fragil geblieben. Einen Grund dafür stellt eine zentrale autoritäre Hinterlassenschaft dar, mit der die NLD dauerhaft zu kämpfen hatte: die 2008 vom Militär verabschiedete Verfassung. Diese garantierte dem Militär nicht nur ein Viertel der Parlamentssitze und damit eine Sperrminorität für jedwede Verfassungsänderung, sondern auch andere weitreichende Machtbefugnisse, darunter die Führung der Ministerien für Grenzschutz, Verteidigung und Inneres.

Auch die vielen wirtschaftlichen Verflechtungen des Militärs in Gestalt von Konglomeraten retteten die Generäle unbeschadet in die neue demokratische Ära. So beaufsichtigt der neue De-facto-Machthaber General Min Aung Hlaing zwei Militärkomplexe, die Myanmar Economic Corporation und die Myanma Economic Holdings Limited. Seine Familie ist in zahlreiche Unternehmen des Landes involviert. Es ist nicht verwunderlich, dass die Militärs ihre Privilegien so stark gegen die demokratische Öffentlichkeit absicherten, denn es ging ihnen nie um Demokratie und Menschenrechte. Vielmehr sollte die Öffnung des Landes das eigene Image international aufbessern sowie die bis dato weitreichende internationale Isolation aufheben. Auch sollte so die Abhängigkeit von China reduziert werden. Diese hatte aufgrund westlicher Sanktionen seit den 1980er-Jahren, sehr zum Missfallen der ultra-nationalistischen Militärführungen, stetig zugenommen. In seiner Selbstwahrnehmung war das Militär immer der zentrale einigende politische Akteur im Land, ohne den die ‚Republik der Union Myanmar‘ in viele Kleinstaaten zerfallen würde.

Im entscheidenden Moment schwieg sie

Die junge Demokratie Myanmars wurde jedoch zwischen 2015 und 2020 auch von der gewählten NLD-Regierung beschädigt. Regierungskritische Journalist*innen wurden verhaftet, zivilgesellschaftliche Organisationen in ihrer Arbeit behindert. Selbst innerhalb der NLD kritisierten viele den zunehmend autoritären Führungsstil von Aung San Suu Kyi. Diese unternahm zudem wenig, um die Prärogative des Militärs zu beschneiden. Mehr noch: Die Regierungschefin schwieg zuerst und verteidigte 2017 dann noch öffentlich das Vorgehen des Militärs gegen die Rohingya, welches laut UN »genozidale Intentionen« verfolgte und zu Massakern und Massenflucht der muslimischen Minderheit vor allem nach Bangladesch führte. Diese Position befeuerte eine zunehmend kritische Haltung der internationalen Öffentlichkeit gegenüber der Vorsitzenden der Regierungspartei NLD – ihrem Ansehen im Land selbst tat dies keinen Abbruch.

Das Verhältnis zwischen Aung San Suu Kyi und der Militärführung verschlechterte sich jedoch ab 2019 zunehmend. Insider*innen zufolge brach ab Mitte 2020 die Kommunikation zwischen ziviler und militärischer Führung vollständig ab. Zuvor hatte Aung San Suu Kyi Forderungen nach einer Verfassungsänderung und der damit verbundenen Demilitarisierung des Staatsapparates zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht. Für die Militärs war das eine offene Provokation. Der Erdrutschsieg der NLD im November 2020 verlieh dieser, aus Sicht des Militärs inakzeptablen, Forderung noch mehr Schlagkraft. Kurz bevor das neu gewählte Parlament zusammentreten konnte, putschte sich das Militär am 1. Februar 2021 erneut an die Macht.

Radikalisierung und bewaffneter Kampf

Mit dem Putsch hat ein harter Einschnitt begonnen. Myanmars ohnehin fragiler Übergang zur Demokratie hat zunächst ein jähes Ende gefunden. Fast die gesamte ehemalige Führungsriege der National League of Democracy sitzt nach wie vor in Haft. Es kann durchaus angenommen werden, dass deren Ikone Aung San Suu Kyi den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen wird. Ebenso sitzen weitere Tausende Oppositionelle sowie Dutzende Journalist*innen in Haft. Westliche NGOs und Firmen haben sich weitgehend aus Myanmar zurückgezogen. Auf zivilgesellschaftlichen Druck hin zuletzt sogar große Konzerne wie Chevron und Total, die bis dato zusammen mit einem Staatsunternehmen die Offshore-Förderung von Erdgasvorkommen des Landes betrieben hatten.

Große Teile Myanmars sind zunehmend Schauplätze bewaffneter Gewalt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften auf der einen Seite und den Rebellengruppen ethnischer Minderheiten, sowie den neu gegründeten People’s Defence Forces (PDF), dem bewaffneten Flügel der Exilregierung, auf der anderen Seite. Das öffentliche Bildungs- und das Gesundheitssystem sind de facto kollabiert, die Wirtschaft liegt danieder. Laut der UN sind Millionen Menschen direkt von Hunger bedroht, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze.

Parallel dazu hat sich die politische Landschaft Myanmars ebenfalls massiv verändert. Durch die Verhaftung Aung San Suu Kyis und der bisherigen NLD-Führung hat eine jüngere Generation demokratischer Aktivist*innen das Ruder übernommen. In den Wochen direkt nach dem Putsch forderten diese zunächst die Freilassung Aung San Suu Kyis und die Wiedereinsetzung der gewählten zivilen Regierung, begleitet von Massenprotesten und zivilem Ungehorsam. Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste durch das Militär führte zu umfassenden taktischen wie politischen Veränderungen auf Seiten der Gegner*innen des Putsches, die bis heute andauern.

Zum einen entstand mit der nationalen Einheitsregierung (National Unity Government – NUG) eine politische Akteurin, die in ihrer Zusammensetzung wie politischen Programmatik für Myanmar revolutionär erscheint: In der NUG sitzen neben den Bamar, welche die größte Ethnie des Landes darstellen und bislang Militär wie auch NLD dominierten, auch Vertreter*innen ethnischer Minderheiten des Landes. Zum neuen politischen Programm der NUG gehören Forderungen wie die Abschaffung der Verfassung von 2008. Weitere Forderungen sind eine umfassende Reform des Sicherheitssektors, die Etablierung eines föderalen Staates mit weitreichenden Minderheitenrechten und ein Ende der Diskriminierung der Rohingya in Myanmar. Zum anderen hat sich der militante Widerstand gegen die Junta zu einem Bürgerkrieg verstetigt, seit die NUG im September 2021 zu einem »Volksverteidigungskrieg« aufrief. In fast allen Landesteilen werden regelmäßig Angriffe auf Militäreinheiten durchgeführt, Attentate auf Militär- und Polizeiposten verübt und vermeintliche Regimekollaborateur*innen bedroht oder gar ermordet. Die von der NUG aufgestellten PDFs kooperieren hierbei mit einigen ethnischen Rebellengruppen.

Kein Zurück zum Status quo ante

Somit hat sich Myanmar in den letzten zwölf Monaten in politischer Hinsicht umfassender verändert, als in der Dekade demokratischer Reformen davor. Ehemals weitgehend marginalisierte politische Forderungen wie die nach der Gleichstellung ethnischer Minderheiten, der Föderalisierung des Landes oder auch einer demokratischen Reform des Sicherheitssektors werden nunmehr von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Eine jüngere Generation demokratischer Aktivist*innen hat nun die Zügel in die Hand genommen, sie lehnten ein Zurück zum Status quo ante vehement ab. In dieser Haltung genießt sie große Legitimität und Unterstützung in der Bevölkerung.

Aus diesen Veränderungen folgt aber auch, dass zumindest mittelfristig weder Bürgerkrieg noch humanitäre Krise im Land ein Ende finden dürften. Denn weder NUG noch die Militärjunta sind bereit, Zugeständnisse zu machen oder Kompromisse einzugehen. Auch ist das Bündnis militärisch nicht stark genug, um die Streitkräfte dauerhaft zu schwächen oder gar zu besiegen. Externe Vermittlungsversuche, zum Beispiel durch die ASEAN, dem Verband Südostasiatischer Nationen, waren ebenfalls bislang nicht erfolgreich. Insofern scheint es plausibel anzunehmen, dass Myanmars politische wie gesellschaftliche Krise, ausgelöst durch den Putsch vor einem Jahr, auch die nahe Zukunft des Landes in Gestalt eines Bürgerkrieges und einer massiven humanitären Krise prägen wird. Die Einwirkungsmöglichkeiten Deutschlands und Europas hierauf sind zunächst begrenzt. Jedoch sollte zumindest ein verstärktes humanitäres Engagement vor Ort sowie der Ausbau der Beziehungen zur NUG erwogen werden. Eine vom Europäischen Parlament zuletzt verabschiedete Resolution, welche die NUG als legitime Repräsentantin der »demokratischen Ambitionen« Myanmars anerkennt und ihre Inklusion in alle politischen Dialogformate fordert, ist ein erster Schritt.

 

Felix Heiduk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Asien in der Stiftung Wissenschaft und Politik.